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# taz.de -- Abschiedstour von Londoner Stereolab: Gut gealterte Kopfhörersuper…
> Stereolab kommen auf finale Tour. Ihr stilvoller Pop zitiert auch das
> Debütalbum des Krautrockduos Neu!, das nun erneut veröffentlicht wird.
Bild: Stereolab, etwa 1997: Tim Gane, Mary Hansen, Laetitia Sadier, Andy Ramsey…
Die Musik der britischen Band Stereolab ist Pop von rockenden
Plattensammler:innen. [1][Wenn der britische Kulturkritiker Simon
Reynolds, Spezialist für alles Retromanische, so eine Diagnose
formuliert], ist sie kein Negativurteil. Sondern wirkt so, dass man Lust
bekommt, diese Alben nach vielen Jahren wieder zu hören: „The ultimate
record-collection rockers.“
Und weil das süß-versponnene Nerdtum, das sich im Werk von Stereolab stets
mit artikuliert, schon immer dazu neigte, mehr und mehr Stränge, Genres,
Sounds und Pluckereien ins eigene System hineinzuziehen, hat sich dieser
Sound im Laufe der inzwischen dreißigjährigen Bandgeschichte immer wieder
gewandelt. Und ist doch stoisch gleich geblieben.
Die Konstante bildet [2][das bandeigene Stilbewusstsein], entlang dessen
sich alles hier sortiert. Los ging das mit statischen Farfisa- und
Moog-Space-Reisen, oft auch mit leicht verkrachter Shoegaze-Gitarre, über
einem statischen Beat. Und über allem der Gesang von Lætitia Sadier und der
2002 durch einen tragischen Fahrradunfall verstorbenen Mary Hansen.
## Lakonisch in die Revolte
Stereolab-Songs klingen sehr schön und lakonisch und vermeiden trotzdem
die im Indie-Kosmos sehr verbreitete Anmutung engelhafter Entkörperlichung
von Frauenstimmen. Um stattdessen mit einer Klangsignatur im Rücken, die in
den späteren Werkphasen die Noise- und Feedback-Reste mehr und mehr
verabschiedet hatte, in einem bezaubernden englisch-französischen Sprachmix
zur Revolte aufzurufen.
Auch der größte Hit der Band, „French Disko“ von 1995, ist gut gealtert:
„I’ve been told it’s a fact of life / Men have to kill one another / Well…
say there are still things worth fighting for / La Resistance“. Muzak als
Klassenkampf, und, wie zum Beispiel [3][Musikkritiker Martin Büsser] damals
kritisch anmerkte, Klassenkampf als Muzak.
Nach zehnjähriger kreativer Pause – währenddessen wurden diverse Solo- und
anderen Bandprojekte vorangetrieben –, die 2019 endete, scheint die
Geschichte von Stereolab nun tatsächlich dem Ende entgegenzugehen. Die
kommende Woche startende Deutschland-Tour wird wohl die letzte sein, und
das aktuelle Album „Pulse of the Electric Brain“ das finale. Oder, wie die
Band schreibt, „possibly the final edition“. Das System wird immer offen
gehalten, bis zum Schluss.
## Durch den gesamten Bandkosmos
Die „Switched on“-Serie versammelt alles, was nicht auf den Alben der Band
Platz fand. Die fünfte Folge führt noch einmal durch den gesamten
Bandkosmos. Der schöpft, auch wenn vielen diese Musik gleichförmig
erscheinen mag, aus einem Ozean an Sounds, Instrumenten, Traditionssträngen
und Genres.
Brasilianischer Pop, ein bisschen Punk, La Monte Youngs Theatre of Eternal
Music, minimalistischer Rock ohne Ornamente, Minimalismus generell, viel
Krautrock und vor allem Spaß an prototypischen Analog-Synthesizern;
überhaupt alles, was blubbert, repetitives Schlagzeug, Chanson, aber auch
britische Experimentalmusik.
Tim Gane, Stereolab-Gitarrist und Sythesizermensch, hat 1993 in einem
Interview den Bandnamen mit britischen Alben zur Testung von Stereoanlagen
aus den fünfziger und sechziger Jahren verknüpft: „Uns gefiel der Name,
weil er seinerzeit als futuristisch galt, heute aber alt und kitschig
wirkt.“
## Puls des elektronischen Gehirns
Die Retro-Ästhetik, die sich auf möglichst Obskures bezieht und trotzdem
immer Pop bleibt, erscheint 30 Jahre nach diesem Interview noch einmal
gedoppelt: die Retromanie der Neunziger, auf die man heute auch längst mit
nostalgischem Blick zurückschaut. Ein hübscher Widerspruch dann aber, dass
„Pulse of the Electric Brain“ mit zwei bislang nur auf inzwischen teurem
Vinyl zu bekommenden Stücken beginnt, die wirken wie aus jeder Zeit
gefallen und also zeitlos sind.
„Simple Headphone Mind“ und „Trippin’ with Birds“ sind in Kollaborati…
dem britischen Industrialmusic-Kollektiv Nurse with Wound (die „ultimate
record-collection Avantgarde“) entstanden. Eine halbe Stunde lang fließen
Sounds, Gitarreneffekte, Samples und durch viele Prozessoren gejagte
Stimmen über einem reduzierten Beat zusammen und wieder auseinander. Es
hallt, zerrt und ist alles maximal verpilzt.
Harmonische und trotzdem unheimliche Trip-Musik, die zum Besten gehört, was
in der an Schönheit nicht armen Laufbahn von Stereolab entstanden ist. Die
anderen 14 Stücke bilden diese Geschichten exemplarisch ab, und dazu gehört
dann eben immer wieder etwas Leerlauf. Aber eben auch und vor allem
zahlreiche Tracks, bei denen es arg schade gewesen wäre, wenn sie im
Bandarchiv verschwunden wären.
## Blaue Milch
Easy-Listening-artiges wie „Forensic Itch“, Loungepop („Unity Purity
Occasional“), ein heimlicher Indie-Gitarrenhit („Robot Disco“), die
Coverversion eines Stücks vom Düsseldorfer Filmmusikkomponisten Peter
Thomas („Blaue Milch“), das so nur in den neunziger Jahren des letzten
Jahrhunderts hat entstehen können. Sehr toll auch, à propos
Neunziger-Jahre-Elektronik, wie das nordenglische Duo Autechre „Refractions
in the Plastic Pulse“ zerklöppelt.
Das aller Wahrscheinlichkeit nach Abschiedsalbum schließt mit einer
Live-Aufnahme von „Cybele’s Reverie“ und damit mit so etwas wie dem
perfekten Pop-Chanson. Den Anfang aber macht mit „Simple Headphone Mind“
die experimentierfreudige Klangforscher-Seite von Stereolab, die daran
erinnert, [4][wie viel Krautrock in den hier ausgewerteten
Plattensammlungen drinsteckte]. „Simple Headphone Mind“ lässt sich auch als
Variante des Stücks „Hallogallo“ der Band Neu! hören.
Damit wären wir bei einer weiteren Wiederveröffentlichung, die die Ideen
von einst editorisch feiert: Zum fünfzigjährigen Veröffentlichungsjubiläum
des Debütalbums von Neu!, 1972, werden alle Alben des Düsseldorfer
Krautrockduos in einem Boxset gefeiert. Man kann noch mal nachhören, wie
einflussreich die Mischung aus Repetition und kosmischen Sounds gewesen
ist, die [5][Michael Rother] und Klaus Dinger damals entwickelt haben.
## Gemischte Übertragungen
Teil der Box ist ein Tribute-Album, auf dem stilistisch unterschiedliche
Bands Neu!-Songs covern oder den charakteristischen Sound der beiden
Musiker zum Ausgangspunkt für Eigenkompositionen nehmen. Die Übertragungen
funktionieren mal sehr gut, zum Beispiel bei Mogwais elegischer
Postrock-Breitwand „Super“ und der frohsinnigen Rave-Version von
„Hallogallo“, die Stephen Morris (New Order) und Gabe Gurnsey beigesteuert
haben. Fink spielen das Stück „Weissensee“ als brütenden Slowcore. Die
Remixe von The National und Man Man dagegen verpuffen irgendwie im
Belanglosen.
Beide Rückblicke, die Stereolab-Compilation und die Box von Neu!, erinnern
an einen Strang in der Popgeschichte, der weiterhin präsent bleibt und
angenehmen Eskapismus verspricht. Bands, die sich ein eigenes
Sound-Universum bauen und das dann konstant ausdifferenziert gestalten.
In beiden Fällen sind das eher introvertierte Unternehmungen, die wegwollen
von Expressivität und großen Gesten. Gitarrensoli findet man auch in den
Rockstücken von Stereolab keine und rumgeschrien wird auch nicht.
Stattdessen Tüftelei und Idiosynkrasie – bei gleichzeitiger maximaler
Offenheit. Man muss kein Nerd sein, um das, was Stereolab fabrizieren, zu
mögen. Es ist egal, ob man die zahllosen Verweise und musikhistorischen
Nischen kennt, aus denen hier geschöpft wurde.
Der Minimalismus von Neu! ist eh voraussetzungslos. Neben vielem anderen,
was man über die Musik von Stereolab und Neu! sagen könnte, fällt beim
Wiederhören zuallererst auf, wie radikal einladend sie klingt.
15 Nov 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Benjamin Moldenhauer
## TAGS
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