Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Grüne über Kritik an der Ampel: „Ich bin gern eine Rebellin“
> Cansin Köktürk ist eine der wenigen Grünen, die eine mögliche
> Ampel-Koalition öffentlich kritisieren. Ein Gespräch über Hartz IV, Moria
> und ihre Arbeit.
Bild: Grünen-Mitglied Cansin Köktürk geht es vor allem um soziale Fragen
taz: Frau Köktürk, in der Sendung von Markus Lanz haben Sie gesagt: „[1][Es
ist ein Skandal, dass so viele junge Leute die FDP gewählt haben].“ Warum
bezeichnen Sie das Wählen einer demokratischen Partei als Skandal?
Cansin Köktürk: Mich hat es sehr erstaunt, wie viel mehr Beachtung das Wort
„Skandal“ bekommen hat als die ganze Diskussion der sozialen Frage, die ich
vorher geführt habe. Ich bin eine Freundin der Demokratie, das steht gar
nicht zur Debatte, jeder hat eine freie Wahl. Soziale Gerechtigkeit und
Klimaschutz fehlen mir aber bei der FDP. Das sind zwei zentrale Punkte, die
unsere Zukunft entscheiden, und nicht Wirtschaft und Digitalisierung.
Deshalb habe ich nicht verstanden, warum gerade so viele junge Menschen
diese Partei gewählt haben. Aber nach wie vor bleibe ich beim Wort
„Skandal“, ich werde das nicht zurückziehen. Für mich ist es ein Skandal,
wenn wir über das Wirtschaftswachstum die Menschlichkeit vergessen.
Sie sind Sozialarbeiterin in Bochum. Welche Perspektive bringen Sie durch
Ihren Beruf mit in die Politik?
Ich habe den Bezug zur Realität. Es ist einfach etwas anderes, wenn man mit
Menschen zusammengearbeitet hat, die bedürftig sind und die dir in die
Augen gucken und verzweifelt sind. Ich glaube, ich habe damit eine andere
Motivation, an die Dinge heranzugehen. Weil ich die Bedingungen verändern
will für Menschen, die ich kenne. Mir tun die Menschen leid und ich kann es
nicht mehr ertragen, als Sozialarbeiterin nicht auch politisch etwas zu
tun.
Sie sprechen davon, in die Politik zu gehen, weil Ihnen „Menschen leidtun“.
Ist das nicht ein sehr paternalistisches Motiv, von oben herab?
Ich finde das nicht paternalistisch, nein. Es ist so: Ich möchte den
Menschen eine Stimme geben, die nicht gehört werden.
Nehmen Sie uns mit in Ihren Alltag. Welche Sorgen, welche Fragen begegnen
Ihnen?
Es sind immer Warum-Fragen. Warum wird mir das Geld gekürzt? Warum bekomme
ich keine Unterstützung? Warum erhalte ich nur eine dreimonatige Duldung?
Aktuell arbeite ich bei der ambulanten Jugendhilfe. Es gibt viele
Geldprobleme, ein niedriges Bildungsniveau und zu wenig Unterstützung. Als
Sozialarbeiterin fällt es mir sehr schwer, immer antworten zu müssen: „Das
ist halt die Sozialpolitik oder die [2][Asylpolitik]. Ich kann es nicht
ändern.“
Was denken Ihre Klient:innen über die aktuelle Regierungsbildung?
Was die Menschen wirklich beschäftigt, ist: Was wird sich jetzt verändern?
Und diese Frage kommt immer wieder, ganz unabhängig davon, wer gerade die
Regierung bildet. Bekommen wir mehr Unterstützung? Was habe ich am Ende des
Monates zu essen? Wie wirkt sich das auf meine Kinder aus? Die Leute fragen
nicht nach Wirtschaft oder Digitalisierung. Sie haben Zukunftsängste und
Angst vor Armut. Es ist nicht so, dass sich meine Klienten hinsetzen und
das Sondierungspapier lesen. Viele haben keinen Bock mehr auf Politik, weil
sie denken: Greifbar ändert sich für mich wieder nichts.
Das Bürgergeld soll Hartz IV ersetzen. Das Ampelbündnis will die Sätze für
das neue Bürgergeld anheben und Sanktionen für Arbeitslose abschwächen.
[3][Saskia Esken sagte im taz-Interview, das Bürgergeld müsse „auskömmlich…
sein]. Was genau würde denn „auskömmlich“ für Menschen, die Sie betreuen,
bedeuten?
Das kommt ganz auf die Lebensumstände an. Ich bin immer dafür, die Menschen
individuell zu betrachten. Je nach Problemlage ist der Bedarf
unterschiedlich. Der aktuelle Hartz-IV-Satz ist definitiv zu wenig. 600
Euro, das reicht vorne und hinten nicht. Den Vorschlag der
Kindergrundsicherung unterstütze ich, das ist ein wichtiger Schritt, aber
das angekündigte Bürgergeld ist meiner Meinung nach nicht mehr als eine
Marketingstrategie.
Welche anderen Maßnahmen würden Ihren Klient:innen Verbesserungen
bringen?
Die Sanktionen, die mit dem Bezug von Hartz IV einhergehen, müssen
verschwinden. Deren Androhung ist so belastend für die Menschen, dass die
Stressfolgeerkrankungen und der psychische Druck immens sind. Ich hatte
eine Klientin, die starke Depressionen hatte und suizidgefährdet war. Sie
war in einer Klinik, kam wieder und das Jobcenter hatte ihr nichts
überwiesen, weil sie zwei Tage vergessen hatte, ihre Kontoauszüge
nachzureichen. Nur mit der Hilfe einer Sozialarbeiterin kommt sie dann an
ihr Geld, weil die Behörden sie nicht ernst nehmen, wenn sie sagt, ihr ging
es nicht gut. Es würde die Menschen enorm entlasten, wenn sie wüssten, sie
bekommen ihr Geld, egal, was passiert.
Sie haben die Flüchtlingsunterkunft am Nordbad in Bochum geleitet und sind
Vorsitzende der [4][Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum]. Die Grünen sind
stolz auf das Bekenntnis zur „humanitären Verantwortung“ im
Sondierungspapier, aus dem sich die Aufgabe ableitet, „das Sterben im
Mittelmeer genauso wie das Leid an den Außengrenzen zu beenden“. Welche
Handlungen müssen daraus folgen?
Wenn wir über Menschenrechte und Humanität sprechen, müssen wir das auch
leben. Wir brauchen mehr Taten statt Worte. Der Winter kommt jetzt. Wir
sehen Menschen auf Moria ohne fließendes Wasser. Kinder drohen an der
deutsch-polnischen Grenze im Wald zu sterben. Wir haben genug Platz in
Deutschland. Warum starten wir nicht eine Revolution der Menschlichkeit und
holen die Leute hierhin, ohne lang mit anderen Staaten zu diskutieren?
Natürlich muss Europa dieses Problem gemeinsam lösen, das bestreite ich
nicht. Aber irgendjemand muss anfangen. Konkrete Maßnahmen gegen das
Sterben auf dem Mittelmeer fehlen im [5][Sondierungspapier]. Legale
Fluchtwege müssen geschaffen werden, damit niemand mehr auf dem Weg zu uns
sein Leben riskieren muss. Es könnte meine Familie sein, es könnte deine
Familie sein, denn niemand hat sich ausgesucht, wo er auf die Welt kommt.
Es wird immer argumentiert, Deutschland habe ja schon Menschen aufgenommen.
Aber das war 2015 und das ist sechs Jahre her.
Mitte Oktober stimmte der Länderrat der Grünen für die Aufnahme der
Koalitionsgespräche mit SPD und FDP. Es gab zwei Gegenstimmen, eine davon
war Ihre. Ihre ampelkritische Rede ging in den sozialen Medien viral. Hat
Sie das überrascht?
Es hat mich tatsächlich überrascht, ich dachte, es wäre normal, auch
dagegenzustimmen. Viele haben meine Rede interpretiert, als wäre ich für
eine erneute GroKo. Das ist falsch. Ich wusste, dass wir zustimmen, das war
klar. Meine Stimme hätte die Entscheidung nicht verändert. Ich wollte als
Delegierte des Länderrats zeigen: „Hey Leute, ich bin nicht hier, um
einfach alles abzunicken. Ich will sagen, dass ich das nicht gut finde, was
im Sondierungspapier steht.“ Und damit wollte ich einen gewissen Druck
erzeugen. Ich habe in dem Moment für all die Menschen gesprochen, die nicht
die Gelegenheit haben, vor Politikern auf einer Bühne zu reden. Und viele
scheinen ähnlich gedacht zu haben.
Nach Ihrem Auftritt bei Lanz und der Rede beim Länderrat bezeichnet die
Zeitung „Der Westen“ Sie als „grüne Rebellin“. Ist das die Rolle, die …
anstreben?
Ich strebe diese Rolle nicht unbedingt an, aber ich glaube, dass jeder
seinen eigenen Kopf hat und ihn auch nutzen sollte. Was mich ausmacht, ist,
dass ich von dem Fraktionszwang und den Hierarchien innerhalb einer Partei
nicht viel halte. Ich bin der Meinung, dass wir Experten viel mehr zuhören
müssen. Es ist wichtig, aus realitätsnahen Erfahrungen zu schöpfen. Ich
denke, dass man manchmal auch radikal entscheiden muss. Dann bin ich gern
eine Rebellin.
Welche Pläne habe Sie für Ihre Zukunft bei den Grünen?
Grundsätzlich antworte ich auf Fragen wie „Wo siehst du dich in zehn
Jahren“ immer: kommt auf die Klimakrise an. Ich weiß nicht, wo wir dann
sind. Aber erst mal versuche ich jetzt, über die Landesliste in den Landtag
zu kommen. Auch wenn Politik manchmal erschöpfend ist und man allein sein
kann mit seiner Meinung – ich werde dranbleiben. Falls es nicht der Landtag
wird, dann ja vielleicht irgendwann der Bundestag. All meine Wut und den
Kummer, den ich über die Jahre angesammelt habe, möchte ich umwandeln in
etwas, das dann am Ende tatsächlich den Menschen hilft.
10 Nov 2021
## LINKS
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lanz-ampel-soziale-frage-100.html
[2] /Streit-in-der-Kenia-Koalition/!5809803
[3] /Saskia-Esken-ueber-Koalitionsgespraeche/!5806367
[4] https://mfh-bochum.de/
[5] https://www.tagesschau.de/sondierungen-153.pdf
## AUTOREN
Nele Sophie Karsten
## TAGS
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Bündnis 90/Die Grünen
Ampel-Koalition
Bündnis 90/Die Grünen
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Ampel-Koalition
Norbert Walter-Borjans
## ARTIKEL ZUM THEMA
Landesparteitag der Grünen in NRW: Zurück an die Macht
Klare Sprache zum Wahlkampfauftakt: Die Grünen wollen regieren. Massive
Unterstützung kommt per Videobotschaft von Vizekanzler Robert Habeck.
Streit in Koalitionsverhandlungen: Ampelfrust bei den Grünen
Nach der ersten Euphorie zieht bei Robert Habecks Leuten Ernüchterung ein.
Zweifel wachsen, ob es gelingt, 1,5-Grad-taugliche Politik zu formulieren.
Geplante Ampel-Koalition: Keine identitätsfixierte Politik!
Die Koalitions-Anbahnungen von Grünen, SPD und FDP sind „Pflegestationen
für jeweils identitäre Politik“. Wo ist das Gemeinsame?
Norbert Walter-Borjans über SPD-Vorsitz: „Es darf kein Kaputtsparen geben“
Norbert Walter-Borjans gibt den Posten des SPD-Chefs auf und schaut
zufrieden zurück. Die FDP warnt er vor einer Rückkehr zur
Austeritätspolitik.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.