# taz.de -- Wagner-Aufstand in Russland: Prigoschin stoppt offenbar seinen Mars… | |
> Alles wieder vorbei? Die Lage nach dem versuchten Aufstand von Jewgeni | |
> Prigoschin und seiner Söldnertruppe Wagner ist weiterhin unübersichtlich. | |
> Den Marsch auf Moskau hat er nach eigenen Angaben offenbar beendet. Was | |
> das für ihn und für Wladimir Putin heißt, ist unklar. | |
Bild: Dieses vom Prigoschin-Pressedienst zur Verfügung gestellte Videostandbil… | |
MOSKAU taz | Am Abend dann die Wendung: [1][Jewgeni Prigoschin hat seinen | |
Truppen offenbar befohlen, sich in ihre Stützpunkte zurückzuziehen]. Er | |
wolle ein Blutvergießen vermeiden, teilte er in einer Audiobotschaft mit. | |
Damit ist Prigoschins Marsch auf Moskau gestoppt. Doch was heißt das? Ist | |
er einen Deal mit dem Kreml eingegangen? Hat sich der Kreml von einem, der | |
einen Staat als Militärgarnison begreift und sich selbst als den einzig | |
wahren Rechtsbewahrer, mit Waffen in der Hand, erpressen lassen? | |
Zuvor soll der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mit Prigoschin | |
verhandelt haben. Ein Ende der Staatskrise in Russland ist das nicht. Es | |
offenbart vor allem die Auswüchse des Chaos, in das sich Putins Regime mit | |
dem Überfall auf die Ukraine hineinmanövriert hat. | |
Videos aus Rostow am Don zeigen am Abend, wie die „Wagnerowzy“, wie die | |
kampferprobten Truppen in Russland genannt werden, sich zurückziehen. Seit | |
Freitagnacht hatten sie die Millionenstadt im Süden Russlands kontrolliert. | |
Auch andere Städte auf dem Weg nach Moskau wollen sie nach eigenen Angaben | |
unter ihre Kontrolle gebracht haben. | |
Noch am Samstagmorgen hatte der als „Putins Koch“ geltende Unternehmer | |
Prigoschin bei Tee und Kaffee mit dem Vize-Verteidigungsminister und dem | |
Vize-Generalstabschef zusammengesessen und die Herausgabe des russischen | |
Verteidigungsministers Sergei Schoigu gefordert, gegen den er seit Monaten | |
verbal massiv vorgeht. Die „Schande“ müsse beendet werden, solange das | |
nicht geschehe, werde er Rostow blockieren und nach Moskau vorrücken, hatte | |
er angedroht und dieses Vorhaben als „Marsch der Gerechtigkeit“ bezeichnet. | |
Moskau hatte seine Abwehrbereitschaft gestärkt, mehrere Regionen hatten | |
alle Massenveranstaltungen abgesagt. Moskau rief eine „Antiterroristische | |
Operation“ aus und ließ mehrere Museen und Parks schließen. | |
Zum ersten Mal hatte Prigoschin Putin direkt angegriffen und damit ein Tabu | |
gebrochen. Dieser irre sich, wenn er sein Ansinnen als „Verrat“ ansehe. | |
25.000 Soldaten stünden hinter ihm, hatte er gesagt und weitere aufgerufen, | |
sich ihm anzuschließen. Der Söldner-Chef, der für die Schlachten in der | |
Ukraine mithilfe des russischen Staates auch zahlreiche Gefangene | |
rekrutiert hatte, hat durchaus Sympathien in gewissen Kreisen im Land. | |
## Prigoschins Aufstand hatte sich abgezeichnet | |
Am Samstagvormittag wandte sich schließlich Russlands Präsident Wladimir | |
Putin in einer fünfminütigen Fernsehansprache an sein Volk. Er, der sich | |
stets als Garant der Sicherheit feiern ließ, hat diese Rolle längst | |
eingebüßt. Dennoch versuchte er, sich bei seinem Auftritt als derjenige zu | |
geben, der durchgreift. Eine Revolte führe nur zur Anarchie und sei tödlich | |
für das Land und das Volk, sagte er und sprach von Bestrafung für jeden, | |
der sich bewusst zum Verrat entschieden habe. | |
Putin bezeichnete die Wagner-Kämpfer als Helden – in der Ukraine nahmen die | |
„Wagnerowzy“ vor allem die Städte Soledar und Bachmut ein –, Prigoschin | |
selbst nannte er nicht beim Namen, bezichtigte ihn aber des Hochverrats. | |
Putin sprach von einem „Dolchstoß“ in den Rücken und verglich das Vorgehen | |
mit der Oktoberrevolution 1917. Die Lage in Rostow bezeichnete er als | |
„schwierig“, faktisch sei die Arbeit der zivilen und militärischen | |
Verwaltung blockiert. Damit gestand er ein, dass dem Kreml die Kontrolle | |
entglitten ist. | |
Der [2][Aufstand Prigoschins hatte sich seit Monaten abgezeichnet]. Lange | |
hatte der Söldner-Chef eine Carte blanche des Kremls, konnte schimpfen, | |
kritisieren, beleidigen. All das tun, wofür andere längst wegen | |
„Diskreditierung der russischen Armee“ ins Gefängnis geworfen worden wäre… | |
Prigoschin polterte in bester Gossensprache gegen Schoigu, Putin ließ ihn | |
gewähren, egal, wie weit Prigoschin die Grenzen des Sagbaren gedehnt hatte. | |
Den Bogen aber hatte er am Freitag überspannt – und den Streit eskalieren | |
lassen. | |
Ob seine faktische Unantastbarkeit nun vorbei ist, ist allerdings fraglich. | |
Die Generalstaatsanwaltschaft hatte ein Strafverfahren wegen Organisation | |
eines militärischen Aufstands gegen ihn eingeleitet. Darauf stehen 12 bis | |
20 Jahre Freiheitsentzug. Der Inlandsgeheimdienst FSB hatte bereits zuvor | |
Ermittlungen angekündigt. Ob es jetzt dabei bleibt? Dazu gab es zunächst | |
keine Angaben. | |
Die Lage im Land ist derweil weiterhin ernst. Die Zufahrtsstraßen nach | |
Rostow, an der Grenze zum Donbass, sind gesperrt. Moskau behält seinen | |
arbeitsfreien Montag, den der Bürgermeister Sergei Sobjanin im Zuge seiner | |
ausgerufenen „Antiterror-Operation“ angeordnet hatte. | |
Damit kontrolliert der FSB die Lage und hat zusätzliche Kompetenzen. Er | |
darf alle Gespräche abhören, die Nachrichten im Internet kontrollieren, | |
darf Fahrzeuge konfiszieren und Wohnungen durchsuchen. Er darf auch ohne | |
Verdacht die Menschen durchsuchen und jeglichen Verkehr einschränken. | |
Ebenso könnte das Internet abgestellt werden. | |
In Moskau sind die GPS-Sender gestört, an manchen Straßen stehen Polizisten | |
mit Maschinengewehren. Sonst lebt die Stadt ihr Wochenendleben, als sei | |
nichts geschehen. 300 Kilometer der wichtigen Verbindung zwischen Moskau | |
und dem Süden sind auch nach Prigoschins geplantem Rückzug gesperrt. | |
## Parallelstrukturen in Putins Reich | |
Auf den Straßen der Hauptstadt herrschte am Samstag die übliche Ignoranz. | |
„So ein Mist, das Schulabschlussfest meiner Tochter im Gorki-Park wurde | |
abgesagt. Ich verstehe nicht, warum“, sagte ein Mann im Zentrum. „Sind | |
diese Söldner dafür verantwortlich?“, fragte eine Frau ungläubig. „Aber … | |
wollen sie denn überhaupt?“ Ein weiterer Mann beschwichtigte: „In ein paar | |
Tagen ist alles wieder ruhig hier. Sie streiten sich, sie vertragen sich | |
auch wieder. Wir haben eine wichtige Sache zu gewinnen“, meinte er. Die | |
„wichtige Sache“ ist der Krieg in der Ukraine, den viele Russinnen und | |
Russen wenn auch nicht gutheißen, so doch rechtfertigen. „Wir stecken nun | |
drin, dann müssen wir es auch zu Ende führen und siegen“, sagen sie dann. | |
Prigoschin hatte Schoigu vorgeworfen, dass dieser lediglich aus Eigennutz | |
und für einen Stern auf den Schulterklappen das Land in den Krieg gegen die | |
Ukraine gestürzt habe. Eine militärische Notwendigkeit habe nicht | |
bestanden. Die Rede von der Entmilitarisierung und der Entnazifizierung – | |
diese Schlagworte nennt Putin immer noch als Ziel des russischen Angriffs | |
auf die Ukraine – sei ein von ihm geschaffener Mythos. Der 62-jährige | |
Prigoschin ist das Gesicht des innenpolitischen und innermilitärischen | |
Problems Russlands. Den Konflikt geschaffen aber hat der russische | |
Präsident, der zuliess, dass mit dem Wissen des Staates Privatarmeen | |
gegründet werden, die faktisch vom Staat bezahlt werden, vom Staat mit | |
Waffen versorgt und mit Sträflingen bestückt werden. | |
Prigoschin ist nicht der einzige, der Parallelstrukturen aufgebaut hat. | |
Auch Tschetscheniens Herrscher Ramsan Kadyrow hat eine bis auf die Zähne | |
bewaffnete Truppe, die in der Ukraine kämpft. Kadyrow ließ sich vor zwei | |
Wochen darauf ein, seine „Achmat“-Einheit unter Vertrag des russischen | |
Verteidigungsministeriums laufen zu lassen. Prigoschin wehrte ab. Am | |
Samstag war es Kadyrow, der Moskau seine Hilfe im Chaos anbot und gegen | |
Abend vor Rostow gestanden haben will. Für Putin ist der abgesagte Aufstand | |
seine bislang stärkste Niederlage. | |
24 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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