# taz.de -- Zum Tod von Uwe Seeler: Ein Popstar seiner Zeit | |
> Uwe Seeler war Hamburger, uneitler Herrscher über die Fußballherzen des | |
> Landes – und einer der besten Kicker sowieso. Erinnerung an einen ganz | |
> Großen. | |
Bild: Publikumsliebling: Uwe Seeler nach seinem Abschiedsspiel im Hamburger Vol… | |
Donnerstag am späten Nachmittag wurde die Nachricht bekannt, und vermutlich | |
begannen in den gleichen Sekunden, wo auch immer in Deutschland, kleine | |
archäologische Expeditionen in den persönlichen Bildarchiven: Uwe. Uns Uwe. | |
Uwe Seeler. Anekdoten begannen zu kursieren. Eine geht so: Da sagt ein | |
Mädchen von acht Jahren, Anke, auf dem Schulhof im Hamburger (damals noch) | |
Arbeiterquartier Schanzenviertel – es waren die späten sechziger Jahre –, | |
sie werde nach Harksheide fahren, ein Autogramm von Uwe Seeler holen. Die | |
anderen Kinder lachten: Höhö, was die redet, Angeberin! Aber sie fuhr auf | |
dem Fahrrad los, 22 Kilometer weit. | |
Tags darauf sagte sie, tja, sie habe geklingelt am Haus von Uwe Seeler, und | |
eine freundliche Frau habe aufgemacht, sich den Autogrammwunsch angehört, | |
habe gesagt, „komm mal rein, min Deern“, habe sie ins Wohnzimmer geführt, | |
wo Uwe Seeler zufällig auch saß und dann auf eine Karte mit seinem Bild | |
seine Unterschrift setzte. Garantiert selig, ja, beseelt, wird sie die | |
Strecke zurückgefahren sein. Wusste sie es doch! | |
Das war er, das war das Paar Uwe und Ilka Seeler: nahbar, ohne Allüren, | |
kein Bling-Bling, kein „wie feine Leute tun“, Bodyguards, hohe | |
Grundstückshecken, kein „wenn Schiet wat ward“, wie es im Norddeutschen so | |
heißt, also wenn aus Scheiße was wird, das Arbeiterkind in der Hautevolée | |
ankommt. Auf – für heutige Wahrnehmungsverhältnisse der Promis auch im | |
Sport – beängstigende Weise ist dieser Mann, besser: hat dieses Paar | |
ungeeignet sein wollen für die Zeichen des sogenannten Aufstiegs. | |
„Uns Uwe“ wurde er genannt. Und war immer ein Volxheld, so Pop wie Elvis | |
Presley in Bremerhaven 1958 (und nicht mehr in Graceland). Uwe Seeler, ein | |
Idol? Ein Wort, ohne dass sich einem bei diesem Wort borstig Zweifel | |
einstellen. Ob er denn gar keine Fehler gemacht habe, wurde er mal gefragt. | |
Tja, antwortete er, vielleicht hätte es den Swimmingpool nicht gebraucht – | |
ungenutzt meist, langweilend. Stattdessen: zunächst ein Käfer als Auto, | |
Urlaub in Dänemark. | |
Der Mythos Uwe Seelers lebte von diesem biografisch beglaubigten Fundament: | |
[1][Vater Erwin Seeler] Hafenarbeiter, Fußballer, Arbeitersportbewegung im | |
proletarischen Stadtteil Rothenburgsort, Mutter Anny Hausfrau, Umzug nach | |
Eppendorf und zum Hamburger SV, den Walter Jens, Rhetorikprofessor in | |
Tübingen, selbst Hamburger, mal als „Klassenverrat“ geißelte. 1936 Uwes | |
Geburt. | |
## Lehre, Fußball, HSV, aber nicht Inter Mailand | |
Mit seinem Bruder Dieter wurde er das, was damals üblich war: | |
Straßenfußballer. Ausbildung zum Speditionskaufmann, seit 1946 beim | |
Hamburger SV, bis zum Karriereende Anfang der Siebziger nie ein anderer | |
Verein, Mit 16 erste Einsätze bei den Erwachsenen, immer als Stürmer, | |
Torjäger, Knipser, Antreiber, auf dem Platz dirigierend, das heißt, | |
anmeckernd, mal auch gröber, aber nach Aussage vieler Mannschaftskollegen | |
nie böse oder giftig, auch auf dem Platz „ruhig, kameradschaftlich und | |
offen“, wie eine Klassenlehrerin ihn mal beschrieb. Mal hinfallen auf | |
Asche, Rasenplätze gab es ja kaum, aufgeschrammte Knie – kein Jammern | |
bitte, so war es damals üblich. Die Härte jener Jahre, kein Thema, Zähne | |
zusammenbeißen und weiter. | |
Und dann die Geschichte mit Inter Mailand, deren Trainer Helenio Herrera | |
Uwe Seeler nach dessen erster WM 1958 in Schweden unbedingt nach Italien | |
holen wollte, mit wirklich sehr viel Geld. Mehr als eine Million Deutsche | |
Mark plus einiger „Nebengeräusche“. Die Verhandlungen sollen über drei Ta… | |
gelaufen sein – am Ende sagte Uwe Seeler ab: Er wollte lieber nicht gehen. | |
Stattdessen wurde er Norddeutschland-Generalvertreter von Adidas, der | |
Fußballschuhfirma aus dem Fränkischen – nicht als Grüßaugust, sondern | |
konkret im Mercedes umherfahrend wie ein Handelsvertreter. | |
Das Geld sei ihm zwar wichtig, aber die Summe nicht entscheidend gewesen. | |
Mehr als ein Steak könne er nicht essen, mehr als ein Haus nicht bewohnen. | |
Vermutlich aber war es eine Taktlosigkeit, an welcher der Handel | |
scheiterte. Die italienische Delegation an der Alster im Hotel Atlantic | |
hatte Uwe Seelers Frau Ilka nicht miteingeladen. Ob sie präberlusconiesk | |
dachten, Frauen seien ohnehin nur Bunga-Bunga? Das sei ein Fehler gewesen, | |
sagte sie neulich [2][in einer NDR-Doku], die hätten sie nicht auf der | |
Rechnung gehabt, nicht mal höflicherweise eingeladen. | |
Ilka Seeler aber war immer die Frau mit ihm. Sie war immer an seiner Seite, | |
immer. Eine große Liebe, im Übrigen gegen den Rat von Uwe Seelers Mutter, | |
die über die ehemalige Handballerin urteilte, „die kann ja nicht mal Wasser | |
kochen“, worauf es womöglich beiden auch nicht wirklich angekommen ist. | |
## Kleiner Wohlstand in Harksheide | |
Gerhard Krug, der als HSV-Spieler dabei war, als Uwe Seeler 1960 seine | |
einzige deutsche Meisterschaft errang und später Journalist unter anderem | |
bei der Welt war, erklärte die Ernsthaftigkeit von Uwe Seelers Spiel mal | |
so: „Wir trainierten viermal in der Woche. Uwe Seeler trainierte da schon | |
mehr, spielte ja auch international. Er nahm das schon sehr viel ernster. | |
Wir hatten so ein bisschen Lust am Kicken, fanden das eigentlich ganz | |
witzig, wollten aber alle Lehrer werden.“ | |
Das war der Unterschied: Fußball war für Uwe Seeler so gut wie alles. Krug | |
mit Blick auf die Vita seines Mannschaftskameraden: „Uwe Seeler steht für | |
den vorsichtigen Aufstieg. Alle Leidenschaft auf den Punkt gebracht, über | |
zwei Halbzeiten, und viel Training vorher und nachher, immer besser | |
werden.“ Aber er habe immer „vorsichtig bleiben wollen, Stück für Stück, | |
nie alles auf einmal“. So wie das Haus der Seelers in Harksheide (heute | |
Norderstedt) am HSV-Trainingsgelände auch langsam wuchs, nie die eigenen | |
Verhältnisse überstrahlend. | |
Überhaupt dieses Harksheide. Ein Städtchen gleich nach Hamburg, | |
Traumeigenheimrevier vieler, die in den sechziger und siebziger Jahren | |
zum bundesdeutschen Wohlstand kamen, als Angestellte mit etwas besseren | |
Gehältern, mit einer eigenen Partykultur, mit James Last als Bandleader | |
für die Bedürfnisse nach Lockerheit und viel Grün. Familie Seeler war die | |
Ikone dieser Kultur bundesdeutscher Ordnung. | |
Dass Uwe Seeler aber in dieser Mittelschichtssuppe nicht aufging wie ein | |
lasches Stück Porree, er immer, wie es halboriginell immer heißt, ein | |
„Original“ blieb, ein nahbarer Nachbar ohne Jägerzäune im Gemüt, muss an | |
dieser Solidität seines Charakters, aber auch hörbar an seinem Sprachklang | |
gelegen haben: Der war, der ist Hamburgisch, wie es kaum noch jemand lernt. | |
Heute ein exotischer Sound – als sei er nicht vor einem Jahrhundert noch | |
der an der Elbe übliche gewesen. | |
Mit Uwe Seeler ist einer nicht mehr am Leben, dessen Namen man 1966 auf dem | |
Balkon des Frankfurter Römer rief, als die DFB-Mannen aus England nach der | |
2:4-Niederlage – mit diesem umstrittenen Tor der Engländer zum 3:2 in der | |
Verlängerung, den Jubel ihrer Anhänger entgegen nahmen. Sie riefen nicht | |
„Deutschland, Deutschland!“, kein Hochmut der restlichen Fußballwelt | |
gegenüber, sondern: „Uwe, Uwe!“ Uwe Seeler – das war Popkultur, ohne dass | |
diese damals so aussah. | |
## Der Enkel spielt bei Union Berlin | |
Er war die Figur, die der deutsche Fußball nach dem WM-Gewinn 1954 | |
brauchte, um die Nazizeit mit einer neuen Persona hinter sich zu lassen: | |
ein cooler Bürger, der keinen Thron beanspruchte und doch auf vielen Platz | |
zu nehmen hatte. Der Rest sind Fakten. Niemals Weltmeister, eine | |
Meisterschaft, ein Pokalsieg (1963), DFB-Ehrenspielführer, der erste. Viele | |
entscheidende Tore für die Nationalmannschaft, viele Verletzungen, immer | |
wieder gekommen. Dreimal Fußballer des Jahres, Großes Bundesverdienstkreuz. | |
Knapp drei Jahre mit mäßiger Bilanz Präsident des HSV. Bei Heimspielen | |
seines Klubs (fast) immer im Stadion. | |
In den letzten Jahren drückte er, drückte seine Frau hauptsächlich einem | |
Spieler die Daumen, ihrem Enkel Levin Öztunali, der bei Union Berlin in der | |
Bundesliga spielt. Im Übrigen konnte er flachsen, mal’n Spruch raushauen, | |
auch mal einen bösen. Sein Mannschaftskamerad Charly Dörfel rief mal, wenn | |
er weiter so meckert, schlägt er die Flanken höher, als Uwe Seelers Kopf | |
sie erreichen kann – worauf er zur Antwort hörte: „So hoch, wie ich steigen | |
kann, kannst du nicht flanken.“ Uwe Seelers schönste Tore waren solche mit | |
dem Kopf, eines auch [3][bei der WM 1970 gegen England mit dem Hinterkopf] | |
– und das bei verhältnismäßig zwergigen 1,70 Meter Körperhöhe. | |
Er hatte Sinn für Witz, mochte Olli Dittrichs „Ditsche“, war auch mal in | |
einer Gastrolle als „Schildkröte“ zu sehen, nahm sich, so Uwe Seelers | |
Vorstellung des Wunschbilds von sich selbst, „nicht so wichtig“. Und so | |
sprachen Uwe und Ilka Seeler vor Kurzem [4][im NDR]: | |
„Uwe: Ich glaube, wir sollten ruhig und gelassen sein und genießen, was wir | |
haben. (…) Wir können uns nicht beschweren. Ilka: Ich habe es mir genauso | |
vorgestellt, wie es gelaufen ist. Ich bin glücklich damit. Heute passiert | |
nicht mehr so viel. Die aufregende Zeit ist vorbei. Nur dass wir Levi | |
[Enkel Levin] zugucken und ihm die Daumen drücken. Also, wir sind noch im | |
Spiel, Dicker! Uwe: Ja, noch sind wir im Spiel. (lacht).“ | |
Er war und bleibt ein Großer. | |
22 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-dem-Tod-von-Uwe-Seeler/!5869557 | |
[2] https://twitter.com/fraufrerichs/status/1550157952866205697?ref_src=twsrc%5… | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=ulqsrMFP7gw | |
[4] https://www.ndr.de/sport/fussball/Ilka-und-Uwe-Seeler-im-NDR-Interview-Wir-… | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## TAGS | |
Fußball | |
Hamburger SV | |
GNS | |
Deutsche Fußball-Nationalmannschaft | |
Fußball | |
Hamburger SV | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Kolumne Press-Schlag | |
Kolumne Festland | |
Fußball | |
Die Wahrheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bildband über HSV-Legende Uwe Seeler: Uns Uwe und vieles mehr | |
Der Fotoband über den herausragenden Hamburger Fußballer Uwe Seeler ist | |
zugleich eine formidable Chronik Nachnazideutschlands. | |
Führungskrise beim Hamburger SV: Strategie des Abwartens | |
Der HSV ist seinen umstrittenen Finanzvorstand los. Nun müssen Präsident | |
Jansen und Vorstand Boldt zeigen, wie Schulden und Aufstieg zu meistern | |
sind. | |
Rudi Kargus zum 70.: Gut festgehalten | |
Weil es mehr als nur Fußball gibt, macht der ehemalige HSV-Torwart Rudi | |
Kargus Kunst. Eine Betrachtung zum 70. Geburtstag des Künstlers. | |
WM-Finale 1966: Erzählungen über Wembley | |
Das Endspiel um die Fußball-EM lässt in England und in Deutschland die | |
großen Traumata und Mythen aufleben. Und es wird sie verändern. | |
Nach dem Tod von Uwe Seeler: Uwe, Erwin, Frauen und Arbeiter | |
Uwe Seeler und die deutschen Fußballerinnen haben einiges gemein. Etwa: ein | |
Platz an der Schwelle zum großen Geld – aber nicht davon korrumpiert. | |
Fußball-Legende Uwe Seeler gestorben: Trauer um „uns Uwe“ | |
Uwe Seeler ist tot. Der ehemalige Stürmer des Hamburger SV und der | |
deutschen Fußball-Nationalmannschaft ist im Alter vom 85 Jahren gestorben. | |
Die Wahrheit: SEELERS LEBEN Ode an Uwe | |
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die | |
Leserschaft erfreuen an einem Poem zum 85. Geburtstag eines großen | |
Kopfballers. |