# taz.de -- Die Wahrheit: Hoffnungsstreifen am Partyhorizont | |
> 2015 wird sich nicht alles ändern, doch was sich alles grundlegend | |
> ändert, steht hier. Vorab: Der Weltuntergang wird um ein Jahr verschoben. | |
Unglaublich, aber wahr: 2015 wird nahezu alles besser. Nach Jahren der | |
Krise und des Elends, in denen es kontinuierlich talwärts ging, verdichten | |
sich pünktlich zur Mitte der Dekade verschiedene Hoffnungsschimmer zu | |
kompakten Silberstreifen am Horizont. Experten zufolge verheißen sie | |
langfristig ein neues goldenes Zeitalter, auch wenn Skeptiker darin | |
lediglich Regierungswerbung für die weithin unbeliebten Chemtrails sehen | |
möchten. | |
Bereits das erste der Zeichen straft diese Leute aber Lügen und macht | |
reichlich Mut: Der lange angekündigte Weltuntergang wird um mindestens ein | |
Jahr verschoben. Alle können also aufatmen und sich beruhigt aufs Sofa | |
zurückfallen lassen. Sobald die angehäuften Vorräte aus Hartkeksen, | |
Dosengemüse und Trockenfleisch an durchreisende Flüchtlinge verkauft sind, | |
ist es wieder möglich, die leer geräumten Atombunker als Partykeller zu | |
nutzen. 2015 wird daher ein Jahr rauschender Feste. Keiner sollte sich zu | |
schade dafür sein, eine Reihe davon selber zu veranstalten - koste es, was | |
es wolle, ob Arbeitsplatz oder Verstand. | |
## Ein großes Kaffeejahr | |
Nächstes Indiz: Kaffee wird noch einmal um einiges leckerer. Viele werden | |
es bereits am Neujahrsmorgen gemerkt haben. So wie da der braune Sud fein | |
auf der Zunge prickelte, seine mannigfaltigen Aromen im Mundraum | |
auffächerte und schließlich mild den Schlund hinabrann, um sein | |
segensreiches Werk im Zentralen Nervensystem zu verrichten, war eigentlich | |
klar, dass uns ein großes Kaffeejahr bevorsteht. | |
Folgerichtig trinken die Menschen nicht nur erheblich mehr Kaffee mit immer | |
höherem Koffeingehalt, sondern tragen ihn auch in immer größeren Gefäßen | |
begeistert mit sich herum. In der Einkaufszone werden sie damit zwar | |
dauernd zusammenstoßen und sich aufgepeitscht an die verbrühte Gurgel | |
gehen, hinterher aber zur Versöhnung gemeinsam einen Kaffee trinken. Als | |
Geschmacksrichtungen des Jahres setzen sich durch: Kaffee mit | |
Kuchengeschmack, Kaffee mit Biergeschmack und Tee mit Kaffeegeschmack. | |
## Kein Onlinejahr | |
Viel bedeutsamer sind die Umwälzungen im erfolgsverwöhnten | |
Onlinejournalismus, den es kurz nach Jahresbeginn kalt erwischt. Innerhalb | |
von wenigen Wochen verlieren die Nachrichtenportale und Digitalableger der | |
Zeitungen rasant an Leserschaft. Schockierender Befund der Marktforschung: | |
Niemand will mehr von Profis geschriebene Meldungen, Reportagen und | |
Kolumnen lesen, alle nur noch die interessanten Leserkommentare unter den | |
Artikeln. Die sind das Beste am Internet, urteilen die Nutzer, da findet | |
man zu jedem Thema starke Meinungen, nämlich die eigenen, und zu jedem | |
Thema auch immer dieselben zwei oder drei. | |
Der hilflose Versuch der Verlage, daraufhin alle wichtigen Artikel von | |
wutschnaubenden Trollen schreiben zu lassen, fruchtet nichts; da hatte | |
Spiegel Online ohnehin die Nase vorn. Zudem quittieren die Amateure | |
reihenweise den Dienst, weil sie sich im Gegensatz zu richtigen | |
Journalisten über die ständige Zensur ärgern. Erfolglos bleibt auch die | |
kurzzeitige Praxis der Süddeutschen Zeitung, ihre neu errichtete Paywall | |
umzuprogrammieren und für das Lesen der Artikel Geld auszuschütten - die | |
User bleiben erst recht angewidert weg. | |
## Ein Shitstormjahr | |
Dann passiert jedoch etwas unerhört Dramatisches. Ein bekannter | |
Zeitgenosse, von dem das niemand gedacht hätte, gerät wegen einer | |
unerquicklichen Angelegenheit in einen gewaltigen Shitstorm; Medien und | |
soziale Netzwerke feuern aus allen Rohren. Der Mann, dessen Name noch früh | |
genug geschmäht werden wird, taucht unter, flieht ins Ausland. Als | |
Suizidgerüchte die Runde machen, lautet der Tenor der Postings und | |
Leitartikel nur: Der Drecksack hat es verdient. | |
Wenige Tage später indes tauchen entlastende Dokumente auf. Eine Debatte | |
über die Grenzen des schnellen Urteils ergreift ganz Deutschland, immer | |
mehr selbstkritische Töne schwellen an zu einem Konzert der Bekenntnisse. | |
Auf allen Kanälen beichten sich Journalisten und Publikum gegenseitig ihre | |
schlimmsten Fehlurteile und bereuen unter Tränen. | |
Hinterher ist die Welt wieder ein kleines bisschen besser und der | |
langweilige Nachrichtenalltag von gestern das Gebot des restlichen Jahres. | |
Bis die nächste Sau durchs Mediendorf gejagt wird. | |
Weitere Veränderungen auf dem Gebiet der Unterhaltungselektronik vollziehen | |
sich eher still: Im Sommer gibt es in Deutschland erstmals mehr Apps als | |
Einwohner. Ohne Navigation aus dem Smartphone finden viele Kinder nicht | |
mehr in die Schule. Immer mehr Überwachungskameras überwachen immer mehr | |
Drohnen und umgekehrt. Die Smartphones schrumpfen wieder ein bisschen, | |
damit man sie nicht mit den Flachbildfernsehern verwechselt. Mit dem | |
"intelligenten Haus" und dem "Kühlschrank, der sich selber nachfüllt", wird | |
es auch dieses Jahr wieder nichts. | |
## Ein Google+Jahr | |
Die wahre Sensation ist dafür allerdings: 2015 wird das Jahr von Google+. | |
Völlig genervt von Facebook strömen Datenschutzbesorgte und Paranoiker | |
dorthin, wo keine Nutzerdaten missbraucht werden können, weil es keine | |
Nutzer gibt. Anschließend entdecken Eigenbrötler, Waldschrate und weitere | |
wunderliche Originale das antisoziale Netzwerk für sich. In dieser | |
Geisterstadt können sie sich nach Herzenslust anschweigen und Löcher in die | |
Luft gucken, aber auch hemmungslos laut werden: Niemand hört ihr Schreien. | |
Zur Jahresmitte folgen Menschen aus der Therapieszene, die lernen wollen, | |
sich mehr mit sich selbst zu beschäftigen. Es kommt aber auch einiges an | |
Gesocks, das das Licht der Öffentlichkeit aus guten Gründen scheut: | |
Steuerflüchtige, Crackdealer, Beamte der Stadtverwaltung. Dieses | |
halbseidene Pack kann seine Füße nicht stillhalten, benimmt sich auffällig, | |
schmeißt im Einklang mit den Jahreszielen jede Menge rauschender Partys, | |
die Fahnder und Fernsehteams anlocken - und diese wiederum einiges an | |
Prominenten. Mit den Berühmtheiten kommen aber schließlich die ganz großen | |
Scharen, die weitere Scharen anziehen. Ende des Jahres tummelt sich deshalb | |
die Hälfte der Weltbevölkerung bei Google+. Facebook dagegen ist zu jenem | |
Friedhof geworden, der Google+ zuvor war. Kurz darauf entlässt Mark | |
Zuckerberg alle Angestellten und muss sich sogar selbst begraben. | |
## Ein Kanzlerinnenjahr | |
In der Politik gibt es dagegen keine Veränderungen. Die Enteignung der | |
Massen geht munter weiter. Angela Merkel will dieses Werk unbedingt noch | |
vollenden und bleibt daher Kanzlerin. In der CDU rumort es deshalb zwar | |
gelegentlich, doch die Kritiker finden sich jedes Mal tags drauf völlig | |
isoliert wieder: in einem Kühlschrank am Grund der Spree. | |
Die großkoalitionären Sozialdemokraten zieht es mal hierhin, mal dahin, | |
aber nie über 25 Prozent. Ihr Problem: Sie können niemandem so recht | |
begreiflich machen, ob sie nun eine andere oder eine bessere CDU-Politik | |
machen möchten. | |
Die AfD zerreißt sich im Streit und wird als Partei wieder bedeutungslos. | |
Sie hinterlässt aber eine protofaschistische Massenbewegung, die uns in | |
diesem Jahr noch richtig viel Spaß machen wird. Wenn sich dieses Demovolk | |
eines Tages mit den Partyleuten und den Kaffeetrinkern verbündet und alle | |
zusammen die Vorzüge von Google+ entdecken, dann gnade uns Gott - | |
spätestens im Jahr 2016. | |
3 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Mark-Stefan Tietze | |
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