# taz.de -- Bildungsreform in China: Klassenkampf im Hörsaal | |
> China verdammt westliches Gedankengut aus Schulen und Unis. Stattdessen | |
> sollen „die Werte von Staatspräsident Xi Jingping“ vermittelt werden. | |
Bild: Garantiert nicht westlich: Studierende in Chengdu praktizieren den Kampfs… | |
PEKING taz | Chen Yu versteht sein Land nicht mehr. Zwei Jahre lang hat | |
sich der 21-jährige Geschichtsstudent der Peking-Universität intensiv mit | |
chinesischen Philosophen beschäftigt, aber auch mit Werken von Hegel und | |
Schopenhauer. Er hat Vorlesungen über die europäische Aufklärung besucht | |
und über die Französische Revolution. „Nun soll all das keinen Wert mehr | |
haben?“, fragt er. „Dann kann ich mit meinem Studium ja wieder von vorne | |
beginnen.“ | |
Die Peking-Universität, die umgangssprachlich auch Beida genannt wird | |
(Abkürzung für Peking-Universität auf Chinesisch), gilt als eine der | |
renommiertesten Bildungseinrichtungen im Land. Sie wird auch gerne als das | |
chinesische Harvard bezeichnet. | |
In den zum Teil über 100 Jahre alten Gebäuden haben schon berühmte | |
chinesische Denker wie Lu Xun oder Chen Duxiu gelehrt. Sämtliche politische | |
Bewegungen der chinesischen Neuzeit haben ihren Ursprung an der Beida. Und | |
als ab Mitte der sechziger Jahre während der Kulturrevolution im Rest des | |
Landes die Roten Garden wüteten, durften an der Beida zumindest einige | |
Gelehrte noch weiter forschen. | |
Seit Beginn der Öffnungspolitik des großen Reformers Deng Xiaoping vor 30 | |
Jahren rühmt sich die Universität ihrer offene Kultur. „Freiheit der | |
Gedanken“ ist sogar der offizielle Leitspruch. Mit dieser Gedankenfreiheit | |
könnte es nun unter Chinas seit zwei Jahre amtierendem Staatsoberhaupt Xi | |
Jinping allerdings vorbei sein. | |
## Bücher mit „westlichen Werten“ entsorgen | |
Der chinesische Bildungsminister Yuan Guiren hat Ende Januar sämtliche | |
Universitäten und Schulen im Land angewiesen, Bücher zu beseitigen, die | |
„falsche, westliche Werte“ propagieren. Stattdessen sollen die | |
Bildungseinrichtungen „die Werte von Staatspräsident Xi Jinping“ | |
vermitteln. Yuan forderte die Universitäten und Schulen zudem auf, die | |
Seminare und Klassenräume „frei zu halten von Äußerungen, die die | |
Herrschaft der Kommunistischen Partei infrage stellen, den Sozialismus | |
verschmähen oder sich gegen die bestehenden Gesetze wenden“. | |
Die parteitreue Leitung der Peking-Universität reagierte umgehend: | |
„Chinesische Universitäten sind Universitäten mit sozialistischen | |
Qualitäten. Deshalb sollten sich natürlich alle Universitäten an eine | |
sozialistische Erziehung halten“, teilte sie in einer Erklärung mit. Eine | |
Handvoll Professoren beten im Staatsfernsehen seitdem artig die | |
vorgegebenen Formeln nach. | |
Bis zum Semesterbeginn Anfang März waren zwar nur wenige Lehrbeauftragte | |
auch wirklich dieser Anweisung gefolgt. Wie die Pekinger Jugendzeitung | |
berichtet, bieten die Universitätsbuchhandlungen weiter Bücher an, die sich | |
mit „westlichen“ Theorien und Philosophen beschäftigen. Sowohl das | |
Standardwerk „Soziologie“ von Anthony Giddens als auch „Grundlagen der | |
Ökonomie“ von Nicholas Gregory Mankiw seien erhältlich. | |
Doch an Universitäten und Schulen in anderen Städten des Landes wird die | |
Aufforderung Ernst genommen. „Ich weiß von Kommilitonen in der Stadt Xi’an, | |
die ihre Bücher abgeben mussten“, erzählt der Student Chen Yu. Willy Lam, | |
Politikwissenschaftler an der China-Universität in Hongkong, weiß von Unis, | |
an denen die Parteisekretäre sogar Schwarze Listen erstellt haben mit | |
Akademikern, „die westlichem Denken besonders zugetan“ seien. „Das ist se… | |
beunruhigend“, wird Lam im Onlinemagazin University World News zitiert. | |
Die Anweisung an den Unis und Schulen scheinen Teil einer umfassenden | |
Ideologisierung zu sein, die seit der Amtsübernahme von Xi Jinping immer | |
weitere gesellschaftliche Bereiche umfasst. | |
## Von ausländischen Mächten unterwandert | |
Im vergangenen Sommer war die bis zu diesem Zeitpunkt einflussreiche | |
Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften (CASS) unter Beschuss der | |
Ideologiewächter geraten. Die Volkszeitung, das Parteiorgan der KP-Führung, | |
aber auch andere Staatsmedien warfen den Wissenschaftlern der | |
Forschungseinrichtung vor, sie seien von ausländischen Mächten | |
unterwandert. Forscher mussten Auslandsreisen absagen. Auch die | |
Zusammenarbeit der Akademie mit politischen Stiftungen, unter anderem der | |
Konrad-Adenauer-Stiftung aus Deutschland, und anderen Ländern ruht seitdem | |
weitgehend. | |
Ohne zu konkretisieren, was er genau damit meint, hat Xi zuletzt im | |
Dezember eine „ideologische Rückbesinnung“ gefordert. Ähnlich hatte er | |
zuvor auch schon von Parteifunktionären, Künstlern und Journalisten eine | |
ideologisch „porentiefe Reinigung“ gefordert. | |
Dabei galten diese ideologisch aufgeladenen Kampagnen in China als | |
überwunden. Nach der blutigen Kulturrevolution unter Mao Zedong ab der | |
zweiten Hälfte der sechziger Jahre, die das ganze Land fast ein Jahrzehnt | |
lang in ein tiefes Chaos gestürzt hatte, zielte Maos Nachfolger Deng mit | |
seiner Öffnungspolitik auf ein „Lernen von fortgeschrittenen | |
kapitalistischen Ländern“ ab. Deng liberalisierte die Wirtschaft und das | |
Bildungssystem und förderte den internationalen Austausch und die | |
Zusammenarbeit mit westlichen Partnerländern, erläutert Sebastian Heilmann, | |
Leiter des Berliner China-Instituts Merics. | |
Der Politikwissenschaftler fühlt sich mit Xis jüngsten Aufforderungen | |
wieder an die düstere Mao-Ära erinnert. Heilmann bereitet aber nicht nur | |
die ideologische Rückbesinnung Sorge, sondern auch der wiederentdeckte | |
Personenkult: „Während Deng Xiaoping den Personenkult, der zu Lebzeiten um | |
Mao Zedong betrieben worden war, scharf verurteilt hatte, toleriert und | |
fördert die staatliche Aufsicht derzeit einen grotesken neuen Kult um die | |
Person Xi Jinpings in Chinas sozialen Medien“, beschreibt Heilmann die | |
derzeitige politische Lage in der Volksrepublik. | |
## Rückzug ins Ausland | |
Noch trauen sich auch chinesische Akademiker Kritik gegen diese neue Linie | |
zu äußern. Shen Kui, ehemaliger Dekan der Juristischen Fakultät an der | |
Peking-Universität, greift in einem Blog-Eintrag Bildungsminister Yuan | |
direkt an und weist darauf hin, dass die Idee des Kommunismus selbst ein | |
westlicher Gedanke ist. „Der Marxismus ist im Westen entstanden“, sagt | |
Shen. | |
Wer es sich leisten kann, versucht ohnehin ins Ausland zu gehen. | |
Tatsächlich haben allein im vergangenen Semester nach Angaben des Institute | |
of International Education rund 274.000 Chinesen an US-amerikanischen | |
Universitäten studiert. Und das war vor Xis Ankündigungen. Wie viele seiner | |
Freunde plant auch Student Chen Yu, sein Studium im Ausland fortzuführen. | |
Er habe sich bereits Unterlagen der Universität Edinburgh im fernen | |
Schottland zuschicken lassen. | |
29 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Felix Lee | |
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