# taz.de -- Streit in Koalitionsverhandlungen: Ampelfrust bei den Grünen | |
> Nach der ersten Euphorie zieht bei Robert Habecks Leuten Ernüchterung | |
> ein. Zweifel wachsen, ob es gelingt, 1,5-Grad-taugliche Politik zu | |
> formulieren. | |
Bild: So sad: Die anderen Ampelianer*innen haben zu wenig Lust auf Klimaschutz | |
BERLIN taz Vor gut drei Wochen herrschte bei den Grünen noch [1][freudiger | |
Überschwang]. Als er seine Partei bei einem Länderrat aufs Regieren | |
einstimmte, versprach Grünen-Chef Robert Habeck, dass es eine | |
[2][„Fortschrittsregierung“] geben werde. „Wir sind in einer Hoffnungszeit | |
angekommen.“ Von Aufbruch und Erneuerung war die Rede. Ein sehr große | |
Mehrheit der Delegierten stimmte für die Verhandlungen mit SPD und FDP, nur | |
zwei waren dagegen. | |
Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt bei den Grünen. Die Stimmung sei | |
„mäßig“, heißt es, es gebe „einigen Frust“, weil die Ampel-Verhandlu… | |
vielen Stellen stockend oder schleppend verlaufen. Grünen-VerhandlerInnen | |
beschweren sich über die „strukturkonservative SPD“. Vor allem bei | |
ökologischen Anliegen heiße es oft „SPD und FDP verbünden sich gegen die | |
Grünen“. | |
Nun sind Konflikte bei einer Regierungsbildung der Normalfall – und | |
keineswegs außergewöhnlich. Aber beim [3][Ampel-Frust der Grünen] geht es | |
um mehr als um eine atmosphärische Verstimmung, nämlich um die Frage: | |
Schafft es die neue Regierung, eine realitätstaugliche 1,5-Grad-Politik | |
umzusetzen? Das scheint auf der Kippe zu stehen. | |
Klar ist: Der strenge Zeitplan wackelt. Im Moment ist offen, ob die 22 | |
Arbeitsgruppen wie verabredet bis Mittwoch 18 Uhr ihre Ergebnispapiere | |
vorlegen können. Einige AGs seien sehr weit, andere aber nicht, heißt es | |
bei VerhandlerInnen. Die Grünen bereiten die Öffentlichkeit schon auf eine | |
Verspätung vor: „Das Ergebnis zählt und nicht das Datum“, sagt | |
Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. | |
## Einzelne drohen mit Verhandlungsabbruch | |
Und es gibt einzelne grüne Stimmen, die offen mit Abbruch der Verhandlungen | |
drohen. „Ich glaube, dass sich alle Seiten noch mal klarmachen müssen: Wenn | |
wir in den nächsten Tagen beim Klimaschutz nicht zusammenkommen, drohen | |
Neuwahlen“, sagte Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann der | |
Süddeutschen Zeitung. | |
Die Habeck-Baerbock-Grünen stecken in einer Zwangslage. Vor der Wahl hatten | |
sie bei ihren WählerInnen riesige Erwartungen geweckt. Es sei „die große | |
Jahrhundertaufgabe“, die Klimakrise in den Griff zu kriegen, hatte Habeck | |
betont. Und: Die Grünen wollten das „größte Klimaschutzpaket beschließen, | |
das es jemals in diesem Land gegeben hat.“ Die Einhaltung des | |
1,5-Grad-Pfades war im Grunde die einzige harte Bedingung, die führende | |
Grüne für eine Regierungsbeteiligung formuliert hatten. | |
Nun zeigt sich, dass sich zwar alle drei Parteien in der Theorie zum | |
Pariser Klimaschutzziel bekennen – aber der Ehrgeiz im Detail sehr | |
unterschiedlich ist. Gewollt sei von SPD und FDP eine klare Arbeitsteilung, | |
erzählt ein grüner Stratege. „Ob beim Verkehr, beim Wohnungsbau oder | |
anderswo, wir sind überall dafür zuständig, für Ökologie und Klimaschutz zu | |
kämpfen. Und Erfolge sollen wir an anderer Stelle bezahlen.“ | |
Bei den Grünen herrscht der Eindruck: Olaf Scholz habe zwar „Klimakanzler“ | |
auf Wahlplakate gedruckt, aber er sei nicht bereit, dies in der Realität | |
einzulösen. Der Sozialdemokrat habe vor allem seine Wiederwahl 2025 im Kopf | |
und wolle nicht mit ambitionierter Politik anecken. Motto: Merkel Reloaded. | |
## Christian Lindner blockt ab | |
Wenn das stimmt, müssten die 14,8-Prozent-Grünen ihr politisches Kapital | |
komplett für Klimaschutz einsetzen – und das Ergebnis dürfte am Ende | |
trotzdem nicht ausreichen. Dass sich Grüne im Moment über fehlende | |
Fortschritte beklagen, ist zum Teil auch Erwartungsmanagement. Sie wollen | |
dem Eindruck vorbeugen, nicht hart genug gekämpft zu haben. Bei der SPD | |
äußert man sich nicht zu den Klagen des Koalitionspartners in spe. „Kein | |
Kommentar“, richtet etwa ein Sprecher für Matthias Miersch aus, den | |
SPD-Chefverhandler der AG „Klima, Energie, Transformation“. | |
Aus grüner Sicht hakt es an mehreren, relevanten Stellen. Ein Beispiel sind | |
die Finanzen. Die Grünen wollen im verabredeten Rahmen – Schuldenbremse | |
bleibt, keine Steuererhöhungen – alle Spielräume nutzen, um mehr | |
Investitionen in Klimaschutz und die Infrastruktur zu ermöglichen, und sie | |
dachten, dies sei auch so mit allen Beteiligten vereinbart. Das Problem ist | |
nur: FDP-Chef Christian Lindner erklärte kurz nach Veröffentlichung des | |
Sondierungspapiers zwei kreative Wege, die sie im Kopf hatten, für Unfug. | |
Schattenhaushalte, worunter auch Kredite über öffentliche Unternehmen | |
fallen könnten? Nannte er bei Maybrit Illner vor einem Millionenpublikum | |
„undemokratisch.“ Im Jahr 2022, bei der wegen Corona noch ausgesetzter | |
Schuldenbremse, Kredite für die Transformation aufnehmen? „Nicht seriös.“ | |
Bei den Grünen sah man dem Mann, der Finanzminister werden will, | |
fassungslos zu. Und versucht sich einen Reim auf Lindners Strategie zu | |
machen. Jener habe Angst vor der CDU, die nur darauf warte, ihn als | |
Schuldenkönig durch die Arena zu treiben, heißt es in der Ökopartei. Oder | |
pokert Lindner, um sich das Finanzressort zu erkämpfen? Ein Kompromiss ist | |
jedenfalls bei so unterschiedlichen Positionen schwer denkbar. | |
## Eigene Fehler kommen dazu | |
Auch beim Verkehr liegen die Vorstellungen himmelweit auseinander, hier sei | |
es „sehr schwierig“, heißt es. Die Grünen fühlen sich dabei nicht nur von | |
der FDP ausgebremst, sondern auch von der SPD. Jene, heißt es, schaue dem | |
Streit zwischen den Kleinen oft zu, ohne eigene Ambitionen erkennen zu | |
lassen. Anderswo blockiere sie. So hat sich das neue Bündnis etwa darauf | |
verständigt, 400.000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen. Die Grünen hätten | |
gerne außerdem vereinbart, dass jene klimafreundlich gebaut sein müssten. | |
Dies soll an der SPD gescheitert sein. | |
Hinzu kommen strategische Entscheidungen der Grünen-Spitze, die selbst von | |
potentiellen Verbündeten als Fehler gesehen werden. Ein Beispiel: Im | |
Sondierungspapier stehen Formulierungen, die das aktuell gültige, von der | |
Großen Koalition nach einem Verfassungsgerichtsurteil verschärfte | |
Klimaschutzgesetz aufweichen. Dagegen protestierten vergangene Woche acht | |
Umweltverbände von BUND über den WWF bis hin zu Greenpeace. Eine | |
Aufweichung „wäre ein katastrophaler Fehlstart“, so die Kritik. | |
Die Grünen-Spitze räumte in einem Antwortschreiben an die Verbände ein, | |
dass es gerade beim Klimaschutz und beim Biodiversitätsschutz in den | |
Verhandlungen noch viel zu tun gebe. „Es wäre dafür sehr hilfreich – und … | |
Teilen seid ihr ja bereits dran – wenn Ihr darauf hinwirken könntet, dass | |
SPD und FDP hier ambitionierte Vorschläge einbringen“, baten die | |
Chefgrünen. „Wenn wir das weiter alleine tun müssen, erschwert das die | |
Verhandlungen enorm.“ | |
Der Brief war nichts anderes als ein Hilferuf. Die Grünen-Spitze wollte der | |
Öffentlickeit vor Augen führen, wie die Dinge aus ihrer Sicht stehen. Aber | |
ist ein Ausstieg aus der Koalition eine Option, wie ihn der | |
Baden-Württemberger Hermann an die Wand malt? Für eine so staatstragende | |
Partei wie die Grünen ist das schwer vorstellbar. Wahrscheinlicher ist, | |
dass sie am Ende ein Ergebnis schön reden, das sie selbst für nicht | |
ausreichend halten. | |
8 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Sondierungsgespraeche-nach-der-Wahl/!5801238 | |
[2] /Selfie-von-Gruenen-und-FDP/!5800695 | |
[3] /Ampel-Verhandlungen/!5813431 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Robert Habeck | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
GNS | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Klimakonferenz in Dubai | |
Ampel-Koalition | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schulden | |
Ampel-Koalition | |
Ampel-Koalition | |
Koalitionsgespräche | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien: Ein Hauch Willy Brandt | |
Christian Lindner zitiert Egon Bahr, Olaf Scholz guckt niedlich wie ein | |
Hundewelpe: Wie die Ampel-Verhandler ihren Koalitionsvertrag vorstellen. | |
Die Grünen in den Ampel-Verhandlungen: Zu nett für diese Welt | |
Leben die Grünen noch? Annalena Baerbocks und Robert Habecks Leute scheinen | |
es als ihre vornehmste Aufgabe zu sehen, die FDP bei Laune zu halten. | |
Grüne über Kritik an der Ampel: „Ich bin gern eine Rebellin“ | |
Cansin Köktürk ist eine der wenigen Grünen, die eine mögliche | |
Ampel-Koalition öffentlich kritisieren. Ein Gespräch über Hartz IV, Moria | |
und ihre Arbeit. | |
Steigende Energiepreise in Europa: EU streitet über Schulden | |
Beim Treffen der EU-Finanzminister liegen die Positionen zu Energiepreisen | |
weit auseinander. Eine weitere Hürde: die deutschen | |
Koalitionsverhandlungen. | |
Ampel-Verhandlungen: Vergesst das Tempolimit | |
Der Erfolg der Grünen misst sich nicht am Tempolimit oder der Zahl der | |
Windräder. Sondern daran, ob es gelingt, Klimaschutz zu entpolitisieren. | |
Olaf Scholz und die Ampel-Koalition: Klimakanzler oder gar nicht | |
Es ist ein falscher Reflex, nur die Grünen für mäßigen Klimaschutz in der | |
Ampel zu verhaften. Verantwortlich ist vor allem auch der Chef, Olaf | |
Scholz. | |
Grüne Jugend über Koalitionsgespräche: „Die Ampel ist kein Automatismus“ | |
Ohne sozialen Ausgleich funktioniere die ökologische Wende nicht, sagen die | |
Bundessprecher der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus. |