# taz.de -- Unterwegs auf dem Reeperbahn-Festival: Allein unter QR-Codes | |
> Das Hamburger Reeperbahn Festival hat ausprobiert, ob es auch unter | |
> Pandemiebedingungen funktionieren kann. Aber ein echtes Festival geht so | |
> nicht. | |
Bild: Abstandsgebot klar eingehalten: Konzert beim Hamburger Reeperbahn Festival | |
HAMBURG taz | An jeder Tür die gleiche Frage. Ehe ich den QR-Code gescannt | |
und meine Daten hinterlassen habe, ehe ich mir die Hände desinfiziert habe, | |
ehe ich von freundlichen Menschen mit beinahe angenehmer Resolutheit zu | |
meinem festen Sitzplatz im Publikumsbereich geführt werde, werde ich | |
ausgehorcht. Fast immer ohne Begrüßung, denn irgendwo muss man ja Zeit | |
sparen. „Bist du alleine?“, wird also gefragt. Wenn ich es nicht besser | |
wüsste, müsste ich annehmen, dass man mir an den Türen der Clubs permanent | |
mein Single-Dasein vorhalte. | |
Aber nein: Die zusätzlich abgestellten Platzanweiser*innen achten peinlich | |
genau auf 1,50 Meter Abstand und platzieren mich dementsprechend. Die Türen | |
schließen sich, keine*r kommt noch rein, das Konzert beginnt. Es ist | |
September 2020, und da ist beim 15. Reeperbahn Festival (RBF) in Hamburg | |
alles anders. „Ein Zeichen“ sei das diesjährige Festival, so hatte es | |
SPD-Kultursenator Carsten Brosda bei der Eröffnung gesagt: „ein Zeichen | |
dafür, was möglich ist, wenn wir es wirklich wollen“. | |
Mehr als eine Million Euro zusätzlich hatten Bund und Stadtstaat locker | |
gemacht, um eine pandemiegerechte Umsetzung zu ermöglichen. Die wollten es | |
wirklich – genauso wie die Künstler*innen, die Bühnentechniker*innen und | |
die Clubinhaber*innen, die nun wenigstens vier Tage lang arbeiten und Geld | |
verdienen durften. Auch Acts wie Weval, Charlotte Brandi und die für den | |
Nachwuchspreis „Anchor“ nominierten L’Eclair wären sicher gerne | |
aufgetreten, konnten jedoch nicht anreisen – immerhin gab es darüber hinaus | |
kaum Absagen. | |
Man sehne sich nach „Bone-Cracking“-Konzerten, sagte Brosda noch, und wer | |
je im saunaheißen Molotow zum Lärm einer Gitarrenband geschwitzt und auch | |
einmal einen Ellenbogen zu spüren bekommen hat, wusste, wovon der Senator | |
da sprach. In diesem kulturell freudlosen Jahr hielt sich die Sehnsucht der | |
Zuschauer*innen allerdings in Grenzen: 2.500 Karten waren pro Tag | |
verfügbar, doch am Eröffnungs-Mittwoch wurden nicht einmal halb so viele | |
verkauft. | |
In herrlicher Nachmittagssonne schlendere ich an den Kreidemarkierungen vor | |
der kleinen Bühne am Heiligengeistfeld vorbei. Hier darf man sogar stehen – | |
eine Rarität. Zur großen „Festival Village“-Bühne geht es einen langen, | |
staubigen Weg entlang, es folgen Desinfektion, Taschenkontrolle und, klar, | |
QR-Code-Check. | |
Unter einem großes Sonnendach bietet sich ein trister Anblick: Die | |
Stuhlreihen darunter sind kaum zu einem Drittel gefüllt, 900 | |
Zuschauer*innen könnten hier Platz finden. Akua Olatunji, angereist aus | |
Köln, gibt sich alle Mühe, ihre gute Laune auf das Publikum zu übertragen. | |
Unter dem Namen Akua Naru fetzt die Frau mit kraftvollem R&B, Rap und Soul | |
über die Bühne. Was sie nicht ändern kann: die Hände im Takt zu schwenken | |
fühlt sich im Sitzen einfach blöd an. | |
Die Angst vor einem einseitigen Sonnenbrand ist hier eindeutig stärker als | |
die vor einer Viren-Übertragung. Ein sichereres Festival ist kaum | |
vorstellbar – zumal die Desinfektions-Pflicht teils absurde Ausmaße | |
annimmt: Am Eingang zum Hochbunker auf dem Heiligengeistfeld die Haut mit | |
Hochprozentigem einreiben – und 50 Meter weiter, direkt vor dem | |
„Resonanzraum“ erneut? | |
Für die Band, die am Donnerstagabend ganz oben auftritt, im Uebel & | |
Gefährlich, bin ich viel zu spät dran. Ein Glücksfall: Calby, den ich drei | |
Bunker-Etagen tiefer erlebe, ist eines dieser Talente, von denen man in | |
wenigen Jahren hofft, sagen zu können, „den habe ich noch mit 50 anderen | |
gesehen“. | |
Nun sind mehr als 50 Zuschauer*innen bei diesem RBF drinnen auch fast | |
nirgendwo möglich. Sei’s drum: Der dänische Sänger hat eine grandiose | |
Stimme, er ist, was man eine „Soul-Hoffnung“ nennt. Der nächste John Mayer, | |
oder wenigstens der nächste Jason Mraz? | |
„Endlich mal ein Reeperbahn Festival ohne Kater“, scherzt ein Freund. Er | |
arbeitet in der Musikindustrie, da ist es üblich, bei den abendlichen | |
Get-Togethers reichlich zu den Freigetränken zu greifen. Die Business-Seite | |
ist diesmal kaum existent, internationale Gäste sind höchstens aus dem | |
Partnerland Dänemark angereist. Das Konferenz-Programm fand komplett online | |
statt – gleich zum Auftakt mit einem 45-minütigen Server-Absturz. Später | |
wurde dann einmal mehr über die Zukunft des Musikjournalismus debattiert; | |
einen Channel weiter redeten St.-Pauli-Präsident Oke Göttlich und | |
SPD-Jungspund Kevin Kühnert erst mal über Fußball. | |
## So hoffentlich nie wieder | |
Besser also, sich auf die Musik zu konzentrieren. Dass nach Konzertbeginn | |
niemand mehr reingelassen wird, hat seine Vorteile: niemand poltert | |
geräuschvoll mitten in eine hochsensibles Singer/Songwriter-Set. Tara Nome | |
Doyle, zum Beispiel, profitiert davon: Die norwegisch-irische Sängerin hat | |
die Stimme und die Songs, um die neue Florence Welch (Florence and the | |
Machine) zu werden. Wer im Knust zu den 45 Hörer*innen ihres nachtschwarzen | |
Chanson-Pops gehört, fühlt sich beinahe auserwählt. | |
Und tappt danach in die einsame, kalte Nacht auf St. Pauli. Alleine fühlt | |
man sich sonst nie bei einem RBF, stolpert man doch angesichts von 10.000 | |
täglichen Besucher*innen ständig in Bekannte hinein, und manchmal sogar in | |
den Gitarristen, den man eben noch so bewundert hat. Nicht so 2020 – auf | |
Abstand macht man keine Freunde. | |
Das Reeperbahn Festival, Corona-Edition, hat verdeutlicht: Natürlich sollte | |
man das wollen, und natürlich macht das ab und zu auch Spaß. Aber ein | |
Festival ohne echte Begegnungen ist keins. Und passiert so hoffentlich nie | |
wieder. | |
22 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Jan Paersch | |
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