# taz.de -- Verfassungsschutzchef über NSU-Terror: „Keine umfassende Klarhei… | |
> Verfassungsschutzpräsident Haldenwang räumt ein: In seinem Amt gelte der | |
> Umgang mit den NSU-Verbrechen als „vollständiges Versagen“. | |
Bild: In diesem Haus in Kassel wurde Halit Yozgat 2006 erschossen | |
taz am wochenende: Herr Haldenwang, vor zehn Jahren, am 4. November 2011, | |
erschossen sich die Thüringer Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe | |
Böhnhardt – und Beate Zschäpe verschickte die NSU-Bekennerschreiben. In den | |
Folgetagen offenbarte sich die [1][schwerste Rechtsterrorserie der | |
Bundesrepublik]. Sie gehörten damals zur Führung im Bundesamt für | |
Verfassungsschutz. Wie haben Sie reagiert, als Sie von diesen Vorgängen | |
erfuhren? | |
Thomas Haldenwang: Das war in der Tat ein einschneidendes Ereignis. Es | |
herrschte eine große Aufgeregtheit im Hause, immer wieder gab es | |
Besprechungen. Präsident Fromm veranlasste umgehend, dass keinerlei | |
Material aus diesem Themenkomplex vernichtet werden durfte und eine | |
Aufarbeitung startete. | |
Es war eine Bankrotterklärung: Da ermordet eine rechtsextreme Terrorzelle | |
über Jahre zehn Menschen in Deutschland, verletzte viele weitere durch | |
Anschläge – und der Verfassungsschutz hat das nicht erkannt. | |
Auch in unserer Mitarbeiterschaft wurde das als Tiefpunkt und vollständiges | |
Versagen empfunden. Das zeigte sich auch darin, mit welchem Eifer die | |
Mitarbeitenden bei den anschließenden Reformen mitgewirkt haben -eben weil | |
sie so betroffen waren. Natürlich war das Bundesamt für Verfassungsschutz | |
nicht die einzige Sicherheitsbehörde, die mit diesem Sachverhalt befasst | |
war. Der wesentliche Fehler war die mangelnde Zusammenarbeit der Behörden. | |
Nicht alle Mitarbeiter schienen so betroffen. Einer, Tarnname Lothar | |
Lingen, schredderte bereits am 10. November 2011 [2][mehrere Akten von | |
Thüringer V-Männern]. Können Sie heute sagen, warum? | |
Ich bin da heute auch nicht schlauer als all die anderen, die versucht | |
haben, diesen Sachverhalt aufzuklären. Fakt ist: Das war eine massive | |
Pflichtverletzung, ein Fehlverhalten einer Einzelperson. Diese Aktion war | |
nicht im Bundesamt veranlasst, kein Vorgesetzter hat das angeordnet. Lingen | |
selbst hat sich ja dazu im Untersuchungsausschuss geäußert. Er habe wegen | |
der großen Zahl der V-Leute in Thüringen nicht die Frage aufkommen lassen | |
wollen, warum wir nicht über die Aktivitäten des Trios informiert waren. | |
Das ist nicht unplausibel. Auch ist es uns gelungen, die wesentlichen | |
Inhalte der Akten zu rekonstruieren, so dass wir diese den | |
Untersuchungsausschüssen vorlegen konnten. Dennoch haben wir keine | |
umfassende Klarheit über das Motiv. | |
Die Akten betrafen V-Leute aus dem Thüringer Heimatschutz – in dem sich | |
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe radikalisiert haben. Mit dabei war auch die | |
Akte von V-Mann “Tarif“, der später angab, er hätte das untergetauchte Tr… | |
beherbergen und auffliegen lassen können – sei von seinem V-Mann-Führer | |
aber daran gehindert worden. | |
Das haben wir aufgeklärt und weisen diese Behauptung zurück. Weder in den | |
rekonstruierten Akten noch in Aussagen damals beteiligter Mitarbeitender | |
gab es Hinweise, dass dieser Vorhalt des V-Manns zutreffend ist. | |
Es war ja nicht nur “Tarif“. Im Umfeld des NSU-Trios bewegten sich rund 30 | |
V-Leute. Kaum zu glauben, dass der Verfassungsschutz nichts vom Treiben der | |
Untergetauchten mitbekam. | |
So ist es aber. Welches Interesse sollte ich haben, Fehlverhalten des | |
Verfassungsschutzes zu decken? Im Gegenteil habe ich, seit ich mit diesen | |
Vorgängen ab 2012 zu tun hatte, alles mir Mögliche getan, um diesen | |
Sachverhalt aufzuklären, und habe auch die verschiedenen | |
Untersuchungsausschüsse unterstützt und Sonderermittlern umfangreichen | |
Einblick in die Akten gewährt. Aber trotz all dieser Bemühungen und des | |
Prozesses gegen Beate Zschäpe können wir heute keine andere Geschichte des | |
NSU schreiben. | |
Die Opferfamilien können nicht glauben, dass über 14 Jahre kein V-Mann und | |
keine Behörde etwas über den Verbleib und das Tun der Untergetauchten | |
wusste. | |
Ich habe großes Mitgefühl mit den Familien und kann nur zu gut verstehen, | |
dass sie unglücklich sind mit dieser ganzen Situation. Auch ich bedaure | |
sehr, dass über so lange Zeit die Motive für die Morde bei den Familien | |
selbst gesucht wurden und später die Aufklärung nicht voran kam. Wenn ich | |
irgendwie könnte, würde ich den Familien gerne helfen. Mit Betroffenen des | |
Anschlags in der Keupstraße habe ich mich auch schon einmal getroffen. | |
Sie könnten den Betroffenen helfen, indem Ihr Amt die NSU-Akten vollständig | |
offenlegt. Das ist – anders als es eben klang – bis heute nicht passiert. | |
Und in Hessen wurden NSU-Akten anfangs ja gar für 120 Jahre als geheim | |
eingestuft. | |
Diese Einstufung würde ich nicht teilen und ich war froh, als die Akten | |
dann heruntergestuft und dem hessischen Untersuchungsausschuss vorgelegt | |
wurden. Klar aber ist auch: Wenn wir alles offenlegen, bestünde die Gefahr, | |
dass unsere Quellen enttarnt würden, was in der Vergangenheit auch schon | |
geschehen ist. Das kann zur Gefahr für Leib und Leben dieser Menschen | |
führen, und dann würde künftig auch niemand mehr mit uns zusammenarbeiten. | |
Insofern muss Quellenschutz für uns Vorrang haben. | |
Auch bei zehn Morden? Was muss denn noch geschehen, um vollständige | |
Aufklärung einzufordern? | |
Auch in solch einem dramatischen Fall gilt es, Leib und Leben unserer | |
Quellen zu schützen. Das ist auch von Gerichten so anerkannt. | |
Die Opferfamilien sind auch überzeugt, dass es [3][jenseits des Trios | |
Helfer gab], gerade an den Tatorten. Die Behörden halten dagegen an der | |
Trio-These fest. Sie auch? | |
Wir wissen von zahlreichen Personen im Umfeld des Trios, die es unterstützt | |
haben. Und auch für mich ist die Frage offen, wer eigentlich die Auswahl | |
der Opfer getroffen hat und wer die Täter logistisch bei ihren Reisen | |
durchs ganze Bundesgebiet unterstützte. Aber: Weder die Sicherheitsbehörden | |
noch die Untersuchungsausschüsse oder die Gerichtsverfahren haben Anfasser | |
für weitere Täter gefunden. Seien Sie sicher: Sollten sich neue Spuren | |
ergeben, würden die Behörden diesen nachgehen. | |
Beim NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel war sogar ein Verfassungsschützer | |
am Tatort: Andreas Temme. Ist dessen Rolle für Sie heute geklärt? | |
Auch ich kann diesen Vorgang bis heute sehr schlecht einordnen. Generell | |
teile ich die Unzufriedenheit der Angehörigen und der | |
Untersuchungsausschüsse darüber, dass vieles nebulös erscheint. Herr Temme | |
war V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes. Man hat ja schon | |
viele Anläufe unternommen, Herrn Temme zu befragen und das aufzuklären. Wie | |
es wirklich war, könnte nur Herr Temme sagen – aber er sagt es nicht. Also | |
werden wohl auch hier offene Fragen bleiben. | |
Wenn man das alles zusammen nimmt: Hat der Staat eine Mitverantwortung für | |
den NSU-Terror? | |
Die Verantwortung liegt zunächst mal bei den Tätern, Punkt. Aber natürlich | |
haben die Sicherheitsbehörden ihren Auftrag nicht in der Weise erfüllt, wie | |
man es von ihnen erwarten darf. | |
Der Verfassungsschutz hat nach dem NSU-Auffliegen Reformen eingeleitet, am | |
V-Leute-System aber hielt Ihr Amt fest. Warum ausgerechnet das? | |
Wir versuchen, mit nachrichtendienstlichen Mitteln Erkenntnisse zu | |
generieren. Und da ist der Werkzeugkasten sehr überschaubar. Wenn einem | |
aber daran gelegen ist, Insiderwissen zu generieren und zu erfahren, was in | |
den Hinterzimmern besprochen wird, dann braucht es letztlich das Mittel der | |
V-Personen. In vielen Fällen ist es das einzig wirksame Instrument. | |
Informationen von V-Personen haben uns in der Vergangenheit entscheidend | |
bei der Bewertung von Beobachtungsobjekten geholfen und auch Maßnahmen der | |
Strafverfolgungsbehörden erst ermöglicht. | |
Aber was bringen V-Leute, die wie im Fall NSU nichts Wesentliches | |
mitteilen, aber stattdessen mit Staatsgeldern die Szene aufbauen? | |
Im Fall NSU gab es Mängel bei der Auswahl und der Führung der V-Leute. | |
Inzwischen haben wir hierfür aber ganz andere Standards. Heute werden keine | |
Führungsfiguren der Szene mehr angeworben, die großes Interesse daran | |
haben, nur taktisch zu berichten, wie damals Tino Brandt. Wir werben auch | |
keine schweren Straftäter mehr an. Das V-Mann-Salär darf nicht so hoch | |
sein, dass man davon seinen Lebensunterhalt bestreiten kann und das Geld | |
darf nicht zur Finanzierung der Szene eingesetzt werden. Die V-Mann-Führung | |
wechselt grundsätzlich nach bestimmten Zeiten. Und es gibt seit der | |
Einführung der V-Mann-Datei auch keinen Wildwuchs mehr. Damals gab es | |
keinen gesamten Überblick, welche Sicherheitsbehörden in welcher Szene | |
welche Quellen hatten. | |
Wie viele V-Leute setzt Ihr Amt denn heute in der rechtsextremen Szene ein? | |
Zu Zahlen kann ich nichts sagen. | |
Zumindest weniger als früher? | |
Ja, weniger. Aber: Aufgrund der Reformen können wir das Instrument | |
wirkungsvoller einsetzen. | |
Im Fall des Mordes am Kasseler [4][Regierungspräsidenten Walter Lübcke] | |
erkannten aber erneut weder der Verfassungsschutz noch seine V-Leute, dass | |
der Attentäter – ein langjähriger Rechtsextremist – wieder gefährlich wa… | |
Bei dem Täter gab es in unserem Bundesamt keine Erkenntnisse für eine | |
andere Einschätzung und nach zehn Jahren sind die Akten pflichtgemäß zu | |
löschen. Im Übrigen gibt es kein Patentrezept zur Aufdeckung von | |
Anschlagsplänen. Aber ich möchte auch daran erinnern, dass wir einige | |
Erfolge hatten. Wir haben zahlreiche Terrorgruppierungen in den vergangenen | |
Jahren enttarnt und der Justiz zugeführt, teilweise auch mithilfe von | |
V-Leuten. Ich erinnere an Gruppen wie OSS, Gruppe Freital, Revolution | |
Chemnitz oder die Gruppe S. Und mit der Einrichtung des Gemeinsamen | |
Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums, als direkte Konsequenz aus dem | |
NSU, haben wir eine behördenübergreifende Plattform für einen besseren | |
Informationsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz von Bund und | |
Ländern geschaffen. Das funktioniert außerordentlich gut. Dadurch würde man | |
heute so einen Fall wie den NSU früher erkennen können. | |
Sind Sie sicher? An der Analysefähigkeit Ihres Amtes gibt es immer wieder | |
Kritik. Zu NSU-Zeiten schloss Ihr Amt aus, dass es einen Rechtsterrorismus | |
gibt. Oder gerade erst wurde das neurechte [5][Institut für Staatspolitik] | |
vom Landesamt in Sachsen-Anhalt eingestuft – vor dem Experten seit vielen | |
Jahren warnten. | |
Das BfV beobachtet das Institut schon länger als Verdachtsfall. Bei einer | |
solchen Einstufung müssen wir immer rechtsstaatlich vorgehen. Ich kann eine | |
Organisation nur beobachten, wenn es hinreichende tatsächliche | |
Anhaltspunkte für eine Verfassungsfeindlichkeit gibt. Alles, was ich | |
öffentlich sage oder schreibe, muss vor Gerichten Bestand haben. | |
Mit Ihrem Amtsantritt im November 2018 erklärten Sie den Rechtsextremismus | |
zur größten Bedrohung. Warum kam diese Erkenntnis erst so spät? | |
Das ist immer auch eine Frage von Ressourcen. Es wird sehr schnell | |
verdrängt, dass wir es in den Jahren vor 2018 sehr intensiv mit dem | |
islamistischen Terrorismus zu tun hatten, mit Anschlägen in ganz | |
Westeuropa. Deshalb wurde ein Großteil der Ressourcen auf diesem Gebiet | |
eingesetzt. Seit meinem Amtsantritt habe ich unsere | |
Rechtsextremismus-Abteilung personell nahezu verdoppelt und in dichter | |
Folge rechtsextremistische Organisationen zu Beobachtungsobjekten erklärt. | |
Einigen reicht das nicht. Die Linke und andere fordern bis heute die | |
Abschaffung Ihres Amtes – stattdessen soll ein unabhängiges Institut die | |
Arbeit übernehmen. | |
Dann würde ich mir Sorgen um die Sicherheit in diesem Land machen. Denn so | |
ein Institut wäre ja rein auf öffentlich zugängliche Quellen angewiesen. | |
Wenn extremistische Bedrohungen aber erst ab einer Schwelle der | |
Polizeireife bekämpft werden, dann glaube ich, ist es in vielen Fällen viel | |
zu spät. Dann würden wir unserer Rolle als Frühwarnsystem nicht mehr | |
gerecht werden. Insofern würde ich niemanden zu diesem Schritt raten. Und | |
es wäre zudem einmalig in der Welt. | |
Wie groß ist heute die Gefahr des Rechtsterrorismus? | |
Die Zahl der Rechtsextremisten steigt, auch deren Gewaltorientierung. Wo | |
früher Gewalt von Kameradschaften oder klassischen Neonazis ausging, müssen | |
wir uns heute mit Lone Wolves beschäftigen, selbst radikalisierten | |
Einzeltätern wie in Halle oder Hanau. Hinzu kommt das Internet als | |
Instrument für Propaganda, Radikalisierung und Vernetzung. Da gibt es eine | |
gewaltige Dynamik. Daher habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder | |
vor den Gefahren durch Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus gewarnt. | |
Außerdem kennen wir Fälle von Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden. Von | |
diesen kann ein erhöhtes Gefahrenpotential ausgehen, weil sie | |
möglicherweise Zugang zu sensiblen Daten, zu Waffen und zu Munition haben. | |
Das ist eine spezifische Form von Gefahr, zu der wir im Frühjahr ein | |
zweites Lagebild vorlegen werden. | |
Ist es nicht verrückt, dass ausgerechnet Hans-Georg Maaßen nach dem | |
NSU-Desaster 2012 als neuer Präsident und Ihr Vorgänger das Bundesamt | |
aufräumen sollte – ein Mann, der zuletzt immer offener nach rechts rückte? | |
Ich bitte um Verständnis, dass ich mich einer guten Tradition folgend, | |
nicht öffentlich zu meinem Vorgänger im Amt äußere. Zu dem Reformprozess | |
kann ich Ihnen aber versichern: Ich habe diesen Prozess in meinen | |
Positionen im Bundesamt immer vorangetrieben und zuletzt klare Akzente | |
gesetzt. Bitte messen Sie mich an meinem Handeln. | |
24 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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