# taz.de -- Tagebuchnotizen von Rio Reiser: „Die, die einfach sind wie Mädch… | |
> Gert Möbius, Bruder des Ton-Steine-Scherben-Sängers, hat dessen „Logbuch�… | |
> veröffentlicht. Es handelt von Ängsten, den Beatles und dem Blues. | |
Bild: Voll in der Musik drin | |
Ein gutes Tagebuch müsste auch ein gutes Buch sein. Ein gutes Tagebuch | |
müsste jeder lesen können.“ So lautet ein Eintrag, den Ralph Möbius, | |
bekannter unter dem Namen Rio Reiser, am 9. Februar 1974 in seinem | |
Notizbuch vornimmt. Zuvor schreibt er, wie ihn Selbstzweifel quälen, wie er | |
viel zuviel Angst und viel zu wenig Liebe in sich verspüre. | |
„Horrorgedanken“, sagt er selbst dazu. | |
Es ist interessant, wie man da tief in das Innenleben des Rio Reiser | |
blickt, wie man als Leser einer Adoleszenzkrise beiwohnt, die für den, der | |
sie durchlebt, die Hölle sein muss. Dass Reiser auf Männer steht, macht es | |
– wir befinden uns in den Siebzigern – nicht einfacher für ihn. Während er | |
all dies schildert, wird der große deutsche Rocksänger dem selbst | |
gesteckten Anspruch, ein Tagebuch habe wie ein gutes Buch zu sein, ganz | |
beiläufig gerecht. Man kommt dem vor bald 20 Jahren verstorbenen Sänger der | |
Ton Steine Scherben nahe. Sehr nahe. | |
In „Halt dich an deiner Liebe fest“ kann man diese Tagebuchnotizen Reisers | |
erstmals nachlesen. Veröffentlicht hat das Buch sein Bruder Gert Möbius, es | |
ist benannt nach dem gleichnamigen Scherben-Song. Die Tagebuchnotizen sind | |
aber nur ein Teil – insgesamt liest sich das Buch wie eine Mischung aus | |
Familiengeschichte, Autobiografie und Biografie des kleinen Bruders, der | |
ein so Großer war. Möbius zitiert häufig aus Rios Logbuch; die eingangs | |
erwähnte Krisenzeit des Musikers zwischen 1972 und 1974 dokumentiert er | |
gänzlich in Tagebuchform. | |
Für jene, die Reisers Autobiografie „König von Deutschland“ (gemeinsam mit | |
Hannes Eyber, ursprünglich von 1994, erscheint ebenfalls in diesen Tagen | |
neu) oder die Ton-Steine-Scherben-Bandbiografie „Keine Macht für Niemand“ | |
kennen, dürften die persönlichen Notizen zu den interessantesten Passagen | |
zählen – denn die Bandgeschichte war in den bereits erschienenen Büchern | |
gut ausgeleuchtet. | |
## Musikalische Erweckungserlebnisse | |
Daneben komplettiert nun die frühe Familiengeschichte der Brüder Gert, | |
Ralph und Peter Möbius das Bild, das man bislang von Rio Reiser hatte. Man | |
kann seine Briefe an die Mutter nachlesen, man erfährt etwas über eine | |
Kindheit mit ständigen Ortswechseln (Traunreut, Brühl, ein Dorf bei | |
Stuttgart, Nürnberg) in den späten 1950ern. Eine nicht ganz untypische | |
Kindheit: Die Familie lebt gut und komfortabel, die kollektive | |
gesellschaftliche Verdrängung des Gewesenen ist allgegenwärtig. Man darf | |
nur nicht anfangen, an der Oberfläche zu kratzen. Im Religionsunterricht | |
rastet Reiser einmal aus, als er den Lehrer fragt, warum das Gebot „Du | |
sollst nicht töten“ nicht für die Bundeswehr gelte. Die müsse sein, sagt | |
der Lehrer. | |
Auch die musikalischen Erweckungserlebnisse fehlen nicht. So fasziniert | |
Reiser eine verstimmte Gitarre, die er bei einem der vielen Umzüge in | |
Kindestagen findet – „weil ich ekstatisch auf Musik abfuhr, alles um mich | |
herum vergaß“. Den eigentlichen Kick gaben ihm aber später die Beatles. Er | |
liest einen Stern-Artikel über die Fab Four und schreibt: „Alles, was ich | |
gesucht hatte, war plötzlich da. Ich habe die Bilder geküsst, ich war total | |
weg, obwohl ich sie noch gar nicht gehört hatte. Aber ich wusste: Das ist | |
es. Das sind Wir. Das sind die, die nie ‚erwachsen‘ werden. Das sind die, | |
die einfach sind wie Mädchen.“ | |
Die drei Möbiusse mischen Ende der 60er die kreative Szene Kreuzbergs auf, | |
als sie nach Berlin kommen – zunächst mit einem Straßen- und | |
Sozialtheaterprojekt. Was sie sonst damals machten? „Eigentlich verliefen | |
unsere Tage, unsere Abende, unsere Nächte mit Herumspinnen, Rauchen, | |
Trinken und Herumspinnen.“ Während der eine (Peter) sich danach weiterhin | |
dem Theater, der andere (Gert) sich Film und Fernsehen widmet, wird der | |
dritte (Ralph alias Rio) zum Rockstar. | |
## Der Blues | |
Es folgt die soweit bekannte Geschichte der Siebziger und Achtziger: | |
Gründung der Ton Steine Scherben, die erste Hausbesetzung Berlins (im | |
Anschluss an ein Scherben-Konzert), APO und politischer Kampf, „all diese | |
neuen linken Parteien wie KPD-AO, KPD-ML, PL/PI“, die Abgrenzung zur RAF | |
und zur Bewegung 2. Juni, der Umzug Reisers in die | |
Ton-Steine-Scherben-Kommune nach Fresenhagen, die enormen Schulden der | |
Band, schließlich Claudia Roth, die Managerin der Scherben wird. | |
Und dazwischen: der Blues. Genau diese tief melancholischen Zwischentöne | |
sind bemerkenswert an dieser neuen Biografie. Der existenzialistische | |
Grübler Reiser breitet sich hier aus, die Aufzeichnungen lassen einen neu | |
und anders über ihn denken. Seine Schilderungen und auch die des Autors | |
Möbius, in denen sie viel vom schwierigen Alltag unter Anarchos erzählen, | |
verklären überdies nichts. Wenn eine Episode aus Reisers Leben auch in | |
diesem Buch etwas rätselhaft bleibt, so ist es die in den frühen 1990ern, | |
als er der PDS beitritt. Das ist auch deshalb zu verschmerzen, weil es nur | |
eine eher assoziative Erinnerungsgeschichte sein kann, wie Möbius schon zu | |
Beginn bemerkt. | |
An einer Stelle schreibt Reiser, wie er an eine Lebensmittelvergiftung | |
zurückdenkt, und da bringt er sein Leben und Wirken wohl gut auf den Punkt: | |
„Und neulich, als die Sache mit den Pilzen war, hatte ich das erste Mal | |
Angst zu sterben oder besser gesagt, ich habe die Möglichkeit ernsthaft | |
gesehen, dass ich abkratzen könnte. Naja, auf jeden Fall will ich nicht | |
an’ner Pilzvergiftung sterben, sondern wenn schon, dann für was.“ | |
10 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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