# taz.de -- Projekt gegen Genitalverstümmelung: Helfen auf Augenhöhe | |
> Es gibt viel zu wenig Anlaufstellen im Kampf gegen weibliche | |
> Genitalbeschneidung. Rheinland-Pfalz will Betroffene nun besser schützen. | |
Bild: Frauenministerium Rheinland-Pfalz: Grünen-Spitzenkandidatin Anne Spiegel… | |
BERLIN taz | Da ist die Frau, die immer wieder Entzündungen im Unterleib | |
hat. Außer Antibiotika, die bald nicht mehr wirken, bekommt sie von ihrer | |
Gynäkologin keine Behandlung. Die Entzündungen kommen wieder. Bis sie auf | |
Nurhayat Canpolat vom psychosozialen Zentrum für Flucht und Trauma der | |
Mainzer Caritas trifft. | |
„Ich habe nachgefragt, ob es vielleicht damit zu tun hat, dass sie zugenäht | |
ist“, sagt Canpolat. Die Klientin bejaht. Canpolat empfiehlt der Frau eine | |
spezialisierte Stelle der Uniklinik. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in | |
Deutschland wird dort die richtige Diagnose gestellt – und wirklich | |
geholfen. | |
Wie Canpolats Klientin geht es vielen beschnittenen Frauen hierzulande. Die | |
Bundesregierung geht davon aus, dass schätzungsweise [1][etwa 67.000 Frauen | |
in Deutschland von weiblicher Genitalverstümmelung oder FGM (englisch: | |
Female Genital Mutilation) betroffen sind]. | |
Zwischen 2.785 und 14.752 Mädchen sollen bedroht sein – im Vergleich zum | |
Jahr 2017 bedeutet das einen Anstieg um bis zu 160 Prozent, der vor allem | |
auf die verstärkte Migration aus Ländern wie Somalia, Eritrea, oder dem | |
Irak zurückzuführen ist. | |
## Mit Communities arbeiten | |
[2][Tod durch Verbluten, Infektionen, Geburtskomplikationen, Schmerzen beim | |
Sex und Traumata] gehören zu den möglichen Folgen der schweren | |
Körperverletzung. Doch noch immer wissen Ärzt*innen, Erzieher*innen und | |
Lehrkräfte viel zu wenig über FGM. | |
In Rheinland-Pfalz hat sich das Frauenministerium nun mit einem | |
Modellprojekt des Themas angenommen. Das psychosoziale Zentrum für Flucht | |
und Trauma des Caritasverbands Mainz e.V., bei dem auch Canpolat arbeitet, | |
ist dessen Träger. Das Ziel des von Grünen-Spitzenkandidatin Anne Spiegel | |
initiierten Projekts: Betroffene zu unterstützen und gefährdete Mädchen zu | |
schützen. | |
Als erstes geht es jedoch darum, sich einen Überblick zu verschaffen, wer | |
überhaupt zu dem Thema arbeitet. Nach einer Bestandsaufnahme will die | |
Caritas die involvierten Akteur*innen in Regionalgruppen vernetzen. | |
Anschließend sind Fortbildungen für Lehrer*innen, Erzieher*innen, aber auch | |
Ärzt*innen und Beschäftigte in der Jugendhilfe geplant. | |
„Wir wollen nicht gegen die Communities arbeiten, sondern das Projekt mit | |
ihnen gemeinsam gestalten“, sagt Frauenministerin Spiegel. Projektleiterin | |
Canpolat stellt deswegen gerade Kontakt zu Vereinen her, in denen | |
Migrant*innen aus Ländern organisiert sind, wo FGM praktiziert wird. | |
## Auf Bundesebene hapert es | |
„In Fortbildungen möchten wir außerdem die Fachkräfte dafür | |
sensibilisieren, dass Aussagen auch dann rassistisch sein können, wenn sie | |
nicht so gemeint waren“, sagt Canpolat. „Wenn man zum Beispiel zu einer | |
Frau sagt,,Was hat man denn mit Ihnen gemacht?’, führt das nicht gerade | |
dazu, dass sie sich auf Augenhöhe behandelt fühlt“. | |
Neben Rheinland-Pfalz sind einige andere Bundesländer aktiv – sie haben | |
Runde Tische ins Leben gerufen, in Berlin gibt es eine | |
Koordinierungsstelle, in Hessen seit mehreren Jahren Modellprojekte. „Aber | |
auf Bundesebene passiert nicht genug“, kritisiert Grünen-Politikerin | |
Spiegel. | |
Zuletzt hatte Frauenministerin Franziska Giffey (SPD) einen Schutzbrief | |
vorgestellt, der über die Strafbarkeit der Praxis auch bei ihrer | |
Durchführung im Ausland informiert und somit Mädchen mit deutscher | |
Staatsagehörigkeit, Wohnsitz oder Lebensmittelpunkt in Deutschland schützen | |
soll. | |
„Mein Eindruck ist, dass hier vorwiegend Symbolpolitik gemacht wird“, so | |
Spiegel. Viele Ansätze wie eine Beratungsstellenstruktur, mit der man | |
wirklich weiterkäme, würden außer Acht gelassen. | |
## „Chefinnensache“ | |
Dabei ließe sich durch mehr Beratungsstellen und Fortbildungsmöglichkeiten | |
viel erreichen. „Die größte Hürde im Kampf gegen weibliche | |
Genitalbeschneidung ist die fehlende Kenntnis des Themas“, das weiß Jawahir | |
Cumar vom Düsseldorfer Verein stop mutilation e.V. nur allzu gut. | |
Denn es gibt Anzeichen dafür, dass ein Mädchen bedroht ist: Zum Beispiel, | |
wenn ein Kind im Kindergarten von einem geplanten Besuch im Herkunftsland | |
erzählt, bei dem ein Ritual gefeiert werden soll. Viel zu oft können | |
Erzieher*innen, Ärzt*innen und Lehrkräfte die Indizien jedoch nicht | |
deuten, oder haben Angst, die Familien zu konfrontieren – und tun nichts. | |
Cumar und ihr Team klären auf, ermutigen, das Thema anzusprechen. „Häufig | |
wollen die Eltern gar nicht, dass ihre Tochter beschnitten wird, aber die | |
Familie übt Druck aus“, berichtet Cumar, die selbst aus Somalia kommt. | |
Dann ist es wichtig, die Eltern beim Schutz ihrer Töchter zu unterstützen – | |
durch einen Anruf bei den Großeltern im Herkunftsland oder die Vernetzung | |
von Familien. „Diese Mütter und Väter brauchen auch, dass man ihnen | |
sagt:,Ich habe es geschafft, meine Tochter zu schützen, und du wirst das | |
auch schaffen’“, so Cumar. | |
Das Modellprojekt in Rheinland-Pfalz ist zunächst für ein Jahr ausgelegt | |
und mit 50.000 Euro ausgestattet. „Aber da muss natürlich mehr passieren“, | |
das weiß auch Spiegel. Ziel sei es, das Projekt zu verstetigen und | |
auszuweiten. Bei den nächsten Koalitionsverhandlungen will die | |
Spitzenkandidatin der rheinland-pfälzischen Grünen das Thema „zur | |
Chefinnensache machen“. | |
12 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
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