| # taz.de -- Wie verstrickt war Ulli Blobel?: Die Liebe der Stasi zum Jazz | |
| > Ulli Blobel war ein wichtiger Akteur in der Jazzszene der DDR. Doch eine | |
| > Stasi-Akte wirft einen dunklen Schatten auf sein musikalisches | |
| > Vermächtnis. | |
| Bild: Wie weit reichte die geistige Freiheit? Peitz-Festival 1982 | |
| Ulli Blobel ist in Jazzkreisen eine Legende. In Büchern und Feuilletons | |
| wird der 73-Jährige als zentrale Figur [1][der DDR-Jazzgeschichte] | |
| beschrieben, die nicht nur Generationen von ostdeutschen Jazzfans die | |
| Bewusstseinshorizonte erweitert hat, sondern mit der Jazzwerkstatt Peitz | |
| einen Ort des „Freiheitspathos“ und „Nonkonformismus“ verkörperte, wie… | |
| FAZ kürzlich schrieb; eine Anomalie der antiautoritären musikalischen und | |
| geistigen Freiheit mitten im repressiven Überwachungsstaat. | |
| Dieses Jahr werden Blobel und die Jazzwerkstatt Peitz, die er zusammen mit | |
| Peter „Jimi“ Metag gründete, von der Deutschen Nationalbibliothek zum 35. | |
| Jubiläum der friedlichen Revolution geehrt, die Jazzwerkstatt habe „einen | |
| […] bislang nicht hinreichend gewürdigten Beitrag zur Geschichte des Jazz | |
| in der DDR geleistet“ und „das Potenzial von Instrumentalmusik als Medium | |
| des Widerstands gegen staatlich verordnete Kulturpraktiken und ideologische | |
| Beschränkungen aufgezeigt“, heißt es zur Begründung. | |
| „Antiautoritär“, „geistige Freiheit“, „Widerstand“. Hehre Worte. A… | |
| gibt da ein Problem: Es existiert nämlich eine umfangreiche Stasiakte mit | |
| dem Decknamen IM Thomas, die Ulli Blobel zugeschrieben wird, und sie | |
| erzählt eine andere Geschichte. | |
| Bei so viel Berichterstattung und Dokumentation zur Jazzwerkstatt Peitz ist | |
| es kurios, dass dieser Teil der mit Ulli Blobel verbundenen biografischen | |
| Materialien in Deutschland bisher kaum mediale Erwähnung findet. Wenn | |
| überhaupt, dann wurde er nur in akademischen Journalen angesprochen, und | |
| zwar ausschließlich in Bezug auf ein Buch der in Westdeutschland geborenen | |
| und in den USA lebenden Musikwissenschaftlerin Helma Kaldewey. | |
| Sie hat einen kleinen, aber wichtigen Teil ihres 2020 auf Englisch | |
| erschienenen Werks „A People’s Music: Jazz in East Germany, 1945–1990“ | |
| (Cambridge University Press) Blobels IM-Tätigkeit gewidmet. | |
| ## Dutzende Berichte über die Jazzszene | |
| Eine IM-Tätigkeit, die acht Jahre angedauert haben soll: von der | |
| eigenhändig geschriebenen Verpflichtungserklärung als IM Thomas im Jahre | |
| 1973 über Dutzende, zum Teil eigenhändig verfasste Berichte über die | |
| Jazzszene, etwa viele Westkontakte, bis zum Stasi-Abschlussbericht 1981. Zu | |
| diesem Zeitpunkt wurde die Zusammenarbeit aufgrund zunehmender | |
| Unzuverlässigkeit des IM Thomas beendet. | |
| Laut Kaldewey war Blobels IM-Verpflichtung und langjährige Zusammenarbeit | |
| mit der Stasi nicht nur eine von vielen notwendigen Bedingungen in der | |
| Entstehung der Jazzwerkstatt Peitz, sondern stellte zudem die Basis der | |
| Freiheit dar, die Blobel in seiner außergewöhnlich internationalen | |
| Veranstaltertätigkeit genossen hat: „So klein seine Unterschrift auch war, | |
| dieser ‚Vertrag‘ gab Blobel einen Freibrief für seine großen Ambitionen u… | |
| ermöglichte es ihm, im Laufe des nächsten Jahrzehnts ein beispielloses | |
| internationales Musikförderungsgeschäft aufzubauen, das die kleine Stadt | |
| Peitz zu einem Ort von legendärem Ruf in der Geschichte des DDR-Jazz machen | |
| sollte.“ | |
| Die akribisch recherchierte und international geschätzte Studie „A People’s | |
| Music“ nimmt die Akte von IM Thomas nicht als Hauptthema. „Es gibt viel | |
| interessantere Aspekte zum Thema Jazz in der DDR“, beantwortet Kaldewey | |
| eine E-Mail-Anfrage der taz. Da hat sie nicht unrecht. Und trotzdem spielt | |
| die Tätigkeit von IM Thomas eine wichtige Rolle in Kaldeweys Neudeutung im | |
| Narrativ über die Entwicklung der Beziehung des SED-Staats zum Jazz. | |
| Darüber hinaus stehen die Akte und die Thesen Kaldeweys auch zum Teil in | |
| starkem Kontrast zur bisherigen Rezeption von Blobel und der Jazzwerkstatt | |
| Peitz. | |
| Deren kulturelle Bedeutung ist unbestritten. Vor dem Verbot durch den | |
| SED-Staat 1982 galt Peitz neun Jahre lang als Insel des progressiven Free | |
| Jazz und der improvisierten Musik in Osteuropa. Im tiefsten Brandenburg | |
| haben sowohl die wichtigsten Akteure der DDR-Jazzszene wie [2][Günter | |
| „Baby“ Sommer,] Ernst Ludwig Petrowsky, Conny Bauer und Uschi Brünning | |
| gespielt als auch radikale Westdeutsche wie Peter Kowald und [3][Peter | |
| Brötzmann,] die Briten Evan Parker und Paul Lovens, der südafrikanische | |
| Schlagzeuger Louis Moholo, der in Westberlin lebende schwedische | |
| Schlagzeuger Sven-Åke Johansson – und viele andere mehr. | |
| ## Eine gut gepflegte Beziehung zur Stasi | |
| Auch eigentlich verbotene deutsch-deutsche Kollaborationen, etwa das | |
| Sommer-Winter-Duo von Peter Kowald (West) und Schlagzeuger Gunter Sommer | |
| (Ost), kamen dort zustande. Unter den Ohren und Augen der Stasi. | |
| Unglaublich. | |
| Gute 27 Jahre, nachdem er 1984 mit einem Ausreiseantrag die DDR für immer | |
| verließ, hat Ulli Blobel sein Festival 2011 zusammen mit dem | |
| Jazzwerkstatt-Mitgründer Peter Metag wieder ins Leben gerufen. 2023 hat es | |
| sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert. Für die Ausgabe im August 2024 | |
| übernimmt Ulli Blobels Tochter Marie Blobel die Leitung und will die | |
| Jazzwerkstatt in die Zukunft lenken. Sie ist selbst eine bekannte | |
| Jazzkuratorin. | |
| Doch das kulturpolitische und historische Vermächtnis ihres Vaters ist | |
| etwas trüber. Die Stasiakte des IM Thomas umfasst 1.128 Blätter, von denen | |
| etwas weniger als ein Viertel einzusehen sind und einiges geschwärzt | |
| bleibt. Die Akte zeugt nicht nur von einer langjährigen, gut gepflegten | |
| Beziehung zur Stasi, die durch regelmäßige Treffen und Berichte gehalten | |
| wird, sondern enthält auch Berichte von anderen IMs in der Jazzszene über | |
| Blobel. Überwachung der Überwachenden war für die Stasi ein wichtiger | |
| Kontrollmechanismus, um den Wahrheitsgehalt der Information zu überprüfen – | |
| und damit auch ihre Umgebung im Griff zu halten. | |
| Worauf Kaldewey in ihrer Studie weniger eingeht: In anderen Teilen der Akte | |
| steht sehr wohl, dass IM Thomas seine Skrupel in der Personenbelastung | |
| abgelegt haben soll und intensiver an verschiedenen „Zielen“ arbeitete – | |
| darunter ein für die Stasi interessanter Westkontakt. In einem weiteren | |
| Bericht ist zudem die Belastung eines Veranstaltungskonkurrenten durch IM | |
| Thomas belegt. | |
| So entsteht das Gesamtbild einer Person, die ihre engen Kontakte | |
| weitestgehend schützen will, aber gelegentlich Gegner und sonstige | |
| Hindernisse ins Auge fasst, etwa Störenfriede beim Festival und Rivalen im | |
| Kreis der Konzertveranstalter. Aber wie ist die Akte insgesamt zu bewerten? | |
| ## Nur eine Phantasiegestalt? | |
| „Wer ein IM Thomas war, weiß ich nicht. Ich vermute, es war eine | |
| Phantasiegestalt der Stasi selbst. Werbungen für den | |
| Staatssicherheitsdienst, über Musiker, über Personen im Publikum oder über | |
| ausländische Kontakte zu berichten, lehnte ich immer mit Nachdruck ab“, | |
| schrieb Ulli Blobel vor Kurzem in einem offenen Brief an das renommierte | |
| Magazin German Studies Review der Johns Hopkins University, nachdem eine | |
| deutschsprachige Rezension des Buchs „A People’s Music“ erschienen war, d… | |
| teils online einzusehen ist. | |
| Vom Buch selbst hält Ulli Blobel offensichtlich auch nicht viel: „Im | |
| Übrigen erscheint mir die wissenschaftliche Erkenntnis auf sehr niedrigem | |
| Niveau, auf dem eines Vorabiturienten zu liegen.“ | |
| An einem sonnigen Frühlingstag sitzt Ulli Blobel neben Tochter Marie Blobel | |
| auf seinem Balkon in Berlin-Tiergarten und schüttelt den Kopf. Die Musik | |
| von US-Saxofonist Lee Konitz fließt sanft aus der Stereoanlage im | |
| Wohnzimmer und vermischt sich mit Vogelgezwitscher. „Ich kenne ja alle | |
| Leute in der Aktenbehörde, und ich habe gesagt, wenn es was Interessantes | |
| gibt, schickt’s mir doch mal“, sagt er betont lässig. | |
| In den Dokumenten, die Blobel angeblich zugeschickt bekommen hat, sieht er | |
| viele Lügen und Ausgedachtes – nur den Abschlussbericht über seine | |
| Unzuverlässigkeit als Informationsquelle, den wertet er positiv. Vehement | |
| leugnet Blobel nicht nur die Echtheit der angeblich eigenhändig | |
| geschriebenen Verpflichtungserklärung, sondern auch, dass er überhaupt | |
| jemals unter dem Decknamen IM Thomas für die Stasi tätig gewesen sei. | |
| Auf dem Balkon holt er gegen Kaldewey aus: „Das ist ein sehr schlechtes | |
| Buch, sehr schlecht recherchiert. Was sie da von mir schreibt, kann nur | |
| jemand schreiben, der nicht aus dem Osten kommt. Denn wer im Osten was | |
| aufgebaut hat oder was Kulturelles gemacht hat, musste mit dem | |
| Staatsapparat zusammenarbeiten.“ | |
| ## Peitz als oppositioneller Ort | |
| Blobel gibt zwar zu, sich mit der Stasi getroffen zu haben, um Konzerte | |
| durchführen zu können – mindestens hundert Mal, schätzt er. An seinem | |
| antiautoritären Ruf und der bisherigen Lesart der Jazzwerkstatt Peitz als | |
| eines oppositionellen Orts hält er mit Nachdruck fest. „Die Legende sagt ja | |
| oft: Peitz ist verboten worden wegen der Musik. Die Jazzwerkstatt ist nicht | |
| verboten worden wegen der Musik, sondern wegen uns. Weil wir nicht | |
| einzufangen waren.“ | |
| Durch einen Anwalt teilt Blobel der taz später mit, dass er zu keiner Zeit | |
| eine Verpflichtungserklärung abgegeben habe. Die wohl in seiner Stasiakte | |
| befindliche Verpflichtungserklärung sei nicht durch ihn verfasst worden; er | |
| habe zu DDR-Zeiten keine Konkurrenten sowie Veranstalter für die Stasi | |
| ausgespäht und sich so keinen entsprechenden Wettbewerbsvorteil verschafft. | |
| Richtig sei nur, dass es damals notwendig war, als Künstler mit der Stasi | |
| zusammenzuarbeiten. | |
| Diese Zusammenarbeit habe er zu keiner Zeit zur Vorteilsverschaffung | |
| gegenüber Konkurrenten oder anderen Künstlern missbraucht. Vielmehr sei sie | |
| für ihn ein notwendiges Übel gewesen. Er sei von der Staatssicherheit dazu | |
| aufgefordert worden, habe es jedoch nicht getan. | |
| Blobel legt weiter Wert darauf, dass er nicht geäußert habe, dass seine | |
| Akte der Stasi gefälscht sei. Da er den gesamten Inhalt der Akte gar nicht | |
| kenne, könne er hierzu keine Stellung nehmen. Er bestreite nicht, mit der | |
| Stasi zusammengearbeitet zu haben. Er stehe zu seiner Zusammenarbeit mit | |
| der Staatssicherheit und begründet diese mit der Notwendigkeit, dass | |
| Veranstalter stets mit den entsprechenden Behörden eines Landes, in dem sie | |
| wirken, zusammenarbeiten müssten. So sei es auch in der DDR gewesen, in der | |
| er als Veranstalter tätig war und darum notwendigerweise auch mit der | |
| Staatssicherheit zusammenarbeiten musste. So weit die Anwaltspost. | |
| ## Ende der finanziellen Autonomie | |
| Laut den Berichten in der Akte von IM Thomas – und somit der Interpretation | |
| Kaldeweys – hat sich Ulli Blobel aus Wut 1981 entschieden, mit der Stasi | |
| nicht mehr zu kooperieren, weil sie ihm verwehrte, zu zwei Konzerten in den | |
| Westen zu reisen. Die Folge war laut Kaldewey die Beendigung der | |
| finanziellen und organisatorischen Autonomie durch die Stasi. Es folgte ein | |
| Audit wegen verschiedenster Arten von Betrug im Bezug auf die Finanzen | |
| seiner Veranstaltungen – Praktiken, die in der Akte von IM Thomas gut | |
| belegt werden und von der Stasi zunächst toleriert wurden, bis IM Thomas | |
| sich nicht mehr kooperativ zeigte. | |
| Dieser Erklärung verweigert sich Blobel. „Jimi Metag und ich waren nie in | |
| einer Gewerkschaft oder in irgendeiner politischen Vereinigung. Niemals. | |
| Und die konnten uns einfach keine Befehle geben. Und deswegen ist es | |
| verboten worden, als es zu groß wurde – und als die Friedensbewegung in | |
| Ostberlin aufkam, Schwerter zu Pflugscharen, in dieser Bewegung waren wir | |
| aktiv! Und das war der Stasi suspekt. Und deswegen wurde es verboten.“ | |
| Wie wahrscheinlich ist es, dass wichtige Teile der Stasiakte von IM Thomas | |
| verfälscht wurden? „Null Prozent. Punkt.“ Das sagt der aus Ostberlin | |
| stammende DDR-Historiker und Jazzfan [4][Ilko-Sascha Kowalczuk,] ohne zu | |
| zögern. Kowalczuk war über viele Jahre Projektleiter in der | |
| Forschungsabteilung der Stasiunterlagenbehörde. | |
| Er hat nach eigenen Angaben Tausende Akten eingesehen und auch eine Studie | |
| über angeblich gefälschte MfS-Akten durchgeführt. Diese hat ergeben, dass | |
| nur ganz wenige IM-Akten, weniger als ein Dutzend von Hunderttausenden, | |
| gefälscht worden waren. Und die hat die Stasi alle selbst enttarnt. | |
| ## Gefälschte Akten führten zur Entlassung | |
| Stasiakten waren als Arbeitsunterlagen der Mitarbeiter und für die Arbeit | |
| angelegt, nicht für nachträgliche Forschungen. Daher war die Stasi daran | |
| interessiert, dass sie realistisch und möglichst wahrheitsgetreu geführt | |
| wurden. Unentwegt überprüften Vorgesetzte die Aktenführung. Niemand ist so | |
| intensiv überwacht worden von der Stasi wie Stasimitarbeiter selbst, sagt | |
| Kowalczuk. 24 Stunden jeden Tag ihr ganzes Leben. Lügen wurden streng | |
| bestraft; gefälschte Akten konnten zur Entlassung führen. Verlässliche | |
| Information und die Ausnutzung dieser zu Kontrollzwecken war das | |
| Kerngeschäft. | |
| Im Fall der Akte über IM Thomas erklärt Kowalczuk das so: „Bei dieser Akte | |
| war der Zeitraum viel zu lang, über den sie angeblich gefälscht worden | |
| wäre. Berichte und Überwachungsstruktur der Stasi sprechen dem ganz | |
| eindeutig entgegen. Es gibt auch keine internen Widersprüche. Das ist von | |
| Blobel eine Schutzbehauptung, eine unsinnige zumal. Es ist eine typische | |
| Akte aus dem Kulturbereich, wo ein IM zeitweise mit der Stasi redet in der | |
| Hoffnung, für seine Arbeit oder seine Projekte Unterstützung von der Stasi | |
| zu erhalten.“ | |
| Diese Einschätzung stützt die Forschungsergebnisse Kaldeweys, in denen | |
| Blobel nicht als böser Agent, sondern als Opportunist auftaucht. So ist aus | |
| der Perspektive Kowalczuks Ulli Blobels Dementi von zentralen Aspekten der | |
| Akte nicht verständlich: „Das ist keine Akte eines IM, der unentwegt | |
| moralisch zu verurteilende Arbeit geleistet hat. Er hätte die Wahrheit | |
| sagen können, und niemand würde es ihm übel nehmen – klar mussten solche | |
| Sachen wie in Peitz auf allen Ebenen abgesichert werden. Aber jetzt glaube | |
| ich Blobel gar nichts mehr. Er schadet nicht nur sich – völlig unnötig –, | |
| sondern auch dem Ruf von Peitz! Free Jazz liebte ich in der DDR, weil er | |
| der perfekte Ruf nach Freiheit, der ideale Ausdruck von Freiheit in der | |
| Diktatur war. Und nun das!“ | |
| ## Das Vermächtnis der Musik | |
| „Ich kenne andere antiautoritäre Leute, die auch für die Stasi gearbeitet | |
| haben oder Verpflichtungserklärungen unterschrieben haben“, sagt Thomas | |
| Krüger im Café des Charlottenburger Literaturhauses. Der langjährige | |
| Blobel-Vertraute und [5][Präsident der Bundeszentrale für politische | |
| Bildung,] die den ersten Teil der von Ulli Blobel herausgegebenen | |
| Bücherreihe „Woodstock am Karpfenteich“ publiziert hat, wirkt gelassen, | |
| obwohl er weder die Stasiakte von Ulli Blobel noch den Inhalt von „A | |
| People’s Music“ kennt. | |
| Er sagt jedoch, dass diese nicht zwingend mit dem bisherigen Ruf des | |
| Festivals und seinem ehemaligen Leiter unvereinbar seien. Eine historische | |
| Umdeutung der Jazzwerkstatt Peitz und der Arbeit von Ulli Blobel aufgrund | |
| der neuen Erkenntnisse? Die sieht Krüger eher skeptisch. | |
| Wichtig bleiben für ihn die historische Einzigartigkeit, Erlebnisse von | |
| Zuschauern und das Vermächtnis der Musik, die bei der Jazzwerkstatt Peitz | |
| gespielt wurde – unabhängig von einer möglichen IM-Tätigkeit Ulli Blobels: | |
| „Das, was dort erlebt worden ist von den Leuten, die Musik, die dort | |
| gespielt worden ist, bleibt von so einem Vorwurf – ob es nun wahr ist oder | |
| nicht wahr – unberührt.“ | |
| Das stimmt. Was aber nicht unberührt bleibt, ist die größere Geschichte | |
| drumherum – ein Vermächtnis, zu dem die Bundeszentrale für politische | |
| Bildung maßgeblich beigetragen hat. Deshalb wirkt Krügers anfängliches | |
| Desinteresse an einer Ergänzung der bisherigen historischen Dokumentation | |
| der Jazzwerkstatt Peitz so verwunderlich. So sieht er keine Notwendigkeit | |
| einer zusätzlichen medialen Kontextualisierung auf der Website der | |
| Bundeszentrale oder gar einer Änderung zum ersten Band von „Woodstock am | |
| Karpfenteich“ angesichts des Inhalts der Stasiakte von IM Thomas. | |
| Auch die Forschungsergebnisse von „A People’s Music“ scheinen Krüger egal | |
| zu sein. Kaldeweys Buch werde „nicht so richtig ernst genommen. Aber ich | |
| kann’s schlecht beurteilen, ich habe es nicht gelesen.“ Teil eins von | |
| „Woodstock am Karpfenteich“ sei eh vergriffen, eine Neuauflage nicht | |
| geplant. Nur wenn er valide, überprüfbare Ergebnisse zu dem Thema hätte, | |
| würde er gern mit Ulli Blobel ein Interview führen – idealerweise zusammen | |
| mit einem Zeitgeschichtler, denn „das gehört zur Seriosität dazu, um nicht | |
| drum herumzureden“. | |
| ## Chancen vor Gericht gleich null | |
| Ulli Blobel hat nun angekündigt, eine grafologische Überprüfung der aus der | |
| Akte von IM Thomas stammenden Verpflichtungserklärung durchführen zu | |
| lassen, um zu beweisen, dass es nicht seine Handschrift sei. Dies wäre aber | |
| nicht der einzige eigenhändig verfasste Bericht in seiner Akte. | |
| Die meisten stammen aus Teil zwei der Akte, dem Berichtsteil, zu dem | |
| Blobel, weil er von der Behörde als Mitarbeiter der Stasi eingestuft wurde, | |
| laut Stasiunterlagengesetz der Zugang streng untersagt wird, um eventuelle | |
| Opfer zu schützen. Er darf nur in Teil eins, die von der Stasi geführte | |
| Personalakte, Einsicht nehmen. Aber es steht ihm natürlich frei, mithilfe | |
| eines Rechtsanwalts gegen die Einstufung als IM zu klagen. | |
| Nach Kowalczuks Dafürhalten stehen Blobels Chancen, damit vor Gericht zu | |
| gewinnen, bei null. Nichtsdestotrotz scheint die Neudeutung der Ereignisse | |
| in der Jazzwerkstatt Peitz von 1973 bis 1981 durch „A People’s Music“ nic… | |
| in allen Punkten den bisherigen Perspektiven zu widersprechen. Vor allem | |
| die historische Bedeutung der Musik, die dort in jenen Jahren live gespielt | |
| wurde, und ihr anhaltender Einfluss auf eine Generation ostdeutscher | |
| Musiker und Zuhörer:innen ist unbestreitbar. Ulli Blobel hat für den | |
| Jazz in der DDR zweifelsohne Wichtiges geleistet. Und im Westen auch. Aber | |
| das ist nicht die ganze Geschichte. | |
| ## Nicht schwarzweiß, sondern grau | |
| Ulli Blobel war sicher nicht der einzige IM-Verdächtige in der | |
| DDR-Jazzszene. Es gab andere, sie sind in Helma Kaldeweys Buch gut | |
| dokumentiert. Dazu gehörte zum Beispiel der Musikmanager Werner Sellhorn | |
| mit seiner langjährigen Tätigkeit unter dem Decknamen IM Zirkel. Auch | |
| Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer wurde eine nicht besonders belastende | |
| Tätigkeit während seiner Studienzeit zwischen 1964 und 1968 als IM Gunther | |
| Sander nachgewiesen. | |
| In der Tat war Ulli Blobel nicht mal der einzige IM-Verdächtige in seiner | |
| Familie: Mitte der 1990er wurde durch Recherchen des Schriftstellers | |
| Joachim Walter bekannt, dass Blobels Schwiegervater, Reclam-Verleger Hans | |
| Marquardt, als IMB (die zweithöchste Stufe der Kollaboration) für die Stasi | |
| gearbeitet hat und dabei unter anderem Franz Fühmann und Günter Grass | |
| ausspähte. Nach Walter schloss diese Tatsache die vielen wichtigen | |
| kulturellen Leistungen von Marquardt – wozu auch die maßgebliche | |
| Erweiterung der Universalbibliothek gehört – nicht aus. | |
| Und es gibt auch Beispiele berühmter Musiker, deren Verdienste aufgrund | |
| einer IM-Tätigkeit nicht vernichtet wurden, etwa Peter „Cäsar“ Gläser von | |
| der Klaus Renft Combo und Peter Meyer von den Puhdys. Nur das Bild ihrer | |
| Vergangenheit wurde dadurch komplexer. Und grauer. | |
| Die DDR war bekanntlich in vieler Hinsicht grau, ihre Geschichte auch – wie | |
| Ilko-Sascha Kowalczuk und Thomas Krüger mehrfach betonen. Dies könnte zur | |
| Jazzwerkstatt Peitz von Journalisten, Musikhistorikern und staatlichen | |
| Institutionen besser reflektiert werden – vor allem aber von der | |
| Bundeszentrale für politische Bildung und der Deutschen Nationalbibliothek. | |
| Letztere wird Ulli Blobel anlässlich der Übergabe des | |
| Jazzwerkstatt-Peitz-Archivs im September ehren. Das wäre doch die perfekte | |
| Gelegenheit, ein historisch akkurates Bild des Festivals in den vielen | |
| subtilen grauen Schattierungen zu malen statt in Schwarz-Weiß. Oder gar in | |
| Schwarz-Rot-Gold. | |
| Das hat die Geschichte der Jazzwerkstatt Peitz verdient, aber auch ihre | |
| Zukunft, die jetzt in den Händen von Marie Blobel liegt. | |
| 15 Jun 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Jazz-in-der-DDR/!5958060 | |
| [2] /Jazz-Geschichten-aus-der-DDR/!5888461 | |
| [3] /Freejazzsaxofonist-Peter-Broetzmann-gestorben/!5942678 | |
| [4] /Biografie-ueber-Walter-Ulbricht/!6009319 | |
| [5] /Thomas-Krueger-ueber-Staatsversagen/!5464931 | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Samuels | |
| ## TAGS | |
| DDR | |
| Stasi | |
| Jazz | |
| Opposition | |
| Zeitgeschichte | |
| GNS | |
| Elektronik | |
| Jazz | |
| DDR | |
| DDR | |
| DDR | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Komponist Georg Katzer: Seismisches Gespür | |
| „Es ist gleich zwölf, kein Gott uns helf“: Eine Erinnerung an den Zeuthener | |
| Komponisten und DDR-Elektronikpionier Georg Katzer zum 90. Geburtstag. | |
| Stasi-Vorwürfe gegen Ulli Blobel: Der DDR-Jazz und das Spitzelsystem | |
| Eine Diskussion in Leipzig befasst sich kaum mit Stasi-Vorwürfen gegen den | |
| Jazz-Organisator Ulli Blobel. Im Podium bleibt man sich weitgehend einig. | |
| Vielfach ausgezeichnete Jenny Erpenbeck: Kein Sehnsuchtsort, sondern Gefängnis | |
| Jenny Erpenbeck hat den renommierten Booker Prize erhalten. Obwohl nicht | |
| nur ihre Reden, sondern auch ihre Bücher durch Ostdeutschtümelei | |
| verblüffen. | |
| Kompilation mit Fake-DDR-BRD-Hippiesound: West-östliche Dekadenz reloaded | |
| Haschpfeiferauchen im Plattenbau? Eine Kompilation mit Fake-DDR-BRD-Sound | |
| befeuert Fantasien über den Osten, verfehlt aber knapp ihr Thema. | |
| Afroamerikanische Sängerin in der DDR: Der Arbeiter-und-Bauern-Soul | |
| Die Jazzsängerin Etta Cameron diente in der DDR beiden Seiten als Symbol | |
| der USA und Projektionsfläche: der Propaganda genauso wie ihren Fans. |