# taz.de -- Untersuchung zur Remigration: Dachgauben und rote Tonziegel | |
> In ihrer Studie „Migration der Räume“ zeigt die Künstlerin Stefanie | |
> Bürkle: Mit den Menschen wandern auch die Architekturen. | |
Bild: Sogenanntes Vorbildhaus eines Gastarbeiters aus dem Ruhrgebiet an der Sch… | |
Es tut sich eine recht verquere Perspektive auf, schaut man heute auf die | |
Architektur von türkischen Remigranten. Aus dem fernen Deutschland vermeint | |
man zunehmend ein gesellschaftliches Auseinanderbrechen der Türkei zu | |
beobachten und dort bauen sich zurückgekehrte Gastarbeiter Häuser, deren | |
Details von der idyllischen Heimeligkeit und Privatheit der deutschen | |
Wohnkultur erzählen. | |
Als die Künstlerin und Professorin an der Architekturfakultät der | |
TU-Berlin, Stefanie Bürkle, 2012 ihre Untersuchungen zu der Architektur von | |
Remigranten begann, da haben die jetzigen politischen Umstände diese Häuser | |
noch nicht so ins Absurde gerückt wie heute, sondern sie waren einfach eine | |
Kuriosität. | |
Türkische Bauarten vermengen sich darin mit Stereotypen deutscher | |
Wohnhausarchitektur. Diese Architektur, ihre ganze Erscheinung und Nutzung | |
spiegelt ein soziologisches Phänomen wider, nämlich die hybride Identität | |
von Menschen, die über Dekaden als Gastarbeiter in Deutschland lebten, in | |
ihre Heimat wieder zurückkehrten und von beiden Welten, Heimat und | |
Gastland, geprägt sind. | |
Nach vier Jahren Recherche hat Bürkle ihre Studien über diese | |
eigentümlichen Häuser in einer Publikation zusammengefasst, bereichert um | |
architekturhistorische und soziologische Essays. | |
## Rückkehrersehnsucht | |
488.000 ehemalige Gastarbeiter oder ihre in Deutschland geborenen Kinder, | |
so zitiert Bürkle statistische Quellen in ihrem Buch, leben jetzt wieder in | |
der Türkei. Das eigene Haus ist das Objekt der Rückkehrsehnsucht. In seiner | |
Architektur und Einrichtung verdichtet sich der Heimatwunsch; und die | |
Zwischenzeit in der Ferne, in der dieser Wunsch jahrelang gehegt wurde. | |
So kommen die Hobbykeller auf den Grundriss, die Filterkaffeemaschine in | |
die Küche und ein Ziergarten vors Haus, mit einem Rasen, der nach deutscher | |
Manier „wie ein schöner, grüner Teppich aufgeräumt und sauber sein soll“, | |
so der Hausbesitzer Vural Caliskan. | |
Als „Transtopien“ bezeichnet der Soziologe Erol Yildiz in einem | |
programmatischen Aufsatz der Publikation die Orte, an denen Heimat (oder | |
eine Vorstellung von ihr) und die Aneignung der Gastlandkultur räumlich | |
formuliert werden. „Transtopie“ entfernt sich als positives Phänomen von | |
der leidvollen Dichotomie von „Fremde“ und „Zugehörigkeit“. | |
In Yildiz postmigrantischer Betrachtung gibt es das Motiv einer | |
„Zerrissenheit“ der Rückkehrer zwischen den Kulturen nicht mehr. Vielmehr | |
haben sich diese Menschen aus ihren Erfahrungen einen eigenständigen | |
„Zwischenraum“ oder „Dritten Raum“ geschaffen. Und eben jenen Raum | |
definieren die Häuser und ganze Siedlungen von Rückkehrern, die Bürkle in | |
ihrer Studie vor allem in den Mittelmeerregionen und in der Peripherie | |
großer Städte im Westen wie Bursa, Izmir oder Istanbul ausmacht. | |
## Architektur ohen Architekten | |
Was entsteht nun ästhetisch in diesen Dritten Räumen? Bürkle sagt: eine | |
Architektur ohne Architekten. Gebäude also, die ohne die gestalterische | |
Hoheit eines Architekten entwickelt wurden, mit allen Ungereimtheiten und | |
stilistischen Mixturen, die dabei auftreten können. | |
Etwa Typen, die Bürkle trocken sachlich als „Zweiteile-Haus“ bezeichnet. | |
Ungewöhnliche Gebilde, in einem türkischen Lokalstil begonnen, an denen | |
deutsch anmutende Gebäudeteile mit Ziegelspitzdach, Laubenbalkon oder | |
Backsteinfassade andocken. | |
Dabei wird diese ungeleitete Architektur zum Ausdruck ganz eigener | |
Geschichten und Wünsche ihrer Bewohner. Das Haus von Birol Yildirim zum | |
Beispiel: 1964 kam er als Bergwerkslehrling ins Ruhrgebiet, lebte zwanzig | |
Jahre in Deutschland. In einem Duisburger Kramerladen fand er das Bild | |
einer deutschen Idylle: Ein Steinhäuschen mit Spitzdach und Schornstein | |
versinkt in eine waldige Umgebung. | |
Zurückgekehrt an die Schwarzmeerküste hegte Yildirim jahrelang den Wunsch | |
eben ein solches Haus für sich zu bauen. Die Pläne dafür holte er sich | |
schließlich aus dem Internet. Wie auf dem Gemälde hat sein Haus nun ein | |
Dach mit roten Ziegeln aus Ton, Gauben und zwei Stockwerke. | |
## Ausgestopfte Rebhühner | |
Stefanie Bürkle dringt mit ihrer Studie tief in die hybride Lebenswelt der | |
Rückkehrer vor. Sie deckt mit ihren Fotos von Wohnzimmern mit blickdichten | |
türkischen Vorhängen vor Fenstern mit Kopien altdeutscher Butzenscheiben | |
und ausgestopften Rebhühnern, an denen ein Nazar-Amulett hängt, die intime | |
und rührende Ausformulierung dessen auf, was Yildiz abstrakt als „soziale | |
Praxis dazwischen“ bezeichnet. | |
Doch der Emotionalität ihres Untersuchungsgegenstands weicht Bürkle aus. | |
Den Kulturtransfer zwischen Deutschland und der Türkei, der sich in den | |
privaten Räumen der Rückkehrer abzeichnet, arbeitet sie technokratisch ab. | |
Nach Kategorien wie etwa dem „Garten“, dem „Arbeitszimmer“ oder der „… | |
sortiert sie ihre Fallstudien. Drei Gebäudetypen macht sie aus der Fülle | |
der untersuchten Wohnhäuser und ihrer Bewohner aus: Das „Modellhaus“, das | |
„Zweiteile-Haus“ und das „Mehrschicht-Haus“, die sie mit Infografiken | |
illustriert. | |
Am Ende der Lektüre ihres Bucheseröffnet sich dann eine unerwartete, | |
traurige Einsicht: In der Architektur der Rückkehrerhäuser und ihrer | |
sorgfältig zurechtgesteckten Ding-Umgebung, in all den Objekten, die diesen | |
postmigrantischen Zwischenraum formen, schlägt sich eine Sehnsucht ihrer | |
Bewohner nach Sesshaftigkeit und einer eigenen Heimat nieder. Eine | |
Sehnsucht, die jetzt, heute in der zerrissenen Türkei, von einer Tragik | |
spricht. Nicht alle wollen oder können mehr in dem Land sesshaft werden. | |
18 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
## TAGS | |
Architektur | |
Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan | |
Gastarbeiter | |
Buch | |
Urbanität | |
Anohni | |
Rollenbilder | |
Architektur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Buch zu Massenwohnungsbau in der Ukraine: In der Küche kommt man zusammen | |
Die Architekturforschenden Kataryna Malaia und Philipp Meuser | |
katalogisieren Massenwohnungsbau in der Ukraine. Ihr Buch würdigt die Rolle | |
der Städte. | |
Konferenz in Ankara: Gemeinsame Wissensproduktion | |
Über Orte, Menschen und Umstände jenseits der gelenkten Bilder diskutieren: | |
Actopolis brachte in Ankara Aktivisten zusammen. | |
Anohni-Konzert in Berlin: Sorgenfalten und Drohnenkrieg | |
Die britische Transgender-Künstlerin Anohni gab ein Konzert im Berliner | |
Tempodrom. Ihre unbeholfene Divenhaftigkeit ist wunderbar. | |
Ausstellung in Berlin: Vielschichtige Verknotung | |
Gülsün Karamustafa ist eine der wichtigsten Künstlerinnen der Türkei. Um | |
Migration geht es, um Gender und Feminismus | |
Architektin Zaha Hadid verstorben: Frau, Araberin, Architektin | |
Zaha Hadid ist im Alter von 65 Jahren gestorben. Ihre mutige Ästhetik | |
bleibt eine ungeheure Bereicherung für die Architektur. |