| # taz.de -- Interview mit Asia Argento: „Kinder lieben es, Angst zu haben“ | |
| > Kinder sehen überall Magie. Asia Argento über ihren neuen Film | |
| > „Missverstanden“, schwarzen Humor und die Abwehrkräfte des Punk. | |
| Bild: Punk hilft, Rock auch. Giulia Salerno in „Missverstanden“. | |
| taz: Frau Argento, Ihr Film „Missverstanden“ ist gleichzeitig Drama und | |
| Groteske. Wäre Drama allein zu traurig gewesen? | |
| Asia Argento: Ja. Eigentlich wollte ich ein stringentes Drama machen, ich | |
| hatte Fassbinder im Kopf. Beim Schreiben fand ich aber einen anderen Zugang | |
| zu der Geschichte, mit schwarzem Humor und vielen absurden Situationen. Die | |
| Story wäre sonst einfach zu bedrückend, würde meine Protagonistin zu sehr | |
| zum Opfer machen. Der Humor ist eine Entlastung. | |
| Hat Ihre eigene Kindheit in den 80ern Sie inspiriert? | |
| Ja, aber eher visuell, in der Story weniger. Die Vorlage für mich war | |
| „Misunderstood“ von Luigi Comencini, dessen Film von 1966 hat mich als | |
| Heranwachsende stark beeindruckt. Auch darin gibt es ein Kind, das vom | |
| Vater missverstanden wird, der seinen älteren Sohn mehr liebt. Aber das war | |
| ein echtes Drama. Als ich mit Barbara Alberti an meinem Drehbuch saß, | |
| hatten wir viel Spaß an den egoistischen, exzentrischen Eltern. Das hat es | |
| uns leichter gemacht, mit der Traurigkeit der Geschichte umzugehen. | |
| Was wird aus einem Mädchen, das als Kind so viel Ablehnung erlebt – muss | |
| sie als Erwachsene zur Traumatherapie? | |
| Ich glaube nicht. Sie hat eine innere Stärke, das habe ich versucht | |
| darzustellen, indem ich starke und rhythmusorientierte Musik unter die | |
| schlimmsten Szenen gelegt habe, Punk und Rock. Ihre irrationalen Eltern | |
| wird sie auch als Erwachsene nicht verstehen, denn das ist unmöglich. Sie | |
| muss sich irgendwann von ihnen lossagen. | |
| Kinder nehmen viel einfach hin – hilft ihr das? | |
| Auf jeden Fall. Dazu kommt die Magie, die Kinder überall sehen. In meinem | |
| Film glaubt das Mädchen, in ihrer Katze wohne ein Engel, der es beschützt. | |
| Später entwickelt sie eine Art Panzer gegen die Gemeinheiten ihrer Eltern. | |
| So wie alle – die meisten von uns haben in der Kindheit Traumatisches | |
| erlebt. Die Stärke, die man dabei aufbaut, hat für mich im Ursprung etwas | |
| Spirituelles, etwas, das größer ist als der Mensch, man kann es Gott | |
| nennen, Universum, egal. | |
| Das Ende Ihrer Geschichte ist ambivalent. | |
| Ich habe sogar drei Enden eingebaut – vielleicht hat sie alles nur | |
| geträumt, vielleicht stirbt sie, vielleicht kommen ihre Eltern wieder | |
| zusammen. Was wirklich passiert, habe ich extra erst hinter die Credits | |
| geschnitten, damit nur die wirklichen Filmfans es mitbekommen, die nicht | |
| sofort rausrennen, wenn der Nachspann beginnt! | |
| Es gibt eine Szene, in der die Mädchen sehnsüchtig zuschauen, wie die | |
| Jungen skaten, anstatt mitzumachen – wäre das heute anders? | |
| Nicht sehr, fürchte ich. Ich habe mich früher vieles nicht getraut, weil | |
| ich Angst hatte, mich zu blamieren, und das dürfen Mädchen nicht. Auch | |
| meine Kinder stecken in diesem System, mein Sohn spielt Fußball, meine | |
| Tochter mochte früher dieses ganze Feenzeug, jetzt ist sie | |
| Gothicprinzessin. Vielleicht wäre also heute in der Szene eine einzige | |
| Skaterin dabei, aber mehr bestimmt nicht. | |
| Kann man Ihren Film auch als Kommentar zum italienischen Sozialsystem der | |
| 80er verstehen, in dem Kinder unter den Augen der Umgebung verwahrlosten? | |
| Ja, aber es ist doch immer noch so. Oft ist die Außenwelt, vor der Kinder | |
| gewarnt werden, viel weniger gefährlich als das, was zu Hause passiert. Das | |
| wollte ich mit den Szenen erzählen, in denen meine Protagonistin sich mit | |
| Außenseitern, Obdachlosen und Punks anfreundet, die nett zu ihr sind. | |
| Und die ihr Drogen geben … | |
| Ja, aber immerhin bekommt sie von ihnen die dringend benötigte | |
| Aufmerksamkeit. In unserer Gesellschaft ist das Kind eigentlich nur noch | |
| als Kaufkraft wichtig – große Firmen setzen alles daran, Produkte zu | |
| entwickeln, die Begehrlichkeiten bei ihnen wecken. Sie werden nur noch als | |
| Konsumenten beachtet. Auch Eltern haben das verinnerlicht – tagtäglich sehe | |
| ich, wie Eltern ihren Kindern im Restaurant oder im Bus Gameboys und | |
| Tablets geben, damit sie sich nicht mit ihnen beschäftigen müssen. Dabei | |
| ist für mich ein Kind fraglos immer die wichtigste Person im Raum! Was sie | |
| sagen, ist viel wichtiger als unser ganzes extravagantes Geblubber. So sehe | |
| ich die Welt. | |
| Kommen Sie nie an den Punkt, an dem Ihre Kinder Sie nerven? | |
| Natürlich, das ist doch menschlich. Und wir müssen unseren Kindern ja auch | |
| beibringen, dass es wichtig ist, zu arbeiten, und dass das Spaß macht, eben | |
| die Voraussetzungen, um in einer Gesellschaft zusammenzuleben. Aber Kinder | |
| sind eine Möglichkeit, aus einer ichzentrierten Blase auszubrechen. | |
| Kann man Kinder erziehen, oder kann man ihnen nur etwas vorleben? | |
| Vor allem muss man sie faszinieren und mit ihnen auf Augenhöhe gehen. Wenn | |
| ich mit meinen Kindern spreche, vergegenwärtige ich mir immer, dass sie | |
| allein durch ihre geringere Größe zu mir aufschauen, dass wir sie also | |
| dominieren. Wir müssen eigentlich in die Hocke gehen, um mit ihnen zu | |
| sprechen. | |
| Würden Sie Kindern aus Jugendschutzgründen verbieten, Ihren Film zu sehen? | |
| Nein, mein Sohn war fünf, als er ihn anschaute, er fand ihn toll. Ich habe | |
| ihn für Erwachsene UND Kinder geschrieben. Ich glaube nicht, dass man | |
| Kindern verbieten sollte, bestimmte Filme zu gucken, sonst tun sie es | |
| heimlich. Man sollte sich alles mit seinen Kindern gemeinsam anschauen und | |
| es ihnen erklären oder es vorher allein prüfen und dann entscheiden. | |
| Ihr Vater ist Horrorfilmregisseur – hat er mit Ihnen zusammen seine Filme | |
| angeguckt? | |
| Bei mir war es eine besondere Situation – meine Mutter spielte in vielen | |
| Filmen mit, darum habe ich sie tatsächlich sehr früh gesehen, manche schon | |
| mit fünf Jahren. Mein Vater hat den Horror zudem immer recht ästhetisch | |
| dargestellt, für mich hatten die Filme daher eher etwas Märchenhaftes, | |
| schließlich ist auch Schneewittchen eigentlich beängstigend. Und Kinder | |
| lieben es, Angst zu haben, Angst gehört zu den ursprünglichsten Gefühlen. | |
| Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich verstand, was das Böse | |
| wirklich ist – und das hat nichts mit einem Horrorfilm zu tun. | |
| Was meinen Sie? | |
| Ein Freund von mir, der meinen Film mitproduziert hat, ist ebenfalls | |
| Horrorfilmregisseur und dabei sehr religiös. Er hat mir erklärt, was es | |
| bedeutet, besessen zu sein – das gibt es wirklich, Menschen sind von bösen | |
| Geistern besessen. Das weiß ich, denn ich habe sie gesehen. | |
| Ich glücklicherweise nicht. | |
| Vielleicht kommt das ja noch. Meine Tochter ist 13, und sie schaut sehr | |
| gern mit ihrer Freundin Horrorfilme. Aber sie ist nicht vom Bösen besessen, | |
| sie amüsiert sich dabei. In diesem ganzen Horrorfilmgenre gibt es eine | |
| unheimlich große und gut gelaunte Fanbasis, die Fans lieben jeden | |
| Schauspieler und jeden Film, weil sie – trotz des schaurigen Inhalts – so | |
| positive und starke Gefühle erzeugen. | |
| Kann Ihr Film das auch? | |
| Ich hoffe, ja. Die Freundin meiner Protagonistin sagt zu ihr irgendwann: | |
| Ich bin nicht wie du, ich bin normal! Es gibt immer einen Außenseiter in | |
| der Klasse, der von den anderen diskriminiert wird, weil er anders ist. In | |
| meinem Film wird das visuell deutlich durch die überdimensionale | |
| Zahnspange, die meine Protagonistin trägt. Ich möchte Kinder und Erwachsene | |
| ganz einfach dazu auffordern, sich zu helfen, nett zueinander zu sein, zu | |
| akzeptieren, dass jemand komisch aussieht – das ist doch eine sehr positive | |
| Botschaft. | |
| 22 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
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