| # taz.de -- taz-Sommerserie „Sommer vorm Balkon“: Geschichte am See | |
| > Der Bogensee ist landschaftlich schön, mit markanter Geschichte: Hier | |
| > findet sich eine Goebbels-Villa und die ehemalige FDJ-Jugendhochschule | |
| > der DDR. | |
| Bild: Stalinallee im Wald: ehemalige FDJ-Jugendhochschule Bogensee | |
| Es ist nicht leicht, an das Ufer des Sees zu gelangen. Mitten im Wald | |
| gelegen ist der Bogensee, etwa 15 Kilometer nördlich vom Berliner Stadtrand | |
| entfernt, einer der saubersten und verwunschensten Seen in Brandenburg, mit | |
| weißen Seerosen in großer Zahl. Doch um einen der beiden Badestrände zu | |
| erreichen, muss man sich über Trampelpfade einen Weg bahnen. Biber haben | |
| hier viele Bäume gefällt, die auf dem Weg Hindernisse bilden. Einen | |
| Uferwanderweg um den 300 Meter langen und maximal 180 Meter breiten See | |
| gibt es nicht. An etlichen Stellen ist das Ufer geprägt von Mooren, | |
| naturnahen Verlandungsbereichen und Erlenbruchwäldern, die als wertvolle | |
| empfindliche Biotope unter Naturschutz stehen. Eigentlich. | |
| Doch entsprechende Hinweisschilder fehlen. Das räumt auch die Berliner | |
| Senatsverwaltung für Umwelt auf Anfrage der taz ein. „Die Beschilderung | |
| entspricht nicht mehr den aktuellen gesetzlichen Regelungen“, sagt | |
| Sprecherin Dorothee Winden. Sie soll ergänzt und ersetzt werden. Das Areal | |
| rund um den Bogensee liegt zwar geografisch im Land Brandenburg, gehört | |
| aber den Berliner Forsten. Berlin hatte es 1914 günstig von einem verarmten | |
| Adeligen gekauft. | |
| Wer am Wochenende zum Bogensee kommt, wird sehr wahrscheinlich ein paar | |
| einsame Angler sehen, die hier auf den großen Fang warten. Der See ist | |
| fischreich. Und er könnte Foto- und Filmamateure treffen, die aber nicht | |
| wegen des Sees hier sind, sondern wegen der Lost Places mit der ehemaligen | |
| Villa von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels und der | |
| FDJ-Jugendhochschule aus DDR-Zeiten wenige hundert Meter daneben. | |
| Kommt man hingegen wochentags, dann ist die Wahrscheinlichkeit, am Ufer | |
| eine Ringelnatter oder Blindschleiche zu sehen, um einiges höher als die, | |
| auf andere Badegäste zu stoßen. Der Bogensee ist zwar wegen des sauberen | |
| Wassers ein perfektes Badegewässer, aber er steht in keinem Reiseführer, | |
| und auch Wegweiser sind fast nicht vorhanden. | |
| Zwischen 1936 und 1945 gehörte der See Joseph Goebbels. Der war nicht nur | |
| Propagandaminister, sondern auch Gauleiter von Berlin, sodass ihm die Stadt | |
| das Anwesen auf Lebenszeit geschenkt hatte. | |
| Für den taz-Fotografen Christian Thiel war der Fotoauftrag Bogensee ein | |
| Highlight. „Das ist die Stalinallee im Wald“, sagt er. Damit meint er die | |
| neben Goebbels-Villa und See befindliche Jugendhochschule der FDJ, einen | |
| gigantischen Bau im besten Zuckerbäckerstil, erbaut nach Entwürfen des | |
| Architekten Harald Henselmann, der auch die Stalinallee – die heute | |
| Karl-Marx-Allee heißt – entwarf. | |
| Hier lernten einmal 500 Studenten. Sie wohnten in den angrenzenden | |
| Internatsgebäuden. Denn hier bildete die DDR ihre künftigen | |
| Jugendfunktionäre aus. Aber nicht nur: Rund 70 Prozent der Studierenden | |
| kamen in den 1980er Jahren aus dem Ausland und lernten hier ein Jahr lang | |
| Marxismus-Leninismus. | |
| Wie die Finnin Kirsi Marie Liimatainen, die vor vier Jahren mit | |
| [1][„Comrade, where are you today?“] einen Film über ehemalige Mitstudenten | |
| gemacht hatte, die teilweise unter Decknamen studierten. Für den Film war | |
| sie nach Bolivien, Chile, den Libanon und nach Südafrika gereist und hatte | |
| ehemalige Studienkommilitonen aufgespürt und gefragt, was sie heute machen | |
| und wie sie über den Lebensabschnitt an der Jugendhochschule denken. | |
| Die Dolmetscherkabinen, aus denen heraus die Vorlesungen in viele Sprachen | |
| übersetzt wurden, stehen noch. Sie gehörten in den 1980er Jahren zu den | |
| modernsten, die es in der DDR gab. Dies war der Grund, dass die DDR hier | |
| Pressekonferenzen von Staatsgästen abhielt. 1981 stellte sich etwa | |
| Bundeskanzler Helmut Schmidt den Fragen internationaler Journalisten, 1982 | |
| und 1986 Nicaraguas Präsident Daniel Ortega. Durch die abgeschiedene Lage | |
| mitten im Wald ließ sich gut kanalisieren, wer zu den Pressekonferenzen | |
| kam. | |
| Bis 1999 nutzten dann die Deutsche Bank und der Internationale Bund die | |
| Schulgebäude für Sozialarbeit. Seitdem sind sie verwaist. Der Putz bröckelt | |
| von den denkmalgeschützten Gebäuden. Die Ornamente sind nur noch zu ahnen. | |
| Auf einem Balkon wächst eine Birke. Aus der Regenrinne ragen meterhohe | |
| Bäume in den Himmel. | |
| Führungen durch das Areal von Jugendhochschule und Goebbels-Villa gibt es | |
| bis heute keine. Die Berliner Immobilienmanagement GmbH BIM, die das | |
| Grundstück verwaltet und jährlich eine Viertelmillion Euro in den Erhalt | |
| steckt, will das nicht. Das würde Besucher anlocken, sagt Sprecherin | |
| Johanna Steinke. Und in Besuchern sieht sie vor allem Leute, die die | |
| Gebäude weiter zerstören könnten. Vandalismus und Diebstahl gab es in der | |
| Tat. Zudem fürchtet die BIM, dass die Goebbels-Villa, wenn sie bekannter | |
| würde, ein Wallfahrtsort für Anhänger des Nationalsozialismus werden | |
| könnte. | |
| Aber ließe sie sich nicht auch als Ort der Dokumentation nutzen, wie die | |
| Propaganda im Dritten Reich gelenkt wurde? Hier ist der Originalort, denn | |
| als Berlin bombardiert wurde, verlagerte Goebbels seinen Dienstsitz an den | |
| Bogensee. Hier entschied der Propagandaminister, was in Filmen und | |
| Zeitungen gesagt werden durfte und was nicht. Hier diktierte er seine Reden | |
| und Leitartikel – und genoss zugleich mitten im Wald die Illusion von Ruhe | |
| im Krieg, in einem Arbeitszimmer mit Seeblick – der allerdings heute | |
| zugewachsen ist. Empfangszimmer und Kinosaal dagegen sind noch halbwegs | |
| erhalten. | |
| Im kommenden Frühjahr soll eine Onlineausstellung einiges an Information | |
| bieten. Sie wird gerade am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in | |
| Potsdam erarbeitet. Auch Lösungen, wie man die Ausstellung trotz schlechten | |
| Internetempfangs vor Ort sehen kann, sind in Arbeit. | |
| 31 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marina Mai | |
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