# taz.de -- Wohlstand jenseits vom BIP: „Wir schätzen das, was wir messen“ | |
> Die Wissenschaftlerin Katharina Lima de Miranda ist überzeugt: Was wir | |
> unter einem guten Leben verstehen, hängt davon ab, wie wir es messen. | |
Bild: Es gibt auch noch andere Werte: Work-Life-Balance, nachhaltiger Konsum, E… | |
Frau Lima de Miranda, was ist Wohlstand? | |
Katharina Lima de Miranda: In unserer Gesellschaft gilt Wohlstand meist als | |
etwas Materielles. Also: Habe ich ein Auto? Ein neues Handy? Ein Eigenheim? | |
Aber wenn wir uns mal angucken, was das Leben tatsächlich ausmacht, dann | |
ist Wohlstand deutlich breiter. Neben dem Abdecken der materiellen | |
Bedürfnisse sehe ich zwei weitere Dimensionen: erstens das Soziale. Also: | |
Fühlen wir uns eingebettet in die Gesellschaft, haben wir Freunde, Familie, | |
Bekannte, auf die wir zählen können? Haben wir eine Aufgabe und Chancen | |
innerhalb der Gesellschaft? Und zweitens die Umwelt: Wie ist die Luft an | |
dem Ort, an dem wir leben? Haben wir Grün um uns herum? Das bringt direkt | |
ein Gefühl von einem guten Leben. | |
Anhaltende Lieferengpässe und die zunehmende Inflation führen dazu, dass | |
sich viele Menschen Dinge nicht mehr leisten können, die vorher für sie zum | |
Leben dazugehörten. Ist das schon ein Verlust von Wohlstand? | |
Die [1][Kaufkraft der privaten Haushalte] dürfte laut Prognose des | |
Instituts für Wirtschaft im kommenden Jahr um 4,1 Prozent einbrechen – das | |
ist so stark wie noch nie im wiedervereinigten Deutschland. Ja, der | |
materielle Wohlstand wird zurückgehen, zumindest temporär. Und das besorgt | |
viele Menschen. Was ich aber leider beobachte, ist, dass eine ganz wichtige | |
Debatte, die schon ein bisschen in Gang gekommen war, wieder verschwindet, | |
nämlich: Wie lässt sich dieser Verlust an Wohlstand in anderen Bereichen | |
kompensieren? Wohlgemerkt, die Menschen, die [2][schon am Existenzminimum | |
kratzen], bei denen geht es darum, dass sie auch die materiellen | |
Bedürfnisse weiter befriedigen können. Aber gesamtgesellschaftlich müssen | |
wir fragen: Wie lässt sich die Umwelt, die gesellschaftliche Teilhabe, das | |
soziale Gefüge so stärken, dass es nicht mehr wichtig ist, ob das eigene | |
Smartphone wirklich das neueste ist? | |
Und wie kommen wir dahin? | |
Ich glaube, bei vielen Menschen ist tatsächlich ein größeres Bewusstsein | |
da, dass es nicht nur materiellen Wohlstand gibt. Aber der materielle | |
Aspekt ist sehr verwurzelt in unserem Denken. Das wird ganz besonders von | |
Entscheidungsträger:innen in Politik und Unternehmen gespiegelt: Oh | |
weia, Inflation steigt, Kaufkraft sinkt, wir müssen den Konsum ankurbeln! | |
Ich sehe aber gerade bei der [3][jüngeren Generation eine große | |
Bereitschaft], nicht in die Konsumfalle zu geraten. Denn da gibt es andere | |
Werte: Work-Life-Balance, nachhaltiger Konsum, Erfüllung im Leben. | |
Wie lässt sich diese Verhaftung vor allem der Älteren an das Materielle | |
lösen? | |
Wir messen, was wir schätzen. Aber andersherum gilt es auch: Wir schätzen | |
das, was wir messen. Wenn wir also hören: Das Bruttoinlandsprodukt ist | |
gesunken, dann kann das Sorgen auslösen. Wenn wir aber hören: Ein | |
Indikator, der beispielsweise den gesellschaftlichen Zusammenhalt misst, | |
die Gesundheit der Menschen und die Größe der Grünflächen, dieser Indikator | |
hat sich verbessert, dann verändert das auch die eigene Wahrnehmung | |
positiv. | |
Aber es ist doch längst nicht alles prima. | |
Und darüber darf und soll man auch sprechen. Die Frage ist, wie. Es gibt | |
von der Universität Oxford zum Beispiel einen interessanten Ansatz, der | |
sagt: Unternehmen haben nur dann eine Daseinsberechtigung, wenn sie mit | |
ihren Produkten oder Dienstleistungen Probleme lösen. Und nicht, wenn sie | |
neue schaffen. Und ich glaube, dieses Denken können wir in ganz viele | |
Bereiche mitnehmen: Schaffen wir mit unserem Denken, unseren Messwerten, | |
unseren Indikatoren neue Probleme? Oder begeben wir uns zumindest auf den | |
Weg, um Lösungen zu finden, und sehen Potenziale? Ich wünsche mir daher auf | |
gesellschaftlicher Ebene einen Diskurs darüber, was ein gutes Leben | |
eigentlich ausmacht und was wir dafür brauchen. In der Pandemie ist | |
beispielsweise vielen Menschen erst richtig bewusst geworden, wie wichtig | |
soziale Kontakte, Gesundheit und ein naturnahes Umfeld sind. Da sehen wir | |
schon: Einkommen ist ein Faktor – aber eben nicht der einzige. | |
Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat im Frühjahr gesagt, wir hätten den | |
Höhepunkt unseres Wohlstands wahrscheinlich hinter uns. Welche Wirkung | |
haben solche Aussagen? | |
Das ist natürlich [4][keine hilfreiche Aussage], weil sie ein überholtes | |
Denkmuster manifestiert, das Wohlstand über Einkommen, Vermögen, Besitz | |
definiert. Wenn wir da angeblich den Zenit erreicht haben, dann löst das | |
natürlich Ängste aus. | |
Macht die Bundesregierung es besser? | |
Immerhin gibt es [5][im Koalitionsvertrag] die Absicht, neue Indikatoren zu | |
entwickeln, die Wohlstand ganzheitlicher sehen. Ich hoffe sehr, dass da in | |
dieser Legislatur etwas kommt. | |
Wir sprechen jetzt aus einer privilegierten Perspektive – wie unterscheidet | |
sich die Wahrnehmung von Wohlstand zwischen verschiedenen Gesellschaften? | |
Unsere Forschung zeigt, dass grundlegende menschliche Bedürfnisse eben | |
nicht nur materielle Bedürfnisse sind, sondern auch soziale, | |
gesundheitliche und nachhaltige. Das gilt über Länder- und Kulturgrenzen | |
hinweg. Natürlich sind die Schwerpunkte verschieden, je nachdem, wo es | |
Defizite gibt. In Ländern, wo viele Menschen unter der Armutsgrenze leben, | |
ist es erst mal wichtiger, die materiellen Grundbedürfnisse zu befriedigen | |
als, beispielsweise, auf nachhaltigen Konsum zu schauen. Allerdings sind | |
die nichtmateriellen Aspekte – zum Beispiel das Gemeinwesen oder die | |
Nachhaltigkeit – in industrialisierten Nationen nicht zwangsläufig besser | |
als in ärmeren Ländern. Ein ganzheitlicher Blickwinkel kann daher die | |
Fragen von reich und arm überraschend verschieben. | |
Es gibt neben dem bekanntesten Indikator für Wohlstandsmessung – dem | |
Bruttoinlandsprodukt – weitere Indizes. Sie haben an einem Projekt | |
mitgearbeitet, das noch mal einen ganz neuen entwickelt hat. Braucht die | |
Welt noch einen Index mehr? | |
Die Frage ist berechtigt, aber ich denke: ja. | |
Aber der Happy Planet Index oder der Better Life Index gehen doch schon | |
weg vom Materiellen. | |
Das stimmt, aber auch bei ihnen geht es um Utilitarismus, also | |
Nutzenmaximierung. Im Sinne von: Je mehr ich von etwas habe, desto besser | |
geht es mir. Je mehr Menschen in der Gesellschaft also mehr haben, desto | |
besser geht es der Gesellschaft. Das ist aber ein Denkfehler: Gruppen sind | |
mehr als die Summe ihrer Mitglieder. Sie haben andere Dynamiken. | |
Zum Beispiel? | |
Man kann zum Beispiel nicht sagen: Je mehr soziale Kontakte, desto besser. | |
Es kommt auf die Qualität der Kontakte an. Unser Index enthält daher vier | |
Dimensionen. Erstens: materieller Wohlstand. Zweitens: das Gefühl, in einer | |
Gesellschaft eingebunden zu sein und dort auch gebraucht zu werden. | |
Drittens: die Möglichkeit, sich persönlich entfalten zu können, und | |
viertens der Zustand der Umwelt. Diese vier Punkte nehmen die realen | |
Bedürfnisse der Menschen in den Blick. Man kann sie messen und sich an den | |
Ergebnissen orientieren. | |
Komplexität ist allerdings auch immer schwer vermittelbar. Weil das Modell | |
mehrere Werte zeigt, sind etwa Ländervergleiche schwierig. | |
Ja, aber vier Dimensionen sind etwas, das sich noch darstellen lässt. Nicht | |
wie bei den [6][Zielen für nachhaltige Entwicklung] der Vereinten Nationen | |
beispielsweise, wo es 17 gibt. Und die Gefahr besteht, dass sich Akteure | |
diejenigen rauspicken können, die ihnen gerade ins Konzept passen. | |
Wenn wir jetzt sagen: Um ein neues Wirtschaften hinzukriegen, müssen wir | |
erst unser Verständnis von Wohlstand ändern – was sind dann die nächsten | |
Schritte? | |
Auf Ebene der G20 arbeiten Forscher:innen mit der Regierung in | |
Indonesien, die aktuell die Präsidentschaft innehat, an einem inklusiven | |
Ansatz, der das Wohlergehen messen soll. In der Abschlusserklärung des | |
T-20-Gipfels, eines Zusammenschlusses von Forscher:innen der G20-Länder, | |
steht ein schöner Absatz, der die Mitglieder dazu einlädt, Wohlstand | |
jenseits des Bruttoinlandsproduktes zu definieren, und die nationalen | |
Statistikbehörden aufruft, diese neuen Wohlstandsmaße auch tatsächlich zu | |
messen. Und wenn gleichzeitig der gesellschaftliche Diskurs wieder an Fahrt | |
aufnimmt, darüber, was ein gutes Leben ausmacht, dann passiert da was. | |
Genauso wie die Fridays-for-Future-Bewegung ein politisches Momentum | |
erzeugt hat durch Druck auf die Politik, können wir das auch schaffen, wenn | |
es darum geht, Nachhaltigkeit sozial und Soziales nachhaltig zu denken. | |
Wie lange wird es dann dauern, bis in der Tagesschau nicht mehr das | |
Bruttoinlandsprodukt vorkommt, sondern etwas anderes? | |
Ich glaube, wenn die Bewegung in Gang kommt, kann das sehr schnell gehen. | |
Ein Jahr halte ich für realistisch. | |
20 Nov 2022 | |
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[5] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/gesetzesvorhaben/koalitionsv… | |
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## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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