# taz.de -- Zehn Jahre Hartz IV: Wer wenig hat, dem wird genommen | |
> Die Sozialreform ist seit zehn Jahren in Kraft. Die frühere | |
> Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann und der Politologe Christoph | |
> Butterwegge ziehen eine Bilanz. | |
Bild: Besonders in Großstädten reicht das Geld nicht aus. In Hamburg lebt jed… | |
taz: Frau Hannemann, Herr Butterwegge, seit dem 1. Januar haben wir zehn | |
Jahre Hartz IV. Die Befürworter ziehen eine positive Bilanz: Das System des | |
Förderns und Forderns funktioniere, sagt etwa Heinrich Alt, | |
Vorstandsmitglied der Bundesanstalt für Arbeit. Wie sieht Ihre Bilanz aus? | |
Inge Hannemann: Ich sehe nicht, dass Hartz IV funktioniert. Noch immer gibt | |
es einen langjährigen festen Stamm von Langzeitarbeitslosen. Dieser sinkt | |
nicht, und zwar auch aufgrund der Stigmatisierung dieser Menschen. Herr Alt | |
hat die Aufgabe vieles schön zu reden. | |
Dennoch ist die offizielle Arbeitslosenzahl deutlich zurückgegangen, von | |
über 5 Millionen auf 2,7. Hat das mit den Hartz-Reformen nichts zu tun? | |
Hannemann: Wir haben einen geringen Rückgang. Allerdings finden sich | |
Erwerbslose immer mehr in den klassischen atypischen Arbeitsverhältnissen | |
wieder: in Mini- und Teilzeitjobs oder in Leiharbeit. Das ist für mich | |
keine Reduzierung der eigentlichen Arbeitslosigkeit. | |
Christoph Butterwegge: Das Arbeitsvolumen hat kaum zugenommen, die Arbeit | |
wird nur anders verteilt als zur Jahrtausendwende. Wir haben seit den | |
Hartz-Gesetzen erheblich mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse, und die | |
Arbeitswelt ist sehr viel rauer geworden. Zudem hat man viele Betroffene | |
aus der Arbeitslosenstatistik herausfallen lassen. Etwa 100.000 Menschen, | |
die einen privaten Arbeitsvermittler eingeschaltet haben. | |
Ist bei Hartz IV herausgekommen, was beabsichtigt war? | |
Hannemann: Ja. Von Anfang an war der Duktus: Jede Tätigkeit ist zumutbar, | |
jeder Job ist anzunehmen. Hauptprinzip war die „Verringerung der | |
Hilfebedürftigkeit“. Und wenn das nur durch einen Nebenjob geschieht. | |
Butterwegge: Hauptzweck war die Senkung der Leistungen für Erwerbslose | |
sowie der Löhne und Gehälter. Mit dem Druck auf die Leistungsbezieher hat | |
der Druck auf die Belegschaften zugenommen, niedrigere Löhne und | |
schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Aus diesem Grund ist der | |
Niedriglohnsektor mit 24,3 Prozent der Beschäftigten in Deutschland heute | |
so breit wie in keinem anderen hoch entwickelten europäischen Land. | |
Joschka Fischer verteidigte kürzlich Hartz IV in der taz mit dem Argument, | |
Rot-Grün habe damals handeln müssen. Die Arbeitslosigkeit wäre mit jedem | |
Monat angestiegen, der Etat aus allen Nähten geplatzt. Was wäre Ihre | |
Alternative zu Hartz IV gewesen? | |
Butterwegge: Statt den Druck auf die Erwerbslosen zu erhöhen, hätte ich den | |
Druck auf die Unternehmer erhöht. | |
Wie kann man denen Druck machen? | |
Butterwegge: Indem man zum Beispiel nicht die Betroffenen an den Pranger | |
stellt, weil sie angeblich faul in der Hängematte des Sozialstaates liegen, | |
sondern die strukturellen Ursachen der Massenarbeitslosigkeit bekämpft. | |
Außerdem hätte man Geld für Beschäftigungsprogramme in die Hand nehmen | |
müssen. | |
Das hört sich ein bisschen vage und ratlos an. | |
Butterwegge: Man kann auch – wie in Frankreich geschehen – | |
Massenentlassungen verbieten und müsste hierzulande Firmenerben nicht de | |
facto von der betrieblichen Erbschaftssteuer befreien. Seit mehreren | |
Jahrzehnten macht die Bundesregierung eine Politik nach dem | |
Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben und wer wenig hat, dem wird das | |
Wenige auch noch genommen. | |
Hätte der Staat stärker auf die großen Vermögen und die Unternehmen | |
zugegriffen, wäre Geld da gewesen, um etwa einen öffentlichen | |
Beschäftigungssektor zu schaffen, in dem auch Langzeiterwerbslose zu | |
Tariflöhnen eine Chance hätten. | |
Frau Hannemann, Sie haben 2005 beim Jobcenter angefangen. Sind Sie damals | |
vielleicht naiv gewesen – und haben gedacht, man kann dort was Gutes tun? | |
Hannemann: Naiv würde ich das nicht nennen. Zunächst war es so, dass ich | |
aus Geldnot zum Jobcenter wechseln musste. Zuvor war ich bei | |
Bildungsträgern tätig. Durch die Agenda 2010 haben sich dort die Löhne um | |
bis zu 50 Prozent reduziert. Ich stand vor der Entscheidung: Werde ich | |
selbst Aufstockerin mit Hartz IV trotz Vollzeittätigkeit oder gehe ich als | |
Angestellte zum Jobcenter? | |
Da habe ich gedacht: Ich gehe direkt in die Höhle des Löwen. Mit der | |
Illusion, ich kann etwas für die Menschen tun. Das war aber nur im ersten | |
Jahr der Fall, weil keiner wusste, wie was funktioniert oder umzusetzen | |
sei. Das Computersystem stockte und das SGB II war für alle neu. | |
Ist Ihre Karriere typisch? | |
Hannemann: Wir haben immer wieder Kollegen, die aus dem Arbeitslosengeld I | |
oder II direkt ins Jobcenter wechseln, weil das ihre einzige | |
Beschäftigungschance war oder ist und hier zum Teil Personalmangel | |
herrscht. Immer zu Beginn mit der Hoffnung, den Menschen helfen zu können. | |
Oft waren gerade die nach einigen Monaten die schärfsten Hunde. | |
Warum? | |
Hannemann: Sie hatten einen enormen Anspruch an sich selbst und haben | |
diesen auf die anderen Erwerbslosen projiziert. Nach dem Motto: „Ich habe | |
es ja auch geschafft. Ich sitze jetzt auf der anderen Seite, weil ich mich | |
bemüht habe.“ Ihre eigene Vergangenheit blenden sie in diesem Moment | |
komplett aus. | |
Offiziell heißt es, die Maßnahmen der Jobcenter seien dazu da, um die | |
Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Wie sieht die Praxis | |
aus? | |
Hannemann: Die tatsächliche Vermittlungsquote liegt bei rund zwei bis drei | |
Prozent, wenn man berücksichtigt, wie viele Menschen, gerade aus der Zeit- | |
und Leiharbeit, sich wieder nach kurzer Zeit arbeitslos melden. Viele | |
Maßnahmen sind eine Geldmaschine für die Beschäftigung von Bildungsträgern. | |
Wir müssen aber unterscheiden. Die Eurozeichen im Auge haben vor allem die | |
Geschäftsführer der Bildungs- und Beschäftigungsträger. | |
Und dann gibt es die Dozenten. Die sind zumeist motiviert, aber auch froh | |
um ihren Arbeitsplatz, selbst wenn er prekär ist. Ich finde, dass mehr | |
Augenmerk drauf gelegt werden muss, nachzufragen, welchen Erfolg die | |
Maßnahmen für die Teilnehmer bringen. Das geschieht kaum. Da interessiert | |
nur, wer der günstigste Anbieter ist. | |
Seit gestern gilt teilweise der neue Mindestlohn von 8,50 Euro. Welche | |
Auswirkungen hat der auf Hartz IV? | |
Butterwegge: Leider nur geringe. Wahrscheinlich werden bloß fünf Prozent | |
der 1,3 Millionen Aufstocker dadurch ohne Arbeitslosengeld II auskommen, | |
weil der Mindestlohn unter der Niedriglohnschwelle von 9,30 Euro liegt. | |
Damit kommt man selbst bei Vollzeiterwerbstätigkeit nur dann aus Hartz IV | |
heraus, wenn man alleinstehend ist, keine Kinder hat und in einer Gegend | |
wohnt, wo die Miete niedrig ist. | |
Der Mindestlohn ist kaum mehr als ein soziales Trostpflaster und eine | |
politische Mogelpackung. So erhalten Langzeitarbeitslose im ersten halben | |
Jahr den Mindestlohn gar nicht. Daher werden manche Firmen sechs Monate | |
lang Langzeitarbeitslose unterhalb des Mindestlohns beschäftigen und dann | |
den nächsten einstellen. | |
Wie hoch müsste einerseits der Mindestlohn sein und andererseits die | |
Grundsicherung? | |
Hannemann: In einer Stadt wie Hamburg mit einer Durchschnittsmiete von rund | |
11 Euro pro Quadratmeter kalt brauchen wir einen Mindestlohn von 13 Euro. | |
Nur dann kann man als Alleinstehender aus der ergänzenden Leistung | |
herauskommen. | |
Das fordert ja nicht mal die Linkspartei. | |
Hannemann: Nein, bundesweit fordert die Linkspartei 10 Euro. Die Hamburger | |
Linken fordern 13 Euro auf Grund dieser Berechnung. | |
Butterwegge: Ich halte mehr davon, sich ein Stück weit am politisch | |
Erreichbaren zu orientieren. Das bedeutet: Deutschland muss sich an dem | |
messen lassen, was andere westeuropäische Länder beim Mindestlohn haben. | |
Und außer in Großbritannien ist in jedem Land der Mindestlohn höher als | |
8,50 Euro. | |
Frankreich und Belgien liegen im Bereich von neun bis zehn Euro. An der | |
zuletzt genannten Höhe sollten wir uns auch orientieren. Und die | |
Grundsicherung müsste bei 500 Euro plus Miet- und Heizkosten liegen. Das | |
würde die Situation der Hartz-IV-Betroffenen schon deutlich verbessern. | |
Welche Zukunft hat Hartz IV? | |
Hannemann: Man muss abwarten, was Andrea Nahles jetzt mit der sogenannten | |
„Rechtsvereinfachung“ genau ändern will. Das scheinen eher Vereinfachungen | |
für die Mitarbeiter in den Jobcentern zu werden. Für die Hartz-IV-Empfänger | |
werden es eher Verschärfungen, als Beispiel die geplante Bruttowarmmiete, | |
bei der möglicherweise nicht mehr alle Betriebskosten übernommen werden. | |
Butterwegge: Die Zukunft von Hartz IV hängt von den politischen | |
Kräfteverhältnissen und parlamentarischen Machtkonstellationen ab. Ich | |
halte Hartz IV nach zehn Jahren daher auch nicht für unabänderlich. | |
Vokabeln wie „Eigenverantwortung“ und „Selbstvorsorge“ kaschieren nur, … | |
sich der Staat immer mehr zurückgezogen hat. Aber das muss nicht so | |
bleiben. | |
1 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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