# taz.de -- Tag gegen Genitalverstümmelung: Blutiges Ritual an Frauen | |
> Weibliche Genitalverstümmelung ist in vielen afrikanischen Ländern | |
> verbreitet. In der Coronapandemie gilt das umso mehr. | |
Bild: Schulische Aufklärung: kenianische Mädchen schauen eine Doku über Geni… | |
NAIROBI taz | Stellen Sie es sich so vor: Eine Frau mit einem Rasiermesser | |
in ihrer Handtasche klopft an Ihre Haustür und bietet an, Ihre Tochter zu | |
beschneiden. Selbst in Somalia, wo weltweit der höchste Prozentsatz an | |
Mädchen und Frauen beschnitten ist, ist das äußerst ungewöhnlich. Und doch | |
erlebte Sadia Allin es genau so. Sie ist die Leiterin der Organisation Plan | |
International in Somalia, die sich für den Kampf gegen FGM (Female Genital | |
Mutilation), gegen Genitalverstümmelung also, einsetzt. | |
„Ich war schockiert. Die Frauen, die Beschneidungen durchführen, gehen | |
jetzt von Tür zu Tür. Es ist hier nicht strafbar und ich konnte nur | |
versuchen, sie zu überzeugen, [1][dass FGM schlecht ist]. Ich musste | |
trotzdem mitansehen, wie sie danach zu den Nachbarn ging“, sagt Allin. Sie | |
ist in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Das Gespräch findet per Skype | |
statt. | |
In Somalia sind 98 Prozent der Frauen und Mädchen beschnitten. Jetzt hat | |
die Coronapandemie mit ihren wirtschaftlichen Auswirkungen dazu geführt, | |
dass viele Menschen ihr Einkommen teilweise oder ganz verloren haben. Für | |
die Frauen, die traditionell im Nebenjob Beschneidungen durchführen, ist | |
dies nun die einzige Einkommensquelle. Die Not zwingt diese Frauen, von Tür | |
zu Tür zu gehen, um ihr Handwerk anzubieten. | |
In Somalia wird die brutalste Form der Genitalverstümmelung praktiziert: | |
Die Klitoris und die äußeren Schamlippen werden abgeschnitten, die Vagina | |
bis auf ein kleines Loch zugenäht. Das Verfahren wird häufig bei Mädchen im | |
Alter von 5 bis 10 Jahren durchgeführt und verursacht oft lebenslange | |
körperliche Beschwerden. Ist ein Mädchen einmal beschnitten und hatte sie | |
ihre erste Menstruation, kann sie verheiratet werden. | |
Allin weiß nur zu gut, [2][wie schmerzhaft die Verstümmelung ist]. Niemals | |
würde sie erlauben, dass ihre beiden Töchter, die eine 5, die andere 10 | |
Jahre alt, deren fröhliche Stimmen im Hintergrund des Gesprächs zu hören | |
sind, diese grausame Erfahrung durchleiden. „Als ich mit 5 Jahren | |
beschnitten wurde, war FGM völlig normal. Seitdem wurde viel darüber | |
informiert, welche schlimmen Auswirkungen das hat. Obwohl es prozentual | |
noch nicht weniger geworden ist, sieht man Beschneidung doch immerhin | |
inzwischen negativer.“ | |
Diesen bescheidenen Erfolg macht die Coronapandemie teilweise wieder | |
zunichte. Es gibt nicht mehr genug Aktivistinnen, die von Tür zu Tür gehen | |
und über Genitalverstümmelung und die Folgen informieren – stattdessen tun | |
das nun die Beschneiderinnen. Und auch die Schulen, die monatelang | |
geschlossen hatten, die öffentlichen Versammlungen, die abgesagt wurden – | |
alles Orte, wo über die negativen Auswirkungen der Genitalverstümmelung | |
gesprochen wird – fehlten. „Wir sehen, dass viele Mädchen seit der | |
Wiedereröffnung der Schulen nicht zurückgekommen sind. Das deutet | |
daraufhin, dass sie beschnitten sind. Auch hören wir von Kliniken, dass es | |
mehr Eltern gibt, die dort ihre Mädchen beschneiden ließen“, erzählt Allin. | |
Somalia ist nicht das einzige Land, in dem Mädchen verstümmelt werden. FGM | |
kommt in etwa 30 Ländern Afrikas und des Nahen Ostens vor, sporadisch auch | |
in Asien und Lateinamerika. | |
Die UNO hat den 6. Februar zum Internationalen Tag gegen | |
Genitalverstümmelung erklärt, in der Hoffnung, dass dies das Bewusstsein | |
stärkt, ob der Abscheulichkeit dieser Praxis, und um Eltern dazu zu | |
bewegen, ihr Verhalten diesbezüglich zu ändern. Und während es so schien, | |
dass die Aufklärungsarbeit der vergangenen Jahre zu einem Änderung der | |
Wahrnehmung führt, kehrt sich der Trend in der Coronapandemie um. Der | |
UN-Bevölkerungsfonds UNFPA befürchtet, dass in den nächsten zehn Jahren | |
rund 2 Millionen Mädchen beschnitten werden. Vor allen in afrikanischen | |
Ländern. | |
In Kenia kann sehr gut beobachtet werden, wie Corona und die damit | |
einhergehende wirtschaftliche Misere in der Bevölkerung die | |
Genitalverstümmelung befördert. In dem ostafrikanischen Land wurde die | |
weibliche Beschneidung 2011 verboten; sie wird aber insgeheim weiter | |
praktiziert. Nach Regierungsangaben sind aktuell 21 Prozent der Frauen und | |
Mädchen beschnitten. Polizei und Aktivist*innen stellen in der | |
Coronapandemie jedoch einen Anstieg fest. | |
[3][Besonders verbreitet ist FGM in Kenia] bei der Kuria-Bevölkerungsgruppe | |
im Südwesten des Landes. Im Oktober wurden dort etwa 2.800 neu beschnittene | |
Mädchen in Dörfern und Städten durch die Straßen geführt. Traditionell | |
wurden die meisten der Mädchen von Menschen entlang des Weges mit | |
Geschenken überhäuft. Um Polizei und Aktivist*innen vor Ort | |
fernzuhalten, wurden die Prozessionen von Macheten schwingenden Männern | |
begleitet. | |
In Kenia sind Schulen oft Zufluchtsorte für Mädchen, die von zu Hause | |
weglaufen, um Verstümmelung oder Kinderehen zu entkommen. Die Schulen waren | |
jedoch in der Pandemie neun Monate geschlossen und als sie im Januar wieder | |
öffneten, sind auch in Kenia zahlreiche Mädchen nicht zum Unterricht | |
zurückgekehrt. „Eltern sahen ihre schlechtere wirtschaftliche Lage. Sie | |
blicken in eine ungewisse Zukunft, weil sie Einkommensverluste aufgrund der | |
Pandemie hatten. Also haben sie ihre Töchter beschnitten und dann sofort | |
verheiratet“, sagt die Anti-FGM-Aktivistin Domtila Chesang. | |
Kenianer*innen dürfen erst ab 18 legal heiraten, aber viele Mädchen | |
werden unter dem Gewohnheitsrecht, das keine Altersgrenze kennt, zu einer | |
Ehe gezwungen. Oft muss die Familie des Ehemanns dabei tief in die Tasche | |
greifen und der Familie des Mädchens einen Brautpreis zahlen, sei es in | |
Form von Rindern, Wassertanks oder Alkohol. Das ist eine willkommene | |
Einnahmequelle für Eltern von Mädchen, die durch Corona in wirtschaftliche | |
Schwierigkeiten geraten sind. | |
Auch in Westafrika haben Aktivisten gegen FGM wenig Hoffnung. In dieser | |
Region steht Guinea mit einer Beschneidungsquote von 97 Prozent der Frauen | |
und Mädchen an der Spitze, obwohl FGM offiziell verboten ist. Guineas | |
Justiz unternimmt jedoch nichts gegen traditionelle Beschneiderinnen oder | |
gegen medizinisches Personal, das ganz öffentlich Beschneidungen | |
durchführt. | |
Im Nachbarland Mali sind 87 Prozent der Mädchen und Frauen beschnitten. | |
Dort ist FGM nicht verboten, obwohl aufeinanderfolgende Regierungen | |
entsprechende Gesetzesvorlagen formuliert haben. Sie wurden bis jetzt nie | |
umgesetzt – aufgrund des großen Drucks der religiösen Führer. In Mali wie | |
auch in Guinea ist die Bevölkerung mehrheitlich muslimisch, islamischer | |
Fundamentalismus ist in Mali politisch einflussreich. Beschneidungen | |
geschehen allerdings nicht nur in islamischen Gemeinschaften, sondern auch | |
in christlichen Gruppen und bei Bevölkerungsgruppen, die Naturreligionen | |
anhängen. | |
Aufgrund der durch die Coronapandemie auferlegten Einschränkungen versuchen | |
westafrikanische Anti-FGM-Aktivist*innen, den Kampf über soziale Medien | |
fortzusetzen. In Mali lebt jedoch mehr als die Hälfte der Bevölkerung in | |
ländlichen Gebieten, wo das Internet kaum zugänglich ist. | |
Das einzige Land, das in der Coronapandemie Fortschritte im Kampf gegen | |
weibliche Genitalverstümmelung gemacht hat, ist der Sudan. Dort wurde die | |
FGM 2020 strafbar – ein Erfolg der sudanesischen Revolution, die maßgeblich | |
von Frauen mitgetragen wurde. Aber auch dort ist fraglich, ob die | |
Beschneidungsquote von 87 Prozent sinken wird. Das Land steckt seit Jahren | |
in einer wirtschaftlichen Krise, die sich durch Corona verschärft hat. | |
Der Wunsch der Vereinten Nationen, Genitalverstümmelung bis 2030 weltweit | |
abzuschaffen, scheint unter den gegebenen Vorzeichen jedenfalls nicht mehr | |
realisierbar. | |
6 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ilona Eveleens | |
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