| # taz.de -- Ukrainische Ostfront: Granaten und geöffnete Geschäfte | |
| > Die Region um die Stadt Bachmut ist in den vergangenen Wochen hart | |
| > umkämpft. Ein Besuch an der Front. | |
| Bild: Ukrainische Soldaten schauen auf die Stadt Bachmut | |
| Noch zehn Autominuten bis Tschassiw Jar, eine Stadt mit knapp 13.000 | |
| Einwohnern im Gebiet Donezk im Osten der Ukraine. Teile der Straßen sind | |
| beschädigt von Minen, Artillerie und Kettenfahrzeugen. Das Auto, wie auch | |
| die Insassen, sind schon mit einer dichten Staubschicht bedeckt. Vorne weg | |
| fährt ein Militärtransporter. Wegen der staubigen Luft gilt es, sich nach | |
| Gefühl fortzubewegen, allerdings mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 | |
| Stundenkilometern, um nicht unter Beschuss zu geraten. | |
| Von Tschassiw Jar oder „Tschassik“, wie die Menschen hier sagen, sind es | |
| nur knapp 9 Kilometer bis zu den Stellungen der russischen Armee und bis | |
| Bachmut, der Stadt, die in den vergangenen Wochen mit am heftigsten | |
| umkämpft war und von russischen Truppen zu großen Teilen zerstört wurde. In | |
| den vergangenen Tagen hat die Intensität der Kämpfe etwas abgenommen. Denn | |
| in der südlichen Region Saporischschja hat die ukrainische Gegenoffensive | |
| begonnen, weshalb die Russen einen Teil ihrer Truppen und Ausrüstung | |
| dorthin verlegt haben. | |
| Offenbar haben auch Angriffseinheiten [1][des privaten Militärunternehmens | |
| „Wagner“] Bachmut verlassen, an ihrer Stelle sind Einheiten der regulären | |
| Armee der Russischen Föderation vorgerückt, die allem Anschein nach | |
| schlechter vorbereitet und weniger motiviert sind. So ist alles wohl nur | |
| die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Genaues weiß niemand, die ukrainische | |
| Regierung hat den Generalstab der Streitkräfte angewiesen, Stillschweigen | |
| über die Gegenoffensive zu bewahren. | |
| ## Sicherheitslage das größte Problem | |
| Tschassik ist grau, überall sind beschädigte fünfstöckige Gebäude zu sehen. | |
| Ein Teil des Ortes hinter dem Wasserkanal sehe aus wie Bachmut und sei | |
| vollständig dem Erdboden gleichgemacht worden. Dorthin zu fahren, sei | |
| brandgefährlich sagen Soldaten. | |
| Ständig ist Artilleriefeuer zu hören. Die Stadt ist fast menschenleer, doch | |
| einige Bewohner sind geblieben. Einer von ihnen ist Oleg. Der 54-Jährige | |
| ist Mitglied des örtlichen Stadtsrats und Inhaber des einzigen Ladens, der | |
| noch geöffnet hat. Er wurde durch Granatsplitter am Bein verletzt, will | |
| aber trotzdem hierbleiben. | |
| Für ihn, wie für alle anderen auch, ist die Sicherheitslage das größte | |
| Problem. Da vertraue er niemandem. „Da sind das Land Ukraine und seine | |
| gelb-blaue Flagge. Etwas anderes sollte es nicht geben: weder Rot-Schwarz | |
| (Flagge der [2][Ukrainischen Aufständischen Armee UPA], die von 1942 bis | |
| 1956 existierte. Sie symbolisiert das rote Blut der Ukrainer, das auf dem | |
| schwarzen Boden vergossen wurde; d. Red.) noch irgendwelche Russen, es gibt | |
| nur das Land Ukraine – und das war’s“, sagt er. | |
| Von Tschassik nach Kostjantiniwka sind es 15 Kilometer. Obwohl auch dieser | |
| Ort zu den „Frontstädten“ gehört, wirkt er alles andere als ausgestorben. | |
| Auch hier ist ständig Geschützfeuer zu hören, Granaten fliegen in beide | |
| Richtungen. Dennoch sind alle Geschäfte geöffnet, sogar auf dem Markt | |
| herrscht reges Treiben. Der 72-jährige Anatoli erledigt gerade ein paar | |
| Besorgungen. Er spricht Ukrainisch und macht sich für einen Nato-Beitritt | |
| der Ukraine stark. „Der Nato beizutreten – ja, das wird uns eine Art | |
| Sicherheit geben, die westlichen Partner werden uns helfen. Aber wir müssen | |
| die Russen aus eigener Kraft vertreiben. Dann wird niemand mehr auf den | |
| Gedanken kommen, in die Ukraine einzudringen“, sagt er. | |
| ## Das Wirken der russischen Propaganda | |
| Er ist sich sicher, dass die Ukraine im Falle eines Nato-Beitritts ihren | |
| Teil zur Sicherheit der Nato und Europas beitragen könnte. Schließlich | |
| verfüge sein Land über reale Kriegserfahrungen und habe gut ausgebildete | |
| und motivierte Streitkräfte. | |
| Doch so wie Anatoli denken nicht alle hier. Olga ist 49 Jahre alt und sagt, | |
| sie sei Politikwissenschaftlerin. Nach ihrer Meinung zu der aktuellen Lage | |
| befragt, betet sie sofort alle Klischees [3][aus russischen | |
| Propaganda-TV-Shows] nach, zum Beispiel, dass Russland in der Ukraine gegen | |
| die Nato kämpfe. Sollte die Ukraine der EU und der Nato beitreten, werde | |
| Kyjiw sofort mit dem Verkauf von Produkten mit gentechnisch veränderten | |
| Organismen beginnen und Nato-Bürokraten würden die Preise für die | |
| Wasserversorgung in Kostjantiniwka erhöhen. Ihre Argumente begründen kann | |
| sie nicht. | |
| Die Stadt Druschkiwka, 20 Kilometer von der Frontlinie entfernt, zählt im | |
| Donbass bereits zum Hinterland. Die Stadt ist ständig Ziel von Angriffen. | |
| Erst am Wochenende zielten russische Raketen wieder auf die | |
| Infrastruktur. Dennoch scheint das Leben seinen „normalen“ Gang zu gehen. | |
| Viele Menschen sind unterwegs, selbst die Straßenbahn fährt. | |
| ## Gemischte Meinungen zu NATO-Beitritt | |
| Irina, eine 54-jährige Arbeiterin in einem Maschinenbauwerk, glaubt, dass | |
| ein Nato-Beitritt und die militärische Unterstützung des Westens den Krieg | |
| in der Ukraine beenden könnten. „Polen, die baltischen Staaten, | |
| Großbritannien und die USA, das sind diejenigen, die uns wirklich geholfen | |
| haben. Die Truppen des, ‚befreundeten‘ Landes müssen abzuziehen. Die Russen | |
| haben immer gesagt, sie seien unsere Freunde, unsere Brüder. Jetzt sehen | |
| wir, was für Brüder sie wirklich sind. Sein Land einfach herzugeben, kommt | |
| nicht infrage“, sagt sie. | |
| Dem widerspricht Marina energisch. Die 51-Jährige arbeitet als Köchin in | |
| Druschkiwka. Die russische Armee wäre nicht in die Ukraine einmarschiert, | |
| wenn die westlichen Partner der Ukraine keine Waffen geliefert hätten. | |
| Kyjiw solle keinesfalls der Nato beitreten, sagt sie, räumt aber | |
| gleichzeitig ein, dass sich die Ukraine nicht alleine verteidigen könne. | |
| Alles in allem, so sagt sie zum Abschluss, verstünde sie nichts von | |
| Politik. | |
| Genau das macht sich Russland mit seinem Informationskrieg zunutze. Der | |
| dürfte noch lange dauern – selbst dann, wenn die ukrainischen Truppen in | |
| naher Zukunft im Donbass militärische Erfolge erzielen werden. | |
| Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
| 11 Jun 2023 | |
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