# taz.de -- Verkehrswende in Deutschland: Rad ab in Aachen | |
> An der niederländischen Grenze endet ein Radweg – aber nicht nur dort. | |
> Aachen hat den Bürgern eine Fahrradstadt versprochen. Das Ergebnis | |
> frustriert. | |
Bild: Am Ende des Radlerparadieses: An der Grenze zu Aachen hört auch der Radw… | |
AACHEN taz | Wer aus den Niederlanden nach Aachen radelt, erreicht an der | |
Grenze unmittelbar eine andere Welt. Eben, im Städtchen [1][Vaals], fuhr | |
man noch über einen feuerrot markierten Radweg, abgetrennt durch eine | |
durchgezogene Linie und fast nie illegal beparkt (weil kontrolliert und | |
teuer). Ab der Staatsgrenze, jetzt im deutschen Ortsteil | |
[2][Vaalserquartier], ist die verkehrliche Bronx erreicht. Der Radweg endet | |
abrupt, gut zehn Meter weiter führe man in ein Potpourri aus Pollern und | |
Verkehrsschildern. Hoffentlich geht das Einfädeln in die enge Autospur gut. | |
Dabei hat dieses Vaals für niederländische Verhältnisse sogar noch sehr | |
bescheidene Radwege. Und Aachen, die „fahrradfreundliche Stadt“ | |
(Eigenwerbung), kennt noch ganz andere Grotesken, unzumutbar, | |
lebensgefährlich und zum Fremdschämen. | |
Das sollte sich alles ändern. Aachen hat beste Voraussetzungen, um die | |
anvisierte radkonforme Verkehrswende zu vollziehen. Zum einen kann man vom | |
großen Vorbild Niederlande nebenan lernen. Und zum anderen haben Aachens | |
BürgerInnen 2019 den erfolgreichsten Radentscheid Deutschlands hingelegt. | |
38.185 Menschen hatten damals das Bürgerbegehren unterzeichnet, knapp 20 | |
Prozent der Unterschriftsberechtigten, das höchste Quorum aller rund 50 | |
deutschen [3][Radentscheid]e bislang. Die Forderungen: ein durchgängiges | |
Radwegenetz, der Bau von fünf Kilometern geschützter Wege an Hauptstraßen | |
pro Jahr, der rad- und fußgängersichere Umbau dreier Kreuzungen jährlich | |
und der Ausbau von Radparkplätzen. Bis 2027 sollte das Projekt | |
abgeschlossen und Aachen eine Radlerstadt geworden sein. | |
Der Stadtrat hat das Bürgerbegehren Ende 2019 fast einstimmig angenommen, | |
auch mit den Voten der „Hubraumparteien CDU und SPD“, wie die [4][Aachener | |
Nachrichten] notierten. Mit diesem robusten Mandat verpflichtete sich die | |
Stadt zur Umsetzung. | |
## Große Pläne – aber nur 111 Meter sicherer Radweg | |
Doch passiert ist seitdem – fast nichts. Ja, es gibt langfristig vage | |
Planungen und große Worte. Ja, es existieren jetzt ein paar hundert neue | |
Radbügel. Ja, entstanden sind auch schon 111 Meter abgetrennter, sicherer | |
Radweg, eine launige Zahl für eine Karnevalsstadt. 111 Meter statt 10.000. | |
Jetzt aber steht ein Umbau ebenjener Vaalser Straße ab Grenze an, für | |
jeweils 250 Meter. Die Verwaltung schlug geschützte Radwege nach | |
Radentscheid-Vorgaben vor. Die Mehrheit im Rat – Grüne, Linke, Volt, | |
Piraten, SPD – hob den Daumen. | |
Aber: Drei Dutzend Parkplätze sind akut bedroht. Deshalb begehrten | |
AnwohnerInnen auf. Die CDU schloss sich an. Dabei gibt es direkt an der | |
Grenze einen großen Parkplatz für 70 Kraftfahrzeuge – der jedoch wird indes | |
kaum genutzt, weil er pro Stunde einen vollen Euro kostet, das Tagesticket | |
sechs. Viele kostenfreie Parkbuchten werden seit jeher gern von | |
Niederländern zugestellt, weil es bei denen direkt nebenan kosten würde. | |
Und so trafen sich CDU-PolitikerInnen im Frühherbst, um mit AnwohnerInnen | |
über die Parkplatznot zu diskutieren – auf dem leeren Parkplatz, ein | |
groteskes Bild. Anschließend rügte die CDU im Stadtrat die fehlende | |
Bürgerbeteiligung und legte per Geschäftsordnung ein Veto zum Umbau ein – | |
ein Novum in der Nachkriegsgeschichte Aachens. Für ein paar Meter Radweg. | |
Die Vaalser Straße ist ein Musterbeispiel für die Komplexität politischer | |
Prozesse und die Eitelkeiten lokaler PolitikerInnen. Wo immer seit Anfang | |
2020 neue Radinfrastruktur auch nur angedacht wird, setzt es Widerstand, | |
FDP-Gestrige vorneweg, oft die Bezirks-CDU huckepack. | |
## Die seltsamen Argumente der Autofans | |
Gern schimpfen Anrainer dabei über geplante „Radautobahnen“ Und viele | |
glauben, es fahre ja vergleichsweise kaum jemand mit dem Rad. Dabei sorgen | |
sichere Radwege umgehend für massiv mehr Velonutzung und also für weniger | |
Autos. Das ist wie ein Naturgesetz, überall bewiesen, ob in Kopenhagen, | |
Brüssel, Gent oder Paris, in den Niederlanden sowieso. | |
Und da ist der kleinmütige Nimby-Effekt – die Abkürzung steht für „not in | |
my backyard“, also „nicht in meinem Hinterhof“. Wegen der bequemen | |
Parkplätze. | |
Andere finden fantasievollere Argumente. Kommen Paketboten noch durch, | |
Pflegedienste, Taxis, Müllabfuhr, gar Rettungsdienste? Mäßig realistisch, | |
dass die Feuerwehr ein Haus niederbrennen lässt, weil sie einen Radweg | |
queren müsste. Und was sei mit der alten Dame nebenan, die sei doch aufs | |
nahe Auto angewiesen! | |
Eine Aachener Leserbriefschreiberin meinte: Je mehr Radwege, desto weniger | |
Autospuren, die Folge: in der nicht mehr erreichbaren City herrsche bald | |
Trostlosigkeit allerorten, am Ende drohe sogar Hungersnot: „Alle Geschäfte | |
bleiben leer, dann haben wir zwar gute Luft in der Stadt, aber nix zu | |
fressen.“ | |
„Größte Bremse“, sagt Radentscheid-Mitgründerin [5][Almuth Schauber], se… | |
„Mutlosigkeit und Inkonsequenz“ bei Politik und Verwaltung. Veränderung | |
müsse halt „immer wieder erklärt werden, wie man Aachen zu einer | |
lebenswerteren Stadt für alle machen“ wolle, heißt: mehr | |
Aufenthaltsqualität, weniger Blech, Lärm, Gestank, Gefahr. Stattdessen | |
bekämen die Entscheider sofort „kalte Füße, wenn es ans Eingemachte geht�… | |
beklagt sich Schauber. | |
Manche Aachener mutmaßen, bei einem Stellplatzverlust würden Umwege und | |
Parkplatzsuchverkehr zunehmen, also gebe es am Ende sogar mehr | |
Schadstoffausstoß. Andere drohten, bei einem Parkplatzraub ihren Vorgarten | |
zu asphaltieren. An der Vaalser Straße behauptete eine Architektin, dass | |
Handwerker vertraglich verlangen würden, einen Parkplatz vor der Tür zu | |
garantieren. „Sonst lachen die und kommen nicht. Die haben ja genug zu | |
tun.“ | |
Sogar bedrohte Bäume werden gegen die Radler ins Feld geführt. Wenn | |
Planungen einzelne Baumfällungen vorsehen, beschweren sich Anwohnende über | |
die Zerstörung der Natur. Dass Ausgleichspflanzungen mit | |
klimawandelresistenteren Arten vorgesehen sind, gilt nicht: Die kuschelige | |
Baumreihe vor der Haustür, zwar ständig zugeparkt und wegen massiver | |
Bodenverdichtung erkrankt – die zählt. | |
## Die Bürgermeisterin will alle mitnehmen – aber wohin? | |
Oberbürgermeisterin [6][Sibylle Keupen] (parteilos, für die Grünen | |
angetreten), im Amt seit Ende 2020, spricht gerne davon, „alle mitnehmen“ | |
zu wollen. Gemeint ist: keinem wehtun, also die Quadratur des Kreises. | |
Massiv blamiert hatte sich die Stadtverwaltung schon im Sommer. Auf einer | |
Kreisstraße im Ortsteil Forst, wo eine Radvorrangroute aus Randbezirken | |
entlangführen sollte, fand man nach Parkplatz-Protesten für 400 Meter | |
Strecke keine Lösung. Also bekommt die Route eine Lücke, die routinierten | |
RadlerInnen mögen wie gehabt die enge Straße befahren, die ängstlicheren | |
halt durch das Wohngebiet nebenan kurven. Solches Versagen nennt die Stadt | |
„duale Führung“. | |
Auch bei vorläufigen Pop-up-Bikelanes, wie sie vor allem in Berlin ab 2020 | |
gebaut wurden, haben Politik wie Verwaltung in Aachen bislang abgewunken. | |
Nein, wenn schon, dann „grundhaft herangehen“, so die Leiterin des | |
Dezernats Stadtentwicklung. Dabei blieb es dann. Die Folge in der Radszene, | |
so Almuth Schauber: „Ernüchterung, Verdrossenheit, Unverständnis und auch | |
Wut.“ | |
Private Parkplätze im öffentlichen Raum halten viele Aachener offenbar für | |
ein Grundrecht. Deshalb solle die Stadt zunächst einmal Quartiergaragen | |
bauen, heißt es, zudem müsse das Busnetz ausgebaut werden. Auch müssten die | |
Tickets billiger werden. | |
Eine besondere Logik entwickelte diese Anwohnerin: Die dichte Parkreihe in | |
ihrer Straße müsse bleiben, weil sie Kinder auf dem Bürgersteig vor dem | |
Autoverkehr schütze. Parkblech also als Schutzwall vor dem Fahrblech! In | |
der Autorepublik Deutschland können uns nur Autos vor Autos schützen. | |
Bei der nachgeholten BürgerInnen-Anhörung Vaalser Straße in der vergangenen | |
Woche setzte es noch einmal neue Argumente: Was passiere, wenn man mal | |
einen Container abstellen will? Wie bei beengten Straßen eine Rettungsgasse | |
funktionieren solle? Geschütze Radwege könnten zudem „Autofahrer | |
verwirren“. Besser, so das Argument, sei es doch, Radwege generell auf | |
Nebenstrecken zu verlegen. Ein Arzt sagte: „Die Patienten kommen zu uns | |
wegen der guten Parkplätze“, und da seien auch „lebensbedrohlich erkrankte | |
Patienten“ dabei. Ein anderer Mediziner sekundiert: „Wo können unsere | |
behinderten Patienten dann parken, wenn die Parkplätze wegfallen?“ | |
Zu erwarten ist, dass die Politik wieder einmal nach einem Kompromiss | |
fahnden wird, der niemandem gefällt. Auch Almuth Schauber ist enttäuscht | |
über endlose Mühsal. Die Verkehrsverwaltung spreche, sagt sie, wolkig von | |
„einem Knaller“, der bis Ende 2023 bevorstehe. „Niemand weiß, was das se… | |
soll. Besser wäre es, eine Vision konkret zu machen.“ | |
Vor allem, sagt Schauber, seien diejenigen Städte bei der Verkehrswende | |
bislang erfolgreich gewesen, in denen Verantwortliche alle Pläne | |
„persönlich zur Chefsache erklärt haben, ob Paris, Oslo, Kopenhagen, | |
Vancouver. Da klappt es.“ Ein indirekter Hinweis an Aachens | |
Oberbürgermeisterin Keupen, die zwar selbst passionierte Radfahrerin ist | |
und sogar die „Modellstadt der Nachhaltigkeit“ versprach, aber in den | |
Dauerdebatten wie abgetaucht wirkt. Schauber: „Wer im Wahlkampf damit | |
wirbt, muss dann auch Verantwortung zeigen.“ | |
19 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.vaals.nl/deutsch/wohnen-und-leben-in-vaals | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Vaalserquartier | |
[3] /Erfolgreicher-Radentscheid-in-Aachen/!5630870 | |
[4] https://www.aachener-nachrichten.de/ | |
[5] https://radentscheid-aachen.de/ueber-uns/ | |
[6] /Kommunalwahl-in-Nordrhein-Westfalen/!5716868 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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