# taz.de -- Wildtiere im Rothaargebirge: Ein 900 Kilo schweres Problem | |
> Im Sauerland gibt es wilde Wisente. Die Region vermarktet sie als | |
> Attraktion, zugleich knabbern sie Bäume an. Ein Ortsbesuch. | |
Bild: Ja, sie verändern das Ökosystem. Aber wirklich nur zum Schlechten? Wise… | |
Die erste Spur findet Stefanie Argow am Nachmittag. Handtellergroß zeichnet | |
sich ein Hufabdruck im Gras zwischen Fichten und Ginsterbüschen ab. | |
fünfzehn Zentimeter lang, elf Zentimeter breit. Die Spur zeigt Argow und | |
ihren Begleitern, in welche Richtung sie weitersuchen müssen. Mit den | |
Augen auf das Trittsiegel gerichtet, das rechte Bein noch auf dem Weg, das | |
linke schon auf dem grasbewachsenen Hang, ruft Argow: „Hier haben wir was.“ | |
Zwischen den Fichten türmt sich ein olivbrauner Haufen verdautes Gras, fast | |
halb so groß wie Argows Tagesrucksack. Ein fester Klumpen. „Eindeutig | |
[1][Wisent]“, sagt ihr Begleiter Jörn Kaufhold, piekst mit einem Stock | |
hinein und kratzt die Oberfläche ab, um die Farbe im Inneren zu prüfen. Ein | |
moschusartiger Geruch steigt auf. „Der ist alt.“ Mindestens eine Woche, | |
vielleicht auch zwei liegt der Haufen bereits. | |
Stefanie Argow und Jörn Kaufhold sind professionelle Fährtenleser, so wie | |
die Scouts in Westernfilmen, die die Spur eines Reiters im ausgetrockneten | |
Flussbett suchen. Oder die Fährte einer Hirschkuh verfolgen, bis sie das | |
Tier mit einem Pfeil erlegen. Argow und Kaufhold jagen aber nicht, sie | |
bilden Wildbiologen im Spurenlesen aus oder unterstützen Wissenschaftler | |
im Monitoring. | |
Jörn Kaufhold lebt in der Slowakei. Er arbeitet als Spurenleser für | |
wissenschaftliche Projekte über Wölfe, Luchse und Bären in der Hohen und | |
Niederen Tatra. Er hat als Einziger von uns dreien schon Wisente in freier | |
Natur gesehen. Im Frühling 2018 hatte er sich im Dreiländereck | |
Slowakei/Polen/Ukraine fünf Tage lang auf die Fährte von Wisenten | |
geheftet und die Herde schließlich gefunden. Er kam so nahe heran, dass er | |
ein Kalb beim Säugen beobachten konnte. | |
Wir haben uns Mitte Dezember 2019 verabredet, um das Leben der Wisente im | |
Rothaargebirge zwischen Wittgensteiner Land und Hochsauerland in | |
Nordrhein-Westfalen zu erkunden. Lange vor Corona, lange bevor es | |
Reiseeinschränkungen gab. | |
## Der Oberbulle kommt zur Paarung | |
Ungefähr 25 Wisente ziehen nach Angaben des Vereins Wisent Welt | |
Wittgenstein hier über die Hügel, eine Mutterkuhherde und ein | |
einzelgängerischer Bulle. So wie Wisente eben leben, die Leitkuh mit | |
jüngeren Kühen und Kälbern, dann die Jungbullen in der Nähe und der | |
Oberbulle allein, er stößt nur zur Paarung zur Herde. | |
Die Bullen können bis zu drei Meter lang und 900 Kilo schwer werden, | |
Wisente sind damit die größten freilebenden Landsäugetiere Europas. Die | |
Wisente sind aber auch eine Touristenattraktion für die Region: Die Wisent | |
Welt Wittgenstein hat zudem ein Schaugehege mit acht Wisenten auf 20 Hektar | |
eingerichtet. Rund 35.000 BesucherInnen kommen nach Angaben des Vereins | |
jedes Jahr in die Wisent-Wildnis. | |
Wir wollen drei Tage lang den Fährten der wilden Wisente folgen. Wir | |
wollen wissen, was die Tiere fressen und wo sie schlafen, wohin sie sich | |
bewegen, ob sie sich an Bäumen schubbern oder nur auf dem Boden wälzen. | |
Zum Wir dieser Geschichte gehöre auch ich. Ich bin ebenfalls ausgebildete | |
Spurenleserin, und ich will wissen, wie viel die Zeichen in der Natur von | |
dem Konflikt erzählen, den die Wisente unter den Menschen ausgelöst haben. | |
Denn es geht auch um die Frage, wie viel Platz wir Menschen heute wilden | |
Tieren zugestehen, die lange vor uns in diesem Gebiet lebten. | |
Die Wisentfreunde streiten sich mit Waldbesitzern, Förstern, Jägern und | |
Lokalpolitikern, ob die Tiere frei herumlaufen dürfen. Es geht um | |
Weltanschauungen und unterschiedliche Interessen – und natürlich um Geld. | |
In Bad Berleburg im Wittgensteiner Land verdienen sie an Touristen, die die | |
„sanften Riesen im Wald“ (NRW-Tourismus-Marketing) sehen wollen. Oder | |
zumindest das Schaugehege besuchen. | |
Auf der gegenüberliegenden Seite in der Region und in Schmallenberg | |
verdienen Hoteliers, Restaurants und die Stadt am Wintersport, am Wandern | |
und mit „Seelenorten im Sauerland“. Bernhard Halbe, Bürgermeister von | |
Schmallenberg, fürchtet eine „völlige Veränderung des Ökosystems“ durch… | |
Wisente. | |
Tierfreund Prinz Richard zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg | |
Er will sie deshalb loswerden. Für Bernd Fuhrmann, Bürgermeister von Bad | |
Berleburg und Vorsitzender des Vereins Wisent Welt Wittgenstein, sind die | |
Tiere dagegen ein Touristenmagnet. Hinter den beiden Kontrahenten stehen | |
verschiedene Restaurant- und Hotelbesitzer, Förster Jäger, Waldbauern – | |
manchmal sind sie auch alles auf einmal. | |
Die Waldbauern und kommunalen Forstbesitzer rund um Schmallenberg klagen, | |
dass die Wisente ihre Bäume anknabbern, die Tiere fressen auch mal an der | |
Buchenrinde. In abgeschälte Buchenstämme könnten leichter Schädlinge | |
eindringen, klagen die Forstbesitzer. Sie fürchten, dass die Wisente den | |
Wald verändern. | |
Es war aber seinerzeit ein Waldbesitzer, der überhaupt dafür sorgte, dass | |
die Wisente wieder frei herumlaufen. Prinz Richard zu | |
Sayn-Wittgenstein-Berleburg stellte 4.000 Hektar seines Waldes für die | |
Auswilderung der Tiere zur Verfügung. Frei ziehende Wisente waren sein | |
Lebenstraum, er störte sich nicht an angebissenen Bäumen. Bis zu seinem Tod | |
2017 fütterte der passionierte Jäger die Herde im Winter ebenso wie | |
Hunderte von Rothirschen, um sie in seinen Wäldern zu halten. | |
Die Wisente im Rothaargebirge sind das, was die Wölfe in Brandenburg sind | |
– Projektionsfläche und Hassobjekt. Die Tiere stellen die Allmacht des | |
Menschen in der Landschaft infrage, nachdem Generationen von Förstern und | |
Bauern die Natur in wirtschaftlich nutzbare Fläche verwandelt haben. Mit | |
der Rinde, die die Tiere anfressen, knabbern sie auch am | |
Herrschaftsanspruch der Waldbauern, Förster, Jäger. | |
Dabei hat jeder größere Sturm im Rothaargebirge mehr Bäume gefällt, als die | |
Wisente je anfressen könnten. | |
Die Spuren der Wisente erzählen davon, welche Art Lebensraum sie in einer | |
fast vollständig wirtschaftlich genutzten Landschaft benötigen. Wisente | |
finden ebenso wie Wölfe, Luchse, Biber, Kormorane oder Fischotter ihre | |
ökologischen Nischen in dem von Menschen gestalteten Raum. Sie brauchen | |
keine reine Wildnis. Zurzeit überleben sie aber vor allem, weil | |
Artenschutzgesetze sie vor der neuerlichen Ausrottung schützen, weil die | |
Jagd auf sie verboten ist. | |
Wisente haben einst überall in Mitteleuropa gelebt. Auf dem Gebiet des | |
heutigen Deutschland rotteten Bauern und Jäger sie vor dem 17. Jahrhundert | |
aus. Den vorerst letzten frei lebenden Wisent in Europa töteten Jäger 1927 | |
im Kaukasus. Alle heute wieder in Europa lebenden 5.000 Wisente stammen von | |
12 damals in Gehegen gehaltenen Wisenten ab. | |
## „Anregung des Ökotourismus“ | |
„Wisente sind sehr anpassungsfähig, aber ihr idealer Lebensraum sind | |
halboffene Landschaften mit Waldinseln, Weiden, offenen Flusstälern“, sagt | |
Philip Schmitz, der als Biologe die Wisente im Rothaargebirge fünf Jahre | |
lang wissenschaftlich erforscht hat. Das Rothaargebirge sei aus | |
biologischer Sicht für Wisente geeignet, was sich einfach daran zeige, dass | |
„sie da leben und sich reproduzieren“. Die Wisente müssen die Forste, | |
Kahlschläge und Windwurfflächen dort gar nicht umbauen, sie bilden schon | |
einen guten Lebensraum für sie. | |
Im Rothaargebirge leben sie wieder seit dem 11. April 2013. Eine Herde von | |
acht Tieren wurde an diesem Tag freigelassen. Mehr als die heute 25 Tiere | |
dürfen es laut Vertrag des Vereins über die Auswilderung auch nicht sein. | |
2013 hatte das Bundesumweltministerium die Freilassung als regionale | |
Tourismusentwicklung finanziert. | |
515.000 Euro zahlte der Bund für die Anschaffung von acht Tieren, für | |
Gatter und Auswilderung, weitere 378.000 Euro für eine wissenschaftliche | |
Begleitung des Projekts. Zuständig war damals das Bundesamt für | |
Naturschutz. Eine international geschützte Tierart legitimierte die | |
Förderung aus der Staatskasse. Man erhoffte sich einen „positiven Effekt | |
für die Regionalökonomie durch Anregung des Ökotourismus“, wie das | |
Bundesamt zur Begründung schrieb. | |
Die staatlichen Naturschützer erkannten in dem Projekt auch die Chance, den | |
Einfluss von großen Grasfressern auf Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen in | |
den wirtschaftlich genutzten Waldflächen zu beobachten. In der | |
Expertensprache klang das so: „Mit dieser Huftierart soll das Artenspektrum | |
an einheimischen Großherbivoren vervollständigt werden und die derzeit | |
unbesetzte ökologische Nische des Gras- und Raufutterfressers wieder | |
besetzt werden.“ | |
## Auf dieselbe Stelle pinkeln | |
Wisente fressen nicht nur kiloweise Gras, sie scheiden auch enorme Fladen | |
wieder aus und schaffen damit Lebensraum für jede Menge Mistkäfer. Außerdem | |
bauen sie wie Biber ihren Lebensraum langfristig um. Sie halten Wiesen im | |
Wald frei und schaffen Platz für Gräser und Kräuter. | |
Da die Bullen immer wieder auf dieselben Stellen pinkeln und sich darin | |
wälzen, schaffen Wisente Mikrohabitate, auf denen mehr Kräuter und Gräser | |
wachsen als anderswo und in denen sich Insekten und Frösche wohl fühlen. | |
Die wilden Rinder steigern die ökologische Vielfalt, wie Studien in den | |
großen Wisentgebieten wie dem Białowieża-Urwald zwischen Polen und | |
Weißrussland zeigen. | |
Juristisch sind die Wisente artenschutzrechtlich geschützte Wildtiere im | |
Privatbesitz des Vereins Wisent Welt Wittgenstein, das hat der | |
Bundesgerichtshof im Juli 2019 festgestellt. Das Land Nordrhein-Westfalen | |
beteiligte sich mit 700.000 Euro an der Forschung. | |
Das Landesumweltministerium muss nun entscheiden, wie viel Platz die | |
Menschen im Rothaargebirge den Tieren abgeben sollen. Um den Streit | |
zwischen Wisentfreunden und Wisentgegnern zu schlichten, hat die Behörde | |
2019 einen Zaun im Landeswald vorgeschlagen. Die Wisente wären dann | |
inmitten landeseigener Fichten und Buchen eingegattert. | |
Zunächst waren 1.500 Hektar Landeswald im Gespräch, dann schrumpfte der | |
Raum auf 840 Hektar, seit einer Versammlung von Gegnern und Befürwortern | |
mit NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) im Februar 2020 sind | |
noch 505 Hektar vonseiten der Politik angedacht. | |
## 1.500 Hektar – mit Bauchschmerzen | |
Bisher streifen sie noch über das Zehnfache der Fläche, knapp 5.000 Hektar. | |
„Mit Bauchschmerzen und nur, weil die Situation so verfahren ist“, habe er | |
der ursprünglichen Zaunlösung mit 1.500 Hektar zugestimmt, erklärt Peter | |
Finck, Fachgebietsleiter Biotopschutz und Nationales Naturerbe beim | |
Bundesamt für Naturschutz, im März am Telefon. | |
Maximal drei bis fünf Jahre könne die Herde eingezäunt werden, dann stoße | |
der Artenschutz an die Grenzen seiner Glaubwürdigkeit. Der geplante Zaun | |
verschiebt die Entscheidung, wie die Tiere leben dürfen, damit lediglich in | |
die Zukunft. Das Problem, dass sie im Rothaargebirge wieder da sind, löst | |
er nicht. „Entweder werden sie dann frei lebende Wildtiere oder man fängt | |
sie alle wieder ein“, sagt Finck. | |
Fragwürdig ist, ob der Zaun überhaupt rechtlich zulässig ist und sich mit | |
dem europäischen Naturschutzrecht der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) | |
verträgt. Diese verbietet die Verschlechterung eines Habitats für | |
geschützte Arten, von denen es im Rothaargebirge auch Luchse und Wildkatzen | |
gibt. „Alle ins Auge gefassten Lösungen unterliegen zurzeit einer | |
FFH-Vorprüfung“, schreibt ein Sprecher von Umweltministerin Heinen-Esser | |
auf eine Anfrage der taz. | |
„In jedem Falle sind die Zaun-Lösungen so zu realisieren, dass alle | |
relevanten Arten außer Wisenten und Rothirschen die Flächen aufsuchen und | |
wieder verlassen können“, heißt es weiter. Der Ministeriumssprecher kündigt | |
an, die Herde zu verkleinern. „Im Weiteren wird zu prüfen sein, welche | |
Anzahl der Wisente für den geplanten Übergangszeitraum von drei bis fünf | |
Jahren für die Fläche tragfähig ist.“ | |
Am Ortseingang von Bad Berleburg stimmen naturgetreue Wisent-Skulpturen auf | |
die Attraktion der Stadt ein. Früher lebte der Ort von Krankenhausbetrieb | |
und Kneippkuren, doch nach der Gesundheitsreform blieben von den Kuren nur | |
die Schatten. | |
Die Stadt brauchte etwas, um ein neues Image nach dem Ende der | |
Kaltwasseranwendungen zu kreieren. Das Stadt- und Regionalmarketing baut | |
heute auf der „Wildnis am Rothaarsteig“ und den „sanften Riesen“ auf, d… | |
Wanderer mit etwas Glück in freier Natur sehen könnten. Die | |
NRW-Tourismus-Agentur vermarktet Pauschalreisen rund um die Tiere. | |
Stefanie Argow, Jörn Kaufhold und ich sind derweil weiter auf Spurensuche. | |
Die Oberkörper gen Boden gebeugt, können wir uns den Weg der Tiere nicht | |
zusammenreimen. Spurenlesen bedeutet, mit nüchternem, fast | |
wissenschaftlichem Blick die Zeichen zu erkennen und eine Geschichte | |
herauszulesen: Bissspuren an Buchenstämmen, Hufabdrücke auf dem Boden, | |
Liegestellen, Kotfladen. Es geht nicht um Hinweise oder um Ideen, sondern | |
darum, Fakten aus dem Matsch zu klauben und sich zu fragen, was sie | |
bedeuten. War das Tier allein? Wenn nicht, wie groß war die Gruppe? Wie alt | |
ist die Spur? | |
„Du kriegst es nicht hin, wenn du nicht bereit bist, etwas zu opfern“, sagt | |
Jörn Kaufhold, während wir am Waldrand einen Hang hinabgehen. „Viele | |
Kilometer, nasse Füße – irgendwas musst du geben, um belohnt zu werden und | |
die Tiere zu finden.“ Ein Grünspecht ruft. Wie Gelächter begleitet der Ruf | |
seine Flügelschläge zwischen den Buchen. Oberhalb der Baumkronen schreit | |
ein Mäusebussard. Die Buchen, vor 80 Jahren gepflanzt, stehen försterlich | |
geordnet. Unsere Stiefel sind nass, aber unsere Füße noch trocken, keine | |
Spur von einem Wisent. | |
Marketingexperte Michael Emmrich vertritt mit seiner PR-Agentur den Verein | |
Wisent Welt Wittgenstein. Die Vereinsmitglieder nennt er im Telefongespräch | |
„ein paar idealistische Menschen, die ihre karge Freizeit opfern“. Die | |
Mitglieder und der Vorstand – einschließlich des Bad Berleburger | |
Bürgermeisters Bernd Fuhrmann – zeigen sich zurückhaltend gegenüber den | |
Medien, deshalb spricht Emmrich für den Verein. | |
## Wisent schafft Öko-Vielfalt | |
Er betreut mit seiner PR-Agentur vor allem die zwei Wirtschaftszweige, die | |
früher und heute die Wirtschaft rund um Bad Berleburg beleben: | |
Gesundheitswirtschaft und Tourismus. Er sponsert mit der Agentur die Wisent | |
Welt. Trotz seiner wirtschaftlichen Verflechtungen kennt er nach eigenen | |
Angaben aber weder die Umsätze noch den Gewinn, den die Wisente der | |
regionalen Tourismuswirtschaft bringen. | |
„Das Schaugehege ist eine lokale Attraktion“, sagt hingegen Naturschützer | |
Finck, der das Projekt von Beginn an für das Bundesamt für Naturschutz | |
betreut. „Der touristische Projektansatz ist richtig gut aufgegangen.“ | |
Das macht ihn nicht weniger streitbar. Mehrere Waldbauern haben bis zum | |
Bundesgerichtshof geklagt. Bei ihren Streifzügen richten die Wisente in den | |
Forsten der Kleinwaldbesitzer wirtschaftliche Schäden an. Die werden aus | |
einem eigens dafür eingerichteten Fonds entschädigt. | |
„Man möchte nicht entschädigt werden“, sagt Bernhard Halbe, Bürgermeister | |
von Schmallenberg, über die Waldbauern seiner Gemeinde am Telefon. Jene | |
wollten die 80 oder 100 Jahre alten Buchen und Fichten ernten und das Holz | |
verkaufen. | |
Noch ein Anruf. Philipp Freiherr Heereman ist am Telefon. Er ist | |
Vorsitzender des Waldbauernverbands Nordrhein-Westfalen, der auch die | |
Privatforstbesitzer im Sauerland und in Schmallenberg vertritt. | |
In dieser Funktion arbeitet er ebenso wie Bürgermeister Halbe in der | |
Koordinierungsgruppe aus Wisentfreunden und Wisenkritikern, die den Streit | |
schlichten und eine Lösung für das Dilemma finden soll. Ihr für Ende März | |
angesetztes Arbeitstreffen haben sie wegen Corona abgesagt. „Uns geht es | |
nicht um einen Baum“, sagt Heereman. „Wir sorgen uns um die Zukunft des | |
Waldes, wenn die Wisente sich selbst ihr Biotop schaffen.“ | |
Unstrittig ist, dass Wisente langfristig einen Naturraum verändern und ihre | |
Umgebung gestalten. „Die Wisente zerstören nicht ihren Lebensraum, sie | |
verändern ihn und bauen den Wald um“, sagt Kaja Heising, Wildtiermanagerin | |
und wissenschaftliche Koordinatorin des Wisentprojekts, dazu. „Der Wisent | |
würde auf lange Sicht eine mosaikreiche Landschaft mit vielen verschiedenen | |
Habitaten schaffen.“ | |
Aber gerade das wollen die Waldbauern und Forstbesitzer nicht, sie haben | |
das gesamte Rothaargebirge doch als Fichten- und Buchenforst angelegt. | |
Zwischendrin hektargroße Weihnachtsbaumplantagen. | |
Wisente stören diese menschgemachte Ordnung und den Alleinanspruch auf den | |
Naturraum. Waldbauernvorsitzender Heereman selbst findet die Wisente | |
„faszinierend“. Er fasst den Konflikt so zusammen: „Die richtigen Tiere im | |
falschen Biotop.“ | |
## Es riecht nach Rind und Moschus | |
Den ganzen Vormittag laufen wir durch raureifbesetztes Gras und über nassen | |
Waldboden, bewegen uns einen Hang herunter. Wir folgen einem Plan, den wir | |
am Abend zuvor gemacht haben. Zwei Stunden haben wir Landkarten und | |
Satellitenbilder der Gegend studiert. Wir haben beschlossen, bei | |
Sonnenaufgang zunächst einer der Forststraßen entlang des Rothaarkamms zu | |
folgen und von dort in südöstlicher Richtung am Rand eines Fichtenforsts | |
und einer offenen Fläche den Hang hinabzugehen. Wisente hätten dort beides: | |
den Schutz des Waldes und eine Wiese, denn sie grasen ja wie Kühe. | |
Zwischen Waldwiese und Forst kreuzen Rehe unseren Weg. Rothirsche kommen | |
vorbei, ein Fuchs läuft längs. Wir folgen einem Wildtierpfad zwischen den | |
25 Meter hohen Fichten, deren Kronen nach zwei Dürresommern noch grün sind. | |
Der bald erntereife Forst grenzt an eine Schonung, in der die Fichten | |
dichter zusammenstehen, als Menschen in der Corona-Epidemie beisammen sein | |
dürfen. | |
Eine freie Fläche öffnet sich zwischen Fichtenkulturen und einem Hain, in | |
dem der Besitzer mal was mit Birken probiert hat. Am oberen und unteren | |
Ende der rechteckigen Freifläche steht ein Hochsitz. Jagende Forstbesitzer | |
legen solche baumlosen Flächen an, um dort grasende Hirsche oder Rehe zu | |
schießen. Von den Wisenten fehlt zunächst aber jede Spur. | |
Nachdem Stefanie Argow den ersten Hufabdruck und Fladen eines Wisents | |
gefunden hat, sehen wir die Spuren überall inmitten einer Fichtenschonung. | |
Alle Spuren sind älter, die Herde ist hier schon vor Tagen durchgezogen. | |
Wisente legen drei, vier Kilometer innerhalb eines Tages zurück. Wir folgen | |
der Fährte in flottem Schritt. Nach acht Kilometern quer über die Hügel | |
finden wir auf einer Hochebene am Zaun einer Weihnachtsbaumplantage einen | |
saftigen grünen Haufen. Er riecht nach Rind und Moschus und zeigt uns, dass | |
wir den Tieren näher kommen. | |
Ein Wisentpfad hinein in einen Kahlschlag bestätigt unsere Beobachtung, | |
dass Flächen mit hohem Gras, weit auseinanderstehenden jungen Fichten und | |
mal einem Ginsterbusch bei den Wisenten beliebt sind. Immer wieder finden | |
wir auf den zahlreichen Kahlschlägen und Windwurfflächen, auf denen Stürme | |
die Fichtenplantagen umgeworfen haben, Hufabdrücke, Fladen und Liegestellen | |
der Wisente. Auf einer Grasmatte drücken sich die Gelenke eines Wisents ab, | |
dort, wo das Tier sich hingelegt hatte. | |
Die Tiere nutzen die Flächen, die ihnen die vom Menschen geschaffene Umwelt | |
bietet. So wie die abgeernteten Fichtenforste, die ihre Besitzer so lange | |
nicht aufgeforstet haben, dass mittlerweile hartes Reitgras den Boden | |
bedeckt und jede Naturverjüngung mit den Samen von Ahornen, Birken oder | |
Eicheln verhindert. | |
Die Wisente brauchen die Wildnis nicht, die ihnen das Marketing andichtet. | |
Sie bauen aber auch den Forst nicht um, sondern nutzen die von Menschen | |
geschaffenen Mosaike in der Landschaft. | |
## Ginster und Gräser | |
Spuren führen in einen Buchenwald. Ein Tier mit großen Füßen und langen | |
Beinen hat die dicht liegenden Buchenblätter in regelmäßigen Abständen | |
aufgewirbelt und eine Spur von dunklen, noch feucht wirkenden Abdrücken im | |
Laub hinterlassen. Wir sehen die Abdrücke die Böschung hinuntergehen und | |
folgen ihnen. | |
Bis über die Knöchel sinken wir ins Laub, gehen auf der Fährte durch den | |
Buchenwald den Hang hinab. Zwei, drei Mal sehen wir, wie ein Huf sich in | |
die Erde unter den Blättern gedrückt hat. Das Tier lief hier zielstrebig | |
Fuß in Fuß, ganz in seinem natürlichen Rhythmus. | |
Wir steigen über heruntergefallene Äste, durchqueren Senken, folgen der | |
Spur den Hang hinab. Jäh endet der Wald an einer Böschung, die der Wisent | |
ebenso gleichmäßig durch die Büsche hinabgestiegen ist. Schritt für Schritt | |
ist er auf einer Forststraße weitergegangen, in einen grasbewachsenen Weg | |
zwischen zwei Fichtenschonungen eingebogen. | |
Wir bleiben auf seiner Fährte, Adrenalin rauscht durch unsere Blutbahnen. | |
So nahe waren wir noch keinem Wisent in den vergangenen Tagen. Die Fährte | |
führt über eine rechteckige Wiese inmitten der Fichten, an zwei Seiten | |
stehen Hochsitze. Die Spur führt in die mit Gras, Büschen und mannshohen | |
Fichten bewachsene Schonung. | |
Die Äste verzweigen sich, Brombeerranken, harter Ginster, verfilzte Gräser | |
erschweren den Weg. Wir zögern, der Fährte weiter zu folgen. Wenn der | |
Wisent dort im Dickicht steht, wir ihn überraschen oder ihm zu nahe kommen, | |
könnte es gefährlich werden. Wir wollen kein Risiko eingehen, umrunden die | |
Schonung, gehen auf dem Forstweg weiter. Keine Spur führt aus der Schonung | |
hinaus. Wir haben einen Wisent gefunden. Auch wenn wir ihn nicht sehen. | |
Während unserer Spurensuche haben wir auch die Bissspuren gesehen, über | |
die sich die Waldbauern und Wisentfreunde streiten. Wir haben aber keine | |
Beweise dafür gefunden, warum es so dramatisch sein soll, einer Herde | |
Pflanzenfresser ein paar Kahlschläge und Windwurfflächen zu überlassen. Die | |
Landschaft erzählt davon nichts. Nur die Menschen am Telefon sprechen von | |
den Schäden. | |
Mitarbeit: Stefanie Argow und Jörn Kaufhold | |
24 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Wisente-vor-Gericht/!5551649 | |
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Ulrike Fokken | |
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