# taz.de -- Werkschau der britischen Band Broadcast: Senden aus dem Unterbewuss… | |
> Das Schaffen der Psychedelicpopband Broadcast und ihrer frühverstorbenen | |
> Sängerin Trish Keenan wird mit gleich drei tollen Alben gewürdigt. | |
Bild: Charismatische, viel zu früh verstorbene Sängerin: Trish Keenan (1968-2… | |
Das Jahr, in dem Psychedelia den Durchbruch schafft, muss 1996 gewesen | |
sein. So ungefähr. Hipster wussten natürlich längst bescheid, das ist | |
schließlich ihr Job. Aber seinerzeit zog die Sache weite Kreise. Bis zu | |
diesem Punkt war das Tonkrug-Blubbern in den Songs der texanischen | |
Acid-Evangelisten [1][13th Floor Elevators] die beste Antwort auf die | |
Frage, was genau Psychedelia eigentlich sein soll. Jetzt aber tauchten neue | |
Namen auf – und damit neue Sounds. | |
Der technologische Ansatz anno 1968, um die zuvor nur von Halluzinogenen | |
aufgeschlossenen Pforten der Wahrnehmung zu öffnen, findet knapp 30 Jahre | |
später breiter Gehör. Kaum eine Band wirkt erfolgreicher bei dieser | |
verspäteten Wertschätzung und künstlerischen Weiterentwicklung einer kurzen | |
Phase der Sixties als [2][Broadcast] aus Birmingham. | |
Deren künftige Sängerin Trish Keenan tanzte Anfang der neunziger Jahre in | |
einem Birminghamer Psychedelic-Club namens Sensateria zu „Hard Coming Love“ | |
von der Band United States of America. Deren Mischung aus | |
Proto-Synthesizer-Blubbern und Jefferson-Airplane-artigem Acidrock | |
faszinierte Keenan. Die Musik war ein perfektes Beispiel für jenen kurzen | |
Zeitraum, wenn ein neues Instrument auftaucht, für das es noch keine Regeln | |
gibt. | |
## Oszillatoren und Ringmodulator | |
Bands wie United States of America, Silver Apples und White Noise nutzen | |
das mittels Ringmodulatoren und Oszillatoren erweiterte Spielfeld, die | |
verschobenen Grenzen für im Wortsinn bewusstseinserweiternde Musik. 2009, | |
da gehört Keenan mit Broadcast längst zur Riege stilprägender britischer | |
Bands wie Stereolab und Pram, führt sie ihr eigenes Verständnis von | |
Psychedelia für das Londoner Musik-Magazin The Wire aus: | |
„Dieses Bubble-Poster-Zeug interessiert mich so wenig wie | |
Woodstock-Nostalgie. Mich fasziniert die Idee von Psychedelia als Tür zu | |
einer anderen Art, über Sound- und Songformen nachzudenken. Es geht dabei | |
nicht um eine Welt, die nur über Halluzinogene zu erreichen ist, sondern | |
die man betritt, indem man hinterfragt, was wir für real und richtig | |
halten, in dem man die Konventionen von Gestalt und Stimmungen | |
herausfordert.“ | |
## Unabgeschlossene Geschichte | |
Gerade erschienen posthum drei Alben der Band, die unterstreichen, wie | |
konsequent [3][Broadcas]t die Möglichkeiten von Keenans Anspruch ausgelotet | |
haben. Dass drei Veröffentlichungen gleichzeitig erscheinen, war nicht zu | |
erwarten gewesen. Trish Keenan stirbt 2011 an den Folgen einer | |
Lungenentzündung. Da war sie gerade Anfang 40. Seit damals sind lediglich | |
einige unveröffentlichte Aufnahmen herausgekommen, im Grunde aber ist | |
Broadcast seither Geschichte. | |
Eine noch nicht abschließend dokumentierte, wie sich nun aber zeigt. | |
„Microtronics 1 & 2“, zuvor lediglich als limitierte Merch-Alben erhältlich | |
und auf keiner offiziellen Streaming-Plattform verfügbar, ist ein | |
musikalisches Skizzenheft. In 21 durchnummerierten Instrumentalstücken, die | |
kaum je die Grenze von zwei Minuten überschreiten, demonstrieren Broadcast, | |
was sie zu einem Aushängeschild des britischen Elektroniklabels Warp | |
gemacht hat. Und wie sie die Stimmung alter Soundtracks und Library Music | |
mit raumgreifenden Jazzarrangements kombinieren. Die Miniaturen | |
gehören zu den abstraktesten Broadcast-Aufnahmen, gleichzeitig aber auch zu | |
den atmosphärischsten. | |
Sie zeigen, weshalb die Band aus den Midlands sich in der Tradition des | |
Radiophonic Workshop sieht. In dieser Soundeffekte-Abteilung von Radio BBC | |
haben Komponistinnen wie Delia Derbyshire und Daphne Oram seit den späten | |
1950er Jahren teils avantgardistische Geräuschkulissen zunächst für | |
Hörspiele und TV-Dokumentationen komponiert und so eine unhörbare Welt zum | |
Leben erweckt. Vielleicht steckt hier die eigentliche Bedeutung der | |
„Microtronics“: Mit elektronischen Mitteln entwerfen sie ein eigenes | |
Klanguniversum, eine neue Welt im Kleinen. | |
## Türschild abschrauben | |
Kein Wunder also, dass Trish Keenan und ihr Mitstreiter James Cargill auf | |
dem Weg zur BBC-Session am Eingang der Maida Vale Studios versucht waren, | |
das historische Türschild „Radiophonic Workshop“ abzuschrauben. Haben sie | |
dann doch nicht gemacht, wohl aber eine Reihe ihrer Klassiker in bestem | |
Sound eingespielt. Etwa eine Version von „City in Progress“, das erst vier | |
Jahre später offiziell erscheint. | |
1996 hat es noch keinen Titel und eine Orgel, die dem retrofuturistischen | |
Sound des Moog-Synthesizers verwandt ist und den Song zum Space-Walzer | |
macht, bei dem Doctor Who mit einem Dalek seine kosmischen Kreise dreht. | |
Die „Maida Vale Sessions“ zeigen Broadcast als songorientierte Band. Drei | |
der vier hier zusammengefassten Sessions werden eingespielt, bevor ihr | |
Debütalbum „Noise Made by People“ (2000) erscheint. Wenn Broadcasts | |
künstlerische Vision laut Keenan „das Aufeinandertreffen menschlicher | |
Emotionen in einer elektronischen Welt“ war, nimmt sie in diesen Songs die | |
greifbarste Gestalt an. | |
Von SciFi-Versionen früher Klassiker wie „Come on Let’s Go“ über eine | |
fantastische Version des Silver-Apples-trifft-Lewis-Carroll-Psych-Hits | |
„Pendulum“ bis zur endzeitlich-melancholischen Interpretation von Nicos | |
„Sixty Forty“: Die BBC-Aufnahmen zeigen Broadcast als Speerspitze eines in | |
Spektralfarben leuchtenden Hauntology-Pop, der vergessene Ideen einer | |
verlorenen Sixties-Zukunft in die Gegenwart channelt. Ein Konzept von | |
Psychedelia, frei von Nostalgie-Mief, swingend in Hard-Bop-Moves und | |
sirrenden Synthesizer-Linien. Die beste Eintrittskarte in die Welt von | |
Broadcast. | |
Die dritte Veröffentlichung verortet sich musikalisch wiederum zwischen den | |
überirdischen Space-Age-Songs der „Maida Vale Sessions“ und den abstrakten | |
Soundcollagen auf „Microtronics“. Ursprünglich als limitierte EP auf | |
Broadcasts letzter Tour 2009 verkauft, wird „Mother Is the Milky Way“ hier | |
erstmals einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Die Band präsentierte | |
damals das zusammen mit ihrem Freund und Coverdesigner Julian House als | |
Focus Group aufgenommene Album „Witch Cults of the Radio Age“ und diese EP | |
klingt wie eine 20-minütige Verlängerung jenes Albums. | |
Keenan beschrieb die EP als „Science-Fiction-Geschichte eines Kinds, | |
collagiert aus Demos, die es nie auf andere Broadcast-Alben geschafft | |
haben“. Tatsächlich lösen die elf Stücke konventionelle Songstrukturen auf | |
zugunsten eines traumgleichen Nebeneinanders aus Musik, Sprachfetzen und | |
Alltagsgeräuschen von Vogelstimmen bis Kinderlachen. Vielleicht zeigt sich | |
erst hier, in dieser Live-Übertragung aus dem Unterbewusstsein eines | |
rasenden Geists, wie passend Broadcast ihren Namen gewählt haben. | |
In ihrem halluzinogenen Sog ist diese raue und zugleich feingliedrige Musik | |
eine Kampfansage an die schlichte Idee chemisch stimulierter | |
Bewusstseinserweiterung. Sie trägt surreale Züge, transzendentale | |
Qualitäten und zugleich die avantgardistische Idee. Und sie lässt uns mit | |
der Frage zurück, welche großartige Musik Trish Keenans und James Cargill | |
wohl heute zusammen aufnehmen würden. | |
25 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=YIVpHNEPzDM | |
[2] /Neues-Album-von-Broadcast/!5153872 | |
[3] /Neues-Album-von-Broadcast/!5075398 | |
## AUTOREN | |
Gregor Kessler | |
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