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# taz.de -- Theaterstück „Pfisters Mühle“: Morgen war alles besser
> In Braunschweig dramatisiert Rebekka David den frühen Umweltroman
> „Pfisters Mühle“ als nostalgische Schauergeschichte über zerrüttete
> Identitäten.
Bild: Kein Zucker ist auch keine Lösung: Szene aus „Pfisters Mühle“
Der Bach bleibt verpestet, die alte Mühle geschlossen, das Großkapital
siegreich. Und auch wenn [1][dieser Theaterabend] berechtigte Zweifel am
Beweinen der Heimat sät – und der guten alten Zeit –, stimmt er doch auch
ehrlich wehmütig wegen der Pfisters und ihres Familienbetriebs. Oder doch
wenigstens der Umwelt halber, weil der alte Mühlbach doch heute nur noch
tote Fische vorbeispült.
[2][„Pfisters Mühle“] gilt als einer der ersten Umwelt-Romane. Anfang der
1880er-Jahre hat Wilhelm Raabe hier die drohenden Verheerungen der
Industrialisierung ausgemalt und die Konkurrenz eines kleinen
Traditionsbetriebs gegen die Zuckerfabrik aus der großen Stadt beschrieben.
Und als Ökogeschichte hätte man wohl selbst die Heimatfrage auch dem
Braunschweiger Theaterpublikum unterjubeln können, zumal die Geschichte ja
auch noch hier entstanden ist und auf lokalem Geschehen beruht. Allein:
Regisseurin Rebekka David hatte für diesen Abend Besseres im Sinn.
Bezeichnend ist der Moment, als Emmy die Nerven verliert. Nina Wolf spielt
dieses „sehr junge Weibe“ des Mühlenerben und -verkäufers, mit dem sie ra…
aufs Land kam, um einen letzten Sommer auf dem Gut und in den
Kindheitserinnerungen ihres Gatten zu verbringen. Und so was ist eben
anstrengend, weil man die Geschichten irgendwann alle gehört hat, weil das
Miteinander mit der Schwägerin nervt und weil man als Fremde eben nicht
mitziehen kann, wenn die anderen in familiärer Regression abtauchen.
Und als die Müllerskinder nach ins atmosphärische Zwielicht und in den
Bühnennebel gesäuselten „Achs“ und „Jajas“ schließlich beginnen, wie…
quakend mit den Enten zu sprechen – da ist das Maß voll und die eigene
Geschichte drängt mit Wucht an die Oberfläche.
Obwohl Rebekka David eine moderne Perspektive auf die Erzählung entwickelt,
sind die Zweifel und Brüche im Stoff bereits angelegt, und das gar nicht so
sehr in der bemerkenswert gegenwärtigen Thematik, sondern in seiner
Struktur. Nicht zufällig ist es eine unter angehenden Germanist:innen
berüchtigte Fleißarbeit, Raabes verschachtelte Erzähl- und Zeitebenen
auseinanderzusortieren: in Binnenerzählungen, Rück- und Ausblicke auf
dieses oder jenes. Das leistet nun auch das Stück, nur geht es dem
Bühnenspiel weniger um Historizität der Ereignisse, sondern ums
Steckenbleiben in einer Vergangenheit, die ihr Versprechen auf Zukunft
nicht mehr einlösen konnte.
## Ein spukender Vater
Übergroß in traditioneller Müllerstracht schleicht Klaus Meininger als
Vater über die Bühne, der zwar tot ist, sich aber nicht exorzieren lässt.
Das versucht auch keiner, tatsächlich klammern sich Robert Prinzler und
Gina Henkel herzerweichend blöde an die alten Zeiten – an die Rückblenden
–, ringen mal halbherzig mit dem Über-Ich, singen dann aber selbstredend
doch wieder mit, wenn der Papa sein Weihnachtslied anstimmt.
Dass in Braunschweig der Kunstgriff gelingt, den universellen Familienknast
so nahtlos mit Fragen sich wandelnder Gesellschaften zu verzahnen, ist
Verdienst einer durchweg großartigen Ensembleleistung: Nur weil es hier
allen (und mit allen) so scheinbar leicht von der Hand geht, das
Zwischenmenschliche zu beleben, bleibt Luft für die Frage nach dem
diskursiven Rest.
Und liegt der Stoff erst werkgetreu auf dem Tisch, dreht der Abend erst
richtig auf. Ganz besonders Nina Wolf und Gina Henkel entwickeln den
klischeesatten Konflikt von Ehefrau und Schwester (hier die überdrehte
Großstadtgöre, da die sich aufopfernde Hysterikerin), lassen den scheinbar
zentralen Mann aber zügig beiseite und stürzen sich in wechselseitiger
Bissigkeit auf ihre eigenen Probleme und inneren Widersprüche: Kein Wehmut
ohne Häme, kein Spott ohne nagende Selbstzweifel.
## Zucker gegen das bittere Leben
Die Eskalation geht in die Breite: Das Mühlengerippe aus Pfeilern und
Leuchtreklame am Bühnenrand wird nach und nach mit Automaten für Limonade
und Schokoriegel bestückt: Vorboten des Zuckerfabrikanten aus Krickerode
und Seitenhieb gegen Coca-Cola, Mars, Nestlé und so weiter. Zucker gegen
die Bitterkeit des Lebens, heißt es einmal, was hier in einer rauschhaften
Fressorgie mündet, über die sich auch jüngere Texte in den Raabe
schleichen.
Emmys Wunsch, bei aller Wut dann doch dazuzugehören, wird etwa mit einem
Tocotronic-Zitat garniert, während Raabes Binnenlyrik nahtlos in
unverhohlenen Nonsense übergeht: „Dunkel wars, der Mond schien helle …“
Und so stehen sie da am Bühnenrand, die Handlung weit hinter sich, und
haspeln in elektrisierender Hektik durch philosophische Monologe über die
Fiktionalisierung des Autobiographischen, fragmentierte Ausführungen über
Retromanie, Hauntology und was nicht noch. Vielleicht ist es so was wie ein
Diskurs der eigenen Diskursivität: Alles ist irgendwie wahr – und wird doch
bloßer Sound postmoderner Identitätskrisen. Das klingt anstrengend und ist
es auch. Wie das Leben eben.
Seinen Höhepunkt findet der nostalgische Grundton der Inszenierung
schließlich in [3][Joe Espositos Schnulzenballade „Lady, Lady, Lady“], die
das spätromantische Früher am Mühlbach in einen weich gezeichneten
1980er-Jahre-Film verwandelt: Hundert Jahre nach Raabe, 40 vor heute – und
dabei doch so beklemmend wie traumhaft zeitlos.
1 Dec 2021
## LINKS
[1] https://staatstheater-braunschweig.de/produktionen/pfisters-muehle-ein-heim…
[2] https://www.projekt-gutenberg.org/raabe/pfister/pfister.html
[3] https://www.youtube.com/watch?v=XVvZ4-dTd64
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Theater
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