# taz.de -- Vor 20 Jahren starb Rio Reiser: „Warum geht es mir so dreckig?“ | |
> Aufruhr, Selbstbestimmung, Sehnsucht. Rio Reisers Songs suchen bis heute | |
> ihresgleichen. Weggefährten seines Lebens erinnern sich. | |
Bild: Rio Reiser bei einem Scherben-Konzert 1987 in Offenbach | |
Rio Reisers Musikkarriere beginnt mit einer Frage: „Warum geht es mir so | |
dreckig?“ So heißt das Debütalbum seiner Band Ton Steine Scherben, das im | |
September 1971 erscheint. Der Sänger rotzt diese Zeilen im Straßenslang | |
zum Bluessound herunter. Die Frage ist zugleich Anklage. Denn in der Luft | |
liegt: Aufruhr. Widerwille. Sehnsucht. | |
Mit diesen Schlagworten kann man die rohe Kraft der Lieder, die Reiser in | |
den folgenden 25 Jahren komponiert, gut beschreiben. Zunächst | |
veröffentlicht er mit den Scherben 1972 das Post-68er-Album schlechthin: | |
„Keine Macht für Niemand“. Mit „Wenn die Nacht am tiefsten“ (1975) und… | |
(1980) nimmt die Band zwei weitere epochale Alben auf. 1985 startet Reiser | |
eine Solokarriere, schreibt Hits wie „Für immer und dich“, „Junimond“ … | |
„König von Deutschland“. | |
All seinen Liedern ist ein tief sitzender Wunsch nach mehr Menschlichkeit, | |
nach einer liberaleren Gesellschaft eingeschrieben. Sie artikulieren den | |
Drang, aus dem „Zuchthaus“ der Disziplinargesellschaft zu entfliehen. Sie | |
postulieren sexuelle Freiheit, Selbstbestimmung. | |
Am 20. August 1996 starb Rio Reiser mit 46 Jahren. Die offizielle | |
Todesursache war Kreislaufversagen aufgrund innerer Blutungen. | |
Die teilweise übertriebene Mythisierung der Scherben und Rios ist deshalb | |
nachvollziehbar, weil kaum eine andere Figur im Pop die Post-68er-BRD | |
besser widerspiegelt. Und weil seine Songs im deutschsprachigen Raum bis | |
heute seinesgleichen suchen. Familie, Freunde und Musiker erinnern sich: | |
## Ich hatte Angst um meinen Bruder | |
Rio fehlt mir. Nicht nur als Bruder, sondern auch als Freund. Wir hatten | |
witzige Unterhaltungen, haben viel zusammen gelacht. Rio hatte so einen | |
besonderen Wortwitz, den man schlecht erklären kann. Zynisch oder ironisch | |
war er nicht. Für mich war er ein toller Gesprächspartner, mit dem man gut | |
über Politik und Musik reden konnte. | |
Als Rio starb, war ich fix und fertig. Ungefähr so, als würde den eigenen | |
Kindern etwas zustoßen. Wir drei Brüder – Peter, Rio und ich – hatten | |
künstlerisch viel zusammengearbeitet, vor allem in den späten Sechzigern, | |
als wir mit „Hoffmanns Comic Teater“ gemeinsam aufgetreten sind. | |
Wir hatten sehr liberale Eltern. Unsere Mutter Erika war sogar stolz drauf, | |
dass alle ihre Kinder Künstler wurden. In der Familie herrschte nie eine | |
böse Atmosphäre, wir haben offen über alles gesprochen. Das lag sicher auch | |
daran, dass unsere Eltern keine Nazis gewesen waren. Sie gehörten der | |
Bekennenden Kirche an, die sich im Dritten Reich gegen das NS-Regime | |
gerichtet hatte. | |
Ich hatte schon oft Angst um meinem Bruder. Wir führten ja alle in den 60er | |
und 70er Jahren kein gesundes Leben. Die Mischung aus Trips, Joints und | |
Alkohol war ja nicht ungefährlich, zumal uns allen die nötige Erfahrung bei | |
dem Umgang mit diesen Drogen fehlte. Mit der Liebe hat Rio, glaube ich, | |
zeit seines Lebens am meisten gekämpft. Vielleicht war das Unglück in der | |
Liebe seine Triebfeder. Damals gab es ja auch den Paragrafen 175 noch. In | |
der Ton-Steine-Scherben-Kommune war es sicher kein Problem, wenn Jungs | |
miteinander ins Bett gingen – in der Öffentlichkeit outeten sich aber die | |
wenigsten. | |
Als ich das schwarze Album der Scherben zum ersten Mal gehört habe, habe | |
ich geweint. Vielleicht war es kommerziell gesehen ein Fehler, das Cover | |
ganz in Schwarz zu halten, ich habe es damals gestaltet. Aber ich dachte: | |
Die Musik soll für sich stehen. Das Album basiert auf 22 Tarotkarten, die | |
die Scherben-Mitglieder zu Songs inspiriert haben. Es war das erste | |
kollektive Album, bei dem wirklich alle mitgewirkt haben. Das Konzept | |
hinter dem Album war genial, es entstand eine ungeheure Kraft. | |
Gert Möbius, Rio Reisers Bruder, ist Drehbuchautor und Labelbetreiber. Er | |
hat die soeben erschienene Biografie „Halt dich an deiner Liebe fest. Rio | |
Reiser“ (Aufbau Verlag) verfasst | |
## Wir standen nackt im Zimmer, da sagte Rio zu einem der Polizisten: „Du | |
Schwein“ | |
Rio war mit Abstand der kraftvollste deutsche Sänger, den es gab. Ich kann | |
das natürlich nicht neutral beurteilen; es gibt niemanden, der ihn so oft | |
hat singen hören wie ich – wir kannten uns seit ich 13 war. Er konnte | |
wirklich alles singen. Was man oft vergisst: Er war auch total witzig. Wenn | |
ich schlecht drauf war, persiflierte er irgendwelche Slangs oder Dialekte. | |
Rio war ein Sprachakrobat. | |
Rio und ich sind in der hessischen Provinz, in Nieder-Roden, gemeinsam | |
aufgewachsen. Wir kannten uns erst ein Jahr, da sind wir in einem | |
Nachbarkaff von fünf oder sechs Dorfjugendlichen verfolgt worden, weil wir | |
lange Haare hatten. Wir waren zusammen auf einer Kirmes, die Typen, so | |
Kleinstadtpsychos, wollten uns die Haare abschneiden. „Ey, Gammler“, haben | |
sie uns beschimpft. Wir sind abgehauen, es war knapp. So etwas verbindet. | |
Wenn Rio und ich zusammen komponiert haben, gab es immer eine gewisse | |
Spannung. Wir waren zwar beste Freunde, aber auch sehr unterschiedlich. Ich | |
war Katholik, er war evangelisch. Ich sprach Französisch, er konnte besser | |
Englisch. So haben wir uns aber gut ergänzt. | |
Gelangweilt haben wir uns damals nicht. In der Kommune am T-Ufer | |
(Tempelhofer Ufer in Berlin, d. Red.) gab es ständig Razzien. Es gab diese | |
Deutscher-Herbst-Hysterie, und wir kannten viele Leute aus dem | |
konspirativen Milieu. Einmal standen wir nackt in einem Zimmer, und die | |
Bullen kamen mit gezogenen MGs hinein. Rio sagte zu einem von ihnen: „Du | |
Schwein.“ Da habe ich wirklich Angst gehabt, dass es knallen könnte. | |
Ich will ja nicht vom Krieg erzählen, aber damals habe ich immer gedacht, | |
am nächsten Tag gehe die Revolution los. Wenn wir mit den Scherben irgendwo | |
gespielt haben, brannte ganz Kreuzberg. Das geschah alles sehr intuitiv, | |
wir waren ja keine politisch-analytische Band. Ich hoffe doch, dass es auch | |
heute noch ein revolutionäres Potenzial gibt, es muss sich nur anders | |
manifestieren. | |
Als Rio später seine Soloalben veröffentlichte, hat man ihn oft ungerecht | |
bewertet. Er wurde ja unter anderem als Schlagerfuzzi betitelt. Völliger | |
Quatsch. Bei Rios Solokonzert in der Werner-Seelenbinder-Halle im Oktober | |
1988 habe ich zum letzten Mal mit ihm zusammen auf der Bühne gestanden. | |
Wir haben das erste Mal in der DDR gespielt, das Konzert ist mir gut in | |
Erinnerung. Wegen der Brisanz. Es war kurz vor dem Mauerfall. | |
Wahnsinnsatmosphäre. Rio sang: „Gibt es ein Land auf der Erde, wo dieser | |
Traum Wirklichkeit ist? Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur eins, und | |
da bin ich mir sicher: Dieses Land ist es nicht!“ Ein Großteil der 6.000 | |
Besucher hat enthusiastisch mitgesungen. Gut ein Jahr später war die Mauer | |
Geschichte. | |
„Jenseits von Eden“ ist der Song, der mich bis heute am meisten berührt. In | |
dem Stück haben Rio und ich gut auf den Punkt gebracht, was Ton Steine | |
Scherben ausmacht. Wenn ich das heute höre, läuft mir ein Schauer über den | |
Rücken, sobald Rio anfängt zu singen. Ich glaube, es ist sehr nachhaltig, | |
was wir gemacht haben. Die Songs und die Themen sind weiterhin aktuell. Es | |
gibt fast tausend Bands, die unsere Songs covern, das ist schon viel. | |
Vier- bis fünfmal im Jahr gehe ich heute zum Friedhof und bringe Rio | |
Blumen. | |
R.P.S. Lanrue, 66, ist Gitarrist bei Ton Steine Scherben. Seit 2012 tritt | |
die Band wieder unter altem Namen auf | |
## Wir wollten „Das Wunder“ sein | |
Ich erinnere Rio heute als einen Menschen, den ich in all seiner | |
Zerrissenheit geliebt habe. Für mich ist Liebe etwas Absolutes. Rio in | |
seiner Schaffenskraft zu bewundern, das war leicht. Und als Bühnenmensch | |
ist er bis heute in Deutschland unerreicht. | |
Unsere Beziehung war sehr intensiv, auch in intellektueller Hinsicht. | |
Zwischen uns gab es eine große Zärtlichkeit, Geborgenheit und eine geistige | |
Liebe. Die zeigte sich etwa in unseren Frühstücksgesprächen, die sich | |
manchmal endlos hinzogen. | |
Außerdem haben wir nicht nur über seine Texte diskutiert, – er zeigte sie | |
mir, und ich durfte sie kritisieren –, sondern er „entdeckte“ auch meine, | |
wie zum Beispiel das eigentlich für R.P.S. Lanrue geschriebene | |
„Zauberland“. Das war nicht nur Anerkennung, sondern eine hohe Form von | |
Liebe. | |
Rio hatte eine große Sehnsucht nach sexueller Freiheit – die konnte ich | |
durchaus teilen. Wir wollten nicht weniger als „Das Wunder“ sein. Das | |
bürgerliche Konzept der Ehe war als „Alles Lüge!“ erkannt, alles andere a… | |
ein Sehnsuchtsort. Doch Rio war in seiner Sexualität sehr schüchtern. Aus | |
einer tiefsitzenden Unsicherheit heraus stolperte er in Widersprüche. Denn | |
Freiheit ist wie Wahrheit: nicht immer einfach. | |
Auf der Bühne war Rio phänomenal. Ganz großes Theater! Er war ein Könner | |
darin, sich zu inszenieren. Jede Bühnenshow war komplett | |
durchchoreografiert. Es war klar, wann er etwas sagt und wie er es sagt, | |
wann er hinfällt, wann er wieder aufsteht und wie er aufsteht. Es gab zum | |
Beispiel eine Nummer, bei der er zu Boden ging, als sei er tot. Ich hatte | |
diese Show mitkonzipiert. Und dennoch: An manchem Abend stockte mir der | |
Atem. Zwölf Takte sollten vergehen, ehe er aufstehen sollte. Nichts | |
passierte. Er blieb liegen. | |
„Heute ist es so weit“, dachte ich, „er ist wirklich tot.“ So abwegig w… | |
das nicht, er hatte schon immer mit seinem frühen Tod kokettiert. Noch mal | |
zwölf Takte. Dann endlich: die Auferstehung. Ah! Das war ein Moment, in dem | |
mir schon mal die Tränen liefen. Diese Intensität, Hingabe und Präsenz hat | |
vor ihm und nach ihm hierzulande niemand gehabt. | |
Zu seinem Wesen gehörte auch eine wütende, eine verzweifelte Seite. Den | |
Berserker à la Kinski konnte er auch geben. Das meine ich durchaus positiv, | |
denn man darf wütend sein. Rio war jemand, der an der Welt gelitten hat. | |
Wenn man die Dummheit, den Irrsinn, die Gleichgültigkeit und die Gier der | |
Menschen sieht und begreift, dann muss man diese Radikalität suchen. Aus | |
diesem Wissen und Empfinden kam seine Sehnsucht nach dem Traurigsein. | |
Es gibt einen nicht totzukriegenden Mythos, der besagt, Rio habe sich „der | |
Industrie verkaufen müssen“. Unsinn. Er musste nicht den „König von | |
Deutschland“ machen, sondern er wollte es. Er wollte den Erfolg. Und zwar | |
den der Anerkennung. Der kommerzielle Erfolg war zweitrangig. | |
Nachdem sich unsere Wege Ende der Achtziger trennten, dachte ich oft: | |
Lassen wir Zeit verstreichen, irgendwann werden wir wieder zusammenfinden, | |
um das große Versprechen „Wir können doch Freunde bleiben“ einzulösen. D… | |
hätten wir aber beide alt werden müssen. Ich glaube, Rio wollte das nicht. | |
Nun werde ich zwanzig Jahre nach seinem Tod gefragt: Wie sollen wir Rio | |
erinnern? – Die Antwort ist: in Liebe. Unbedingt in Liebe. Die hat er | |
verdient. | |
Misha Schoeneberg, 56, ist Berliner Autor, Songwriter und Musiker. In den | |
achtziger Jahren lebte, liebte und arbeitete er gemeinsam mit Rio Reiser | |
## Ihm guckte man direkt ins Herz | |
Als ich Rio Reiser zum ersten Mal gehört habe, war ich auch zum ersten Mal | |
überhaupt tief berührt von deutschsprachigem Songwriting. Ich habe viel | |
Dylan, Elvis Costello und David Bowie gehört, aber wenig Deutschsprachiges. | |
Bis ich irgendwann Ton Steine Scherben und Rio entdeckte. Es hat mich total | |
mitgenommen, dass man auf Deutsch so schreiben kann. Aber er hat auch, von | |
der Sprache abgesehen, Qualitäten im Songwriting. | |
Rio hat immer viel Soul; zum einen im engeren Sinne von Seele verstanden, | |
aber er spielte auch so eine Art deutschen Soul durch die Aufrichtigkeit | |
und Wahrhaftigkeit, die in seinen Songs lag. Beim ersten Hören hatte ich | |
das Gefühl, dem guckt man direkt ins Herz. | |
Seine Songs klingen teils gospelartig, es ist eine ungeheure Kraft und | |
Wucht dahinter. Er blieb bei sich – und machte gleichzeitig über Jahrzehnte | |
hinweg Karriere im Pop. Einfach war das bestimmt nicht. | |
Die Scherben und Rio sind ein gutes Beispiel dafür, dass man viele Aspekte | |
in einem Werk, in einem Song vereinen kann: Humor und Herz, Wut und | |
Verletzlichkeit, politisches Bewusstsein und persönlichen Schmerz. Kein | |
Entweder-oder. Als Teenie habe ich auf der Gitarre Rio-Songs nachgespielt. | |
„Komm schlaf bei mir“ habe ich öfter gespielt, da gibt es diese | |
wunderschönen Zeilen: „Ich bin nicht unter dir, / ich bin nicht über dir, / | |
ich bin neben dir“. Aber der Übersong schlechthin für mich ist „Land in | |
Sicht“. | |
Dass Rio im Jugendalter so dermaßen bei mir eingeschlagen hat, hat | |
vielleicht mit einer Berlinsehnsucht zu tun. Ich bin in Berlin geboren und | |
dann nach Freiburg im Breisgau verschifft worden, weil man dachte, das sei | |
gut für ein mickriges, asthmatisches Berliner Kind, wie ich es damals war. | |
All meine Freunde lebten aber in Berlin. Bei vielen Zugfahrten bekam ich | |
Herzrasen, wenn wir uns Berlin näherten. Für mich ist ganz Berlin oder | |
zumindest Kreuzberg mit Rio Reiser und den Scherben verbunden. | |
Als Rio gestorben ist war ich 19. Es gibt ganz wenige Künstler, bei deren | |
Tod ich nicht anders kann, als anhaltend zu trauern. Bei David Bowie ist es | |
bis heute so, und bei Rio war es auch so. Beide waren auf jeden Fall noch | |
echte Rockstars – in einer Zeit, in der die Stars noch schiefe Zähne haben | |
durften. | |
Judith Holofernes, 39, ist Sängerin der Band Wir sind Helden, Songwriterin | |
und Autorin | |
## Eine Stimme wie zig Leben | |
Für mich war Rio Reiser ein Freund. Ein richtiger Freund. Es gibt nicht so | |
viele echte Leute im Showbusiness. Nur das Filmgeschäft und die Politik | |
sind wahrscheinlich schlimmer. Alle raspeln Süßholz und sind im Prinzip | |
gehässig. | |
Rio hatte diese Gier und Gehässigkeit des Geschäfts nicht. Obwohl er zu mir | |
einmal gesagt hat, dass er gern eine Million Platten verkaufen möchte. Ja, | |
groß rauskommen und Erfolg haben, das wollte er auch. | |
Ich habe die Scherben erst Anfang der Achtziger entdeckt. Freunde haben mir | |
eine Live-Kassette von ihnen gegeben. Trotz des furchtbar schlechten Klangs | |
habe ich sie sehr viel auf Autofahrten gehört. Als Rio in den Siebzigern | |
mit den Scherben auf Lastwagen bei Demos gespielt hat, da bin ich ja noch | |
in der „ZDF-Hitparade“ aufgetreten, mit Schlaghosen und angeklebten | |
Wimpern. Nun aber wollte ich weg vom Image des Schlagermädchens. Zu dieser | |
Zeit habe ich zum ersten Mal die Scherben gehört. Ich hielt inne. Was ist | |
das denn bitte für ’ne Stimme? Was ist das für ein Mann? | |
Die Band und den Typen wollte ich kennenlernen. Ich sprach ihnen auf den | |
Anrufbeantworter in der Landkommune in Fresenhagen, ich würde sie gern mal | |
treffen. Kurz darauf bekam ich ein Fax: „Liebe Marianne, wir freuen uns auf | |
Dich, die Scherben freuen sich, mit Dir zu arbeiten!“ Sind die verrückt? | |
Ist ja der Wahnsinn! Es war tiefster Winter, als ich sie besuchte. Rio kam | |
mir ganz zierlich vor, er war auch nicht besonders groß und hatte diese | |
riesengroßen Augen. Irgendwie war er anders, als ich ihn mir vorgestellt | |
hatte. | |
Er kannte mein ganzes Repertoire. Ich war total von den Socken. Rio sagte, | |
dass das über die Fürsorgezöglinge und Trebegänger kam, mit denen sie | |
zusammengelebt und -gearbeitet haben. Die hätten meine Musik rauf und | |
runter gehört. Er mochte meine Musik. | |
Später, als er wieder in Berlin war, haben wir uns immer gegenseitig | |
besucht. Wir sind viel ausgegangen, durch die Stadt gezogen, in Cafés, in | |
Bars, in den Dschungel, die Paris-Bar. Das Schwarze Café war oft die letzte | |
Station, weil es das letzte Lokal war, das noch geöffnet hatte. Im | |
Dschungel ging es nicht darum sich zu unterhalten, die Musik war zu laut. | |
Es ging darum zu sehen und gesehen zu werden. Alle waren gestylt, und vom | |
Geländer der Balustrade konnte man die Szene überblicken: Wer kommt da | |
wieder rein. Wie sieht der aus. Was hat der an. | |
Manchmal, wenn wir mal wieder durch die Nacht gezogen sind und alle schon | |
’ne Menge Gläser geleert hatten, setzte er sich ans Klavier und spielte den | |
Marlene-Dietrich-Song „Wenn ich mir was wünschen dürfte“. Wenn er das san… | |
mit seiner Stimme, die klang, als hätte er nicht nur ein Leben hinter sich, | |
sondern zig Leben, dann war das der Wahnsinn. Diese Stimme berührt uns doch | |
alle. | |
Sprache so zu benutzen, wie Rio es tat – das war einzigartig. Das sehe | |
sicher nicht nur ich so. Es waren kämpferische und sehr einfühlsame Texte | |
zugleich. Außerdem war Rio ein sehr sozialer Mensch, dem es wichtig war für | |
andere Menschen da zu sein. | |
„Der Traum ist aus“ und „Land in Sicht“ sind meine Lieblingssongs. Wenn… | |
in „Land in Sicht“ singt: „Morgenlicht weckt meine Seele auf“, dann bin… | |
erledigt, total überwältigt, immer wieder. So viel Emotion, die in der | |
Stimme mitschwingt und alle erreicht. | |
Marianne Rosenberg, 61, ist Sängerin und Songwriterin. Sie lebt in Berlin | |
20 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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