# taz.de -- Terror in Russland: Kein Widerstand in Sicht | |
> Nach dem Attentat bei Moskau werden Rufe nach der Einführung der | |
> Todesstrafe laut. Diese könnte dem Regime auch bei der Mobilisierung | |
> helfen. | |
Bild: Menschen versammeln sich am 27. März vor dem Anschlagsort in Moskau | |
BERLIN taz | Noch gibt es keine Untersuchungen darüber, wie die | |
Russ*innen den Terroranschlag vom [1][22. März 2024 in der Crocus City | |
Hall in Krasnogorsk] bewerten. Doch vorläufig lässt sich sagen, dass neben | |
einer selbstverständlichen Trauer zwei Reaktionen sichtbar geworden sind: | |
zunehmende Ängste von Oppositionellen und die passive Wut einer reaktionär | |
eingestellten und nicht sehr aktiven Masse auf ukrainische | |
„Terroristenkomplizen“. | |
Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, an [2][die Geiselnahme in | |
einer Schule im nordossetischen Beslan] in den ersten Regierungsjahren von | |
Wladimir Putin. Aufgrund der Intervention von russischen Sicherheitskräften | |
kamen im September 2004 mehr als 300 Menschen, vor allem Kinder, ums Leben. | |
Unmittelbar danach begannen die Behörden, Massenkundgebungen der Trauer und | |
Wut zu organisieren, um Proteste zu vermeiden. Mitarbeiter von | |
Regierungsbehörden sowie Kadetten von Militär- und Polizeischulen wurden | |
beharrlich aufgefordert, dort zu erscheinen. | |
Ich selbst habe damals eine solche Veranstaltung auf dem Schlossplatz in | |
St. Petersburg besucht, als Korrespondent für den Radiosender Echo Moskau, | |
der 2022 auf Druck der Behörden abgeschaltet wurde. Von der Bühne gab es | |
Rufe nach der Einführung der Todesstrafe, die Menge reagierte darauf mit | |
gehorsamem Ovationen. Die entsprechenden Gesetzesänderungen wurden aber bis | |
heute nicht umgesetzt. | |
## Angst bei Oppositionellen und Reservisten | |
In der Duma wird nun erneut seitens vieler Abgeordneter die Einführung der | |
Todesstrafe gefordert, und viele Oppositionelle und Reservisten haben | |
Angst, sie könnte bald gegen sie in Anschlag gebracht werden. Denn bei den | |
Behörden gibt es ein wachsendes Bedürfnis nach diesem Schritt: Es herrscht | |
Krieg, und im Gefängnis ist die Chance, das eigene Leben zu retten, größer | |
als an der Front. | |
Für manche Rekruten liegt es nahe, sich durch Fehlverhalten oder | |
Wehrdienstverweigerung der Front zu entziehen. Durch die Androhung des | |
Todes könnten manche leichter dazu gezwungen werden, ihr Leben an der | |
Front zu riskieren. | |
Aber selbst, wenn die Todesstrafe nicht kommt: Ab sofort versteht jeder, | |
dass ein russisches Gefängnis ein schlimmerer Ort sein kann als der | |
militärische Fleischwolf in der Nähe von Awdijiwka. Das wurde nicht nur | |
durch den [3][Tod Nawalnys] bewiesen, sondern auch durch das bewusste | |
[4][Zurschaustellen der Folter an den mutmaßlichen Terroristen] des | |
„Islamischen Staates“. Aus all diesen Gründen sind, anders als im Jahr | |
2004, die Plätze russischer Städte nach dem jüngsten Anschlag leer. | |
## Versagen der Geimdienste | |
Seit dem Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 | |
und der Mobilisierung junger Männer für diesen Krieg verließen zudem | |
Hunderttausende Menschen, die mit dieser Politik nicht einverstanden waren, | |
das Land. Die Zurückgebliebenen sind durch den blutigen Kampf sowie die | |
Gräueltaten im Kyjiwer Vorort Butscha und in der Stadt Mariupol | |
eingeschüchtert. | |
Diejenigen, die davon ausgehen, dass das Massaker und der Brand in der | |
Crocus City Hall von russischen Behörden verursacht wurden, stürmen nicht | |
auf die Straße. Aus denselben Gründen bleiben auch Vertreter der liberalen | |
Schicht untätig, die denken, dass dies ein beschämendes Versagen der | |
einheimischen Geheimdienste war. | |
Denn wenn die „Dienste“ die Fans einer regimetreuen Rockgruppe nicht vor | |
Terror bewahren konnten, werden sie es erst recht nicht schaffen, einen | |
Haufen von „Verrätern“ zu beschützen. | |
Jene wiederum, die den Krieg laut und oft auch leise unterstützen, sind – | |
auch wenn sie Putins Worten nicht glauben, dass die ukrainischen | |
Geheimdienste den Terroranschlag organisiert hätten – immer noch verärgert | |
über ihren widerständigen Nachbarn. Weil sie die Ukraine trotzdem als | |
Verbündeten des IS betrachten. | |
## Alter Bekannter IS | |
Das geht aus Kommentaren in den sozialen Netzwerken hervor. Die Logik ist | |
ungefähr so: Es ist die sich hartnäckig zur Wehr setzende Ukraine, die die | |
Kräfte der russischen Staatssicherheit und des militärischen | |
Nachrichtendienstes davon abhält, die Islamisten zu bekämpfen. Es wird | |
bedauert, dass „unsere Streitkräfte“ die Lösung der Ukraine-Frage so lange | |
hinauszögern. | |
Nach dem Anschlag richten nur wenige Kommentatoren ihr Augenmerk darauf, | |
dass Moskau den „Islamischen Staat“, der die Verantwortung für dieses | |
Verbrechen übernommen hat, sehr gut kennt. Denn der IS kämpfte von Anfang | |
an gegen das kremlnahe Assad-Regime in Damaskus und später gegen die | |
russischen Truppen in Syrien. | |
Darüber hinaus ist es nicht ausgeschlossen, dass die russischen | |
Geheimdienste dank ihrer Beziehungen zu Assad, zum Iran, zu Tadschikistan | |
und sogar zu den Taliban besser über den [5][zentralasiatischen Ableger | |
ISKP] Bescheid wissen als die Geheimdienste jedes anderen Landes auf der | |
Welt. Es ist offensichtlich, dass zwischen Moskau und diesen Autokratien | |
ein Austausch operativer Informationen über den gemeinsamen Feind | |
stattfindet. | |
Es ist auch nicht das erste Mal, dass der Kreml Kyjiw beschuldigt, den | |
islamistischen Extremismus zu unterstützen und grausame Verbrechen | |
vorzubereiten. So erklärte beispielsweise der Chef des russischen | |
Inlandsgeheimdienstes FSB, Alexander Bortnikow, am 11. Oktober 2023 auf | |
einer Sitzung des Rates der Leiter von Sicherheitsbehörden und | |
Sonderdiensten: „Wir haben verlässliche Informationen darüber, dass der IS | |
und Gleichgesinnte als Teil der Einheiten von Tschetschenen und Krimtataren | |
gegen uns kämpfen. Sie gehören auch Sabotage- und Aufklärungsgruppen an, | |
die nach Russland geschickt werden, um Sabotage und Terroranschläge zu | |
verüben.“ | |
## Selbsternannte Expert*innen | |
Auf lebhafte Resonanz stoßen solche Worte bei selbsternannten Expert*innen, | |
die den Inhalt der russischen Wikipedia-Seite „ISKP (ISIS-K)“ gründlich | |
analysiert und in den sozialen Medien so zusammengefasst haben: „Es ist | |
klar, dass die CIA nicht nur die Fäden der Hauptverwaltung der Aufklärung | |
in Kyjiw (GUR), sondern auch des Islamischen Staates in der Hand hält. | |
Schließlich hat Wilayat Khorasan, d. h. ISKP, in den vergangenen Jahren | |
nichts gegen Amerika unternommen, sondern sät Tod und Verderben auf unserer | |
Erde und unter unseren islamischen Verbündeten.“ | |
Es ist nach dem Terroranschlag kaum damit zu rechnen, dass jene | |
demonstrieren, die keine weitere Welle der Mobilisierung wollen – obwohl | |
sich im ganzen Land hartnäckig das Gerücht hält, dass zur Finanzierung des | |
Krieges bald die Steuern erhöht werden. Da es schon kaum Protest auf der | |
Straße gab, als Hunderttausende Menschen auf die ukrainischen | |
Schlachtfelder und damit in den Tod oder in die Invalidität geschickt | |
wurden, ist das nun, wo eventuell der Gürtel enger geschnallt werden muss, | |
erst recht nicht zu erwarten. | |
Quellen aus den Teilen der russischen Armee, die auf ukrainischem Boden | |
kämpfen, sagen, das Mantra der politischen Offiziere gegenüber den Soldaten | |
sei in den vergangenen Monaten stets gewesen: „Seid geduldig, das ist bald | |
vorbei.“ | |
Würde die aktuelle „militärische Sonderoperation“ darüber hinaus jetzt | |
offiziell als „Krieg“ oder, was nicht ausgeschlossen ist, als | |
„Anti-Terror-Operation“ bezeichnet, wird es einfacher sein, die Rekruten | |
davon zu überzeugen, die Früchte des lang erwarteten, aber bereits | |
bevorstehenden Sieges zu ernten. | |
Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
Alexander Gogun ist Militärhistoriker und lebt in Berlin | |
30 Mar 2024 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Alexander Gogun | |
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