# taz.de -- „Werbeverbot“ für Abtreibungen: Von der Angeklagten zur Aktivi… | |
> Kristina Hänel wurde in zweiter Instanz schuldiggesprochen, „Werbung“ f�… | |
> Abtreibungen zu machen. Sie will Rechtssicherheit. | |
Bild: Gibt den Kampf für die Abschaffung des Paragrafen 219a nicht auf: Ärzti… | |
GIEßEN taz | Kristina Hänel steht in einem mit Panzerglas abgeschirmten | |
Saal des Gießener Landgerichts und wendet sich an den Richter. „Dass ich | |
Schwangerschaftsabbrüche durchführe, ist für mich eine Gewissensfrage“, | |
sagt die Ärztin. Eine kleine Frau, kurze rote Haare. „Ich nehme meinen | |
Beruf sehr ernst. Und ich kann Frauen, die sich in einer Notsituation | |
befinden, nicht im Stich lassen.“ | |
Doch die Situation, die durch den [1][Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs] | |
geschaffen wird, der „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche verbietet, sei | |
diskriminierend, sagt Hänel. Dadurch, dass Frauen sich nicht frei über ihre | |
medizinischen Möglichkeiten informieren können, sei „die Würde der Frau | |
eklatant verletzt“. Hänel will gar keinen Freispruch – sondern bis vor das | |
Bundesverfassungsgericht ziehen, um den Paragrafen 219a abzuschaffen. | |
Am Freitag kommt die Allgemeinärztin Hänel diesem Ziel einen Schritt näher: | |
Sie wird [2][in zweiter Instanz verurteilt], weil sie auf ihrer Website | |
sachlich darüber informiert, dass sie neben Lungenfunktionsuntersuchungen | |
und Blutegeltherapien auch Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. | |
„Sie müssen das Urteil tragen wie einen Ehrentitel im Kampf für ein | |
besseres Gesetz“, sagt der Vorsitzende Richter Johannes Nink anerkennend zu | |
Hänel. Nink macht während der freundlich und bisweilen heiter geführten | |
Verhandlung mehrfach deutlich, Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des | |
Paragrafen zu haben. | |
## Das Problem ist viel größer | |
Vor knapp einem Jahr wollte Hänel noch einen Freispruch erreichen, doch als | |
die Allgemeinärztin im November 2017 zum ersten Mal [3][zu einer Strafe von | |
6.000 Euro verurteilt wurde], wandelte sich die Angeklagte zur Aktivistin – | |
und zur Frontfrau der bundesdeutschen Anti-219a-Bewegung. | |
In unzähligen Zeitungen im In- und Ausland, darunter im Guardian und in der | |
New York Times, erscheinen Artikel über Hänel, Tausende Mails gehen bei ihr | |
ein, von PatientInnen, UnterstützerInnen, auch Hasspost ist darunter. „Vor | |
einem Jahr wusste ich noch nicht, dass es nicht nur in Gießen kaum noch | |
ÄrztInnen gibt, die Abbrüche anbieten“, sagt Hänel. „Heute weiß ich: Das | |
Problem ist viel größer – und wir Angeklagte sind nur die Spitze des | |
Eisbergs.“ | |
Denn der Druck auf ÄrztInnen wächst: Am Mittwoch verglich der Papst bei | |
seiner Generalaudienz in Rom Abtreibung mit Auftragsmord. Zudem bekommen | |
[4][AbtreibungsgegnerInnen] auch durch das Erstarken rechter Parteien | |
Rückenwind, die im Bereich sexueller und reproduktiver Rechte ähnlich | |
rückwärtsgewandte und restriktive Positionen vertreten. | |
Dabei gibt ihnen der Paragraf 219a ein Werkzeug in die Hand, um ÄrztInnen | |
systematisch einzuschüchtern: Die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen des | |
Paragrafen ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Waren es von | |
2010 bis 2014 maximal 14 ÄrztInnen jährlich, gegen die ermittelt wurde, lag | |
die Zahl 2015 bei 27 und 2016 schon bei 35 Fällen. | |
Zwei Männer sind ganz vorn dabei, wenn es darum geht, anzuzeigen – die | |
beiden, die auch Kristina Hänel vor Gericht gebracht haben. Einer der | |
beiden, [5][Klaus Günter Annen], betreibt eine Website namens „babykaust“, | |
auf der er Abtreibungen mit dem Holocaust gleichsetzt, Hänel als | |
„Tötungsspezialistin“ diffamiert und mehr als 170 von ihm angezeigte | |
ÄrztInnen auflistet. | |
## Grüne Halstücher als Symbol der Solidarität | |
Durch die Norm des Paragrafen 219a, zumindest durch seinen Missbrauch, | |
werde das gesellschaftliche Klima „notorisch vergiftetet“, sagt Hänels | |
Anwalt Karlheinz Merkel am Freitag vor Gericht. Rund 70 Menschen haben im | |
größten Saal des Gießener Landgerichts Platz gefunden, mehrheitlich Frauen. | |
Einige, wie [6][die beiden ebenfalls angeklagten Kasseler ÄrztInnen] Nora | |
Szász und Natascha Nicklaus, deren Verfahren im Januar neu aufgerollt wird, | |
tragen grüne Halstücher – das Symbol der Solidarität mit den argentinischen | |
Protesten gegen das dortige Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. | |
Der Staat schütze die Meinungsfreiheit von Männern wie Annen – nicht aber | |
die ÄrztInnen, sagt Verteidiger Merkel. Auch deshalb hat Hänels erste | |
Verurteilung eine Debatte ausgelöst: Müssen ÄrztInnen, die | |
Schwangerschaftsabbrüche durchführen, mit dem Risiko leben, kriminalisiert | |
zu werden? Müssen sich Frauen, die ungewollt schwanger sind, Informationen | |
über die Möglichkeit zu Abbrüchen hinter verschlossenen Türen suchen? Und: | |
Soll der Paragraf 219a durch das Parlament geändert oder abgeschafft | |
werden? | |
Noch Anfang des Jahres sah es so aus, als sei die parlamentarische | |
Abschaffung des 219a ein Selbstläufer. Grüne, Linke, FDP und SPD brachten | |
[7][Gesetzentwürfe zur Abschaffung oder zumindest Änderung] ein. Doch nach | |
langem Herumlavieren [8][kassierte die SPD ihren Entwurf] im März, um den | |
gerade erst besiegelten Koalitionsfrieden mit der Union nicht zu gefährden. | |
Seitdem hofft die Partei auf einen Kompromiss, den Justizministerin | |
Katarina Barley, Familienministerin Franziska Giffey (beide SPD), | |
Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzleramtschef Helge Braun (beide CDU) | |
derzeit aushandeln. Andernfalls, so der SPD-Vorstand, müsse in Gesprächen | |
mit „reformwilligen Fraktionen beziehungsweise Abgeordneten“ nach einer | |
Lösung gesucht, also fraktionsübergreifend abgestimmt werden. | |
Doch die Union mauert: „Der Paragraf 219a StGB gehört für uns unverzichtbar | |
zum Schutzkonzept, mit dem die Grundrechte des Ungeborenen gewahrt werden“, | |
so die rechtspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, | |
Elisabeth Winkelmeier-Becker, gegenüber der taz am Wochenende. „Eine | |
Streichung oder Änderung des Paragrafen lehnen wir deshalb ab.“ Auch die | |
Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichte am Montag eine sechsseitige | |
Analyse, die zeigen soll, warum eine Einschränkung des Paragrafen „weder | |
geboten noch sinnvoll“ sei. | |
## Die Opposition hält die Debatte am Laufen | |
„Wenn man die eine oder andere Aussage aus der Union hört, gibt es Anlass, | |
pessimistisch zu sein“, räumt auch der rechtspolitische Sprecher der | |
SPD-Fraktion, Johannes Fechner, auf Anfrage ein. Der Straftatbestand des | |
219a müsse reduziert, besser abgeschafft werden. Zugleich pocht Fechner auf | |
den Zeitplan: „Frau Merkel hat uns einen Vorschlag zugesagt“, sagte er, | |
„und wir erwarten ihn im Oktober.“ | |
Die Opposition hält derweil die Debatte am Laufen: Am Donnerstag soll der | |
Paragraf auf Initiative von Grünen und Linkspartei erneut im Plenum | |
diskutiert werden. „Wir sehen in den Prozessen, wie groß die Notwendigkeit | |
ist, eine politische Entscheidung zu treffen“, sagte die frauenpolitische | |
Sprecherin der Grünen-Fraktion, Ulle Schauws, der taz am wochenende. Auch | |
die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Cornelia Möhring, | |
äußerte sich: „Die nötige Mehrheit im Parlament, um den Paragrafen 219a zu | |
streichen, hängt nur an der SPD. Sie muss endlich handeln.“ | |
Im Gießener Gerichtssaal kämpft Kristina Hänel am Freitag auf anderem Weg | |
für dasselbe Ziel. Zwar folgt Richter Nink dem Antrag der Verteidigung | |
nicht, das Verfahren auszusetzen und direkt dem Bundesverfassungsgericht | |
vorzulegen. Er sehe das Landgericht schlicht nicht als die Instanz, diese | |
Entscheidung zu treffen, macht Nink deutlich. Hänels Anwalt Karlheinz | |
Merkel kündigt direkt nach dem Urteil an, in Revision zu gehen. | |
Als Kristina Hänel aus dem Gerichtsgebäude in die Herbstsonne tritt, wird | |
sie mit lang anhaltendem Applaus von Unterstützerinnen empfangen. Sie | |
lächelt, als sie die Stufen des Landgerichts hinabgeht. | |
In ihrer Brust, sagt sie, schlügen zwei Herzen: „Ich bin keine Verbrecherin | |
und möchte deshalb auch nicht verurteilt werden.“ Dennoch stehe sie hier | |
für die „vielen tausend Frauen“, die durch den Paragrafen 219a darin | |
beeinträchtigt werden, Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu | |
finden. Auf welchem Weg der Paragraf geändert oder abgeschafft werde, sei | |
ihr egal. Hierauf aber besteht sie: „Ich will Rechtssicherheit für | |
ÄrztInnen und für Frauen.“ | |
12 Oct 2018 | |
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## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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