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# taz.de -- Stéphane Brizés Spielfilm „Streik“: Der Markt hat ein Gesicht
> Regisseur Stéphane Brizé zeigt im Film „Streik“ einen entfesselten
> Arbeitskampf. Sein Hauptdarsteller Vincent Lindon ist das Kraftzentrum.
Bild: Vincent Lindon als Laurent ist im Film stets im Zentrum des Geschehens
Das Verhältnis von Filmemachern zu Schauspielern ist oft wie in einer
besitzergreifenden Liebesbeziehung. Innig, zweifellos. Klammernd, in
manchen Fällen. Fanatisch und um sich schlagend in den radikalen Momenten.
Mitunter weltvergessen, weil das Kino scheinbar Undenkbares erzeugen kann.
Stéphane Brizé kann den Blick in seinem neuen Film „Streik“ gar nicht mehr
abwenden von seinem Schauspieler Vincent Lindon. Er ist verliebt in diesen
Mann, der so geerdet ist, so zart und feurig, dass er ihn bereits viermal
besetzte und ihm 2015 mit „Der Wert des Menschen“ zum Hauptpreis in Cannes
verhalf. Brizé stellt seine Liebe nun erneut aus und verliert den Boden
unter den Füßen. Er vergisst in diesem Film, worum es hätte gehen können:
Den Streik – oder den „Krieg“, wie es im Originaltitel heißt. Der soziale
Kampf, der Klassenkampf, sie treten hier zurück hinter die Glorifizierung
eines Helden.
Selbstverständlich muss Kunst nicht nützlich sein. Unangenehm wird es, wenn
sie sich zur Erzieherin aufplustert. Das Netz aus Anknüpfungspunkten ist so
erdrückend, dass der Film seine Aura des sozialen Engagements in keinem
Moment abschütteln könnte – was aber auch gar nicht gewollt wäre. Eine
Gruppe von Laien mimt engagierte Arbeiter und Arbeiterinnen aus dem Ort
Agen in Südfrankreich, die gemeinsam mit Laurent alias Vincent Lindon gegen
die Vorgesetzten aufmucken. „Perrin Industrie“ heißt dort eine für den Fi…
erdichtete Fabrik, die auf Beschluss der Konzernleitung hin geschlossen
werden soll.
1.100 Leuten droht die Entlassung. Sie sitzen auf der Straße und finden in
einer heruntergewirtschafteten Region nie mehr Arbeit, falls die Schließung
nicht durch Aktionen und Verhandlungen gestoppt wird. Also legen sie die
Hämmer nieder und blockieren, nehmen Gespräche auf und wollen ganz nach
oben zum Konzernchef, der aus Deutschland mit einem Handwink die Geschicke
des Betriebs lenkt.
Der Film begegnete bei seiner Premiere auf dem Filmfestival von Cannes
einer französischen Medienöffentlichkeit, für die der Begriff der Arbeit
derzeit kaum stärker aufgeladen sein könnte. Seit 2015 hatte es
Protestbilder gegeben, die sich bis zur Selbstverbrennung steigerten. Brizé
wiederum stilisierte seinen Film mit Imitationen von TV-Beiträgen und einem
Handkamera-Realismus zur Kampfansage an die Umstände.
## Schlüsselbilder des französischen Arbeitskampfs
Perrin, das Werk im Film, könnte auch Goodyear heißen, wo 2014 zwei
Führungskräfte von aufgebrachten französischen Angestellten entführt und
festgehalten wurden. Der Regisseur nannte in Cannes als unmittelbare
Inspiration für den Film die Ausschreitungen bei einer Personalratssitzung
von Air France von 2015, während deren Arbeiter einem leitenden
Angestellten das Hemd vom Leib rissen. Sein Film versucht, Schlüsselbilder
des französischen Arbeitskampfs wie im Ritual zu wiederholen.
Der Ort Agen indes wurde zuletzt im Zuge der Gelbwesten-Proteste bekannt,
als dort bei einer Autobahnblockade ein Mann überfahren wurde. Natürlich
klingt Agen als Austragungsort des Konflikts dabei auch metaphorisch,
spricht sich ganz wie das Geld selbst, deutet den Seitenhieb auf
Ausbeutungsmechanismen an, die für Brizé bereits bei „Der Wert des
Menschen“ zentral waren.
Der Markt soll als Machtrealität auch im neuen Film greifbar werden, laut
der Aussage eines Konzernangestellten darin besitzt er gar einen Namen und
ein Gesicht. Der Markt ist in seinem Unternehmersprech das Gegenüber der
Streikenden, bestimmt die Ordnung der Welt. Der Markt sei realistisch. Auf
dem Markt haben sich alle zu behaupten, der kleine Arbeiter ebenso wie die
führenden Angestellten.
## Laurent lässt seine Opponenten auflaufen
Die Rhetorik des Personalchefs wird von Laurent schnell als vorgeschoben
entlarvt. Denn Laurent arbeitet nicht nur gut, sondern versteht zu jeder
Zeit, die Umstände seiner Situation weltpolitisch und kapitalismuslogisch
zu überblicken. Laurent lässt seine Opponenten auflaufen, mit einer
Gelassenheit, die stets als Vorlage zu dienen scheint für das nächste
Aufbrausen.
Vincent Lindon soll sich in diesem Film in Rage spielen, immer und immer
wieder, bis es kein Halten mehr gibt und die Konfrontation auf der Straße
und im Verhandlungstisch nicht mehr genügt, um das Unrecht noch zu kontern.
Ein Mann für die Gesellschaft. Ein Mann, der aufs Ganze geht und alle
Herzen öffnet. Ein Mann, der sich in Pausen zumindest auch als
selbstgerecht und cholerisch entlarvt.
Brizés Film macht mit, wenn er und seine Leute auf die Straße gehen. Die
engagierten Blicke und Gesten ergänzt der Filmemacher um eine ebenso
engagiert wirkende Musikkulisse, die dem Protest Gewicht verleihen soll und
in der Tat mitreißend ist. Es prallen Kräfte und Befindlichkeiten
aufeinander, die so wuchtig sind, dass nur die sphärische Eskalation von
Post-Rock der Situation noch gerecht werden kann. Brizé romantisiert den
Protest und seine lauteste Stimme.
## Vielgestaltigkeit der Gesellschaft
Erst kürzlich ging der Filmemacher Franz Müller aus der Berlinale mit einer
tiefen Frustration heraus und schrieb darüber im Revolver Blog, weil viele
der dortigen Filme sich nur um sich selbst drehten und die
Vielgestaltigkeit der Gesellschaft gerade im Bezug auf Klassenfragen
ausblendeten.
Filme von studierten Leuten für studierte Leute sah er dort, gefördert
durch Studierte in Entscheidungspositionen, subventioniert durch
Fördergelder, die Absolventinnen und Absolventen vorbehalten sind.
Engstirnige, sture Filme, in denen einzelne Figuren dominieren, deren
vereinsamte Perspektiven sich bis zum Schluss durchsetzen. Filme mit
geschlossenem Filter, mit einem Blick von oben, konzentriert auf das
Einfühlungsvermögen der Mächtigen und Privilegierten.
Es ist frustrierend, wie Brizés Streikende immer wieder nach oben sehen, zu
den Entscheidern, die so zum unbefriedigenden Geheimnis des Films
avancieren. Nur vereinzelt und widerstrebend treten sie in Erscheinung.
Einer von ihnen schwenkt um und entscheidet sich, den Streikenden
beizustehen. Kein Wort aber fällt über seine Beweggründe, in keinem Satz
wird er menschlich greifbar, bleibt neben Laurent eine ebenso gesichtslose
Schachfigur wie die Mehrheit der Entlassenen.
## Idee des sinnbildlichen Kapitalisten
Der Mann, der vom Markt als Gegenüber spricht, sitzt in der zentralen
Verhandlungsszene des Films neben dem ernsten deutschen Beschützer des
Mutterkonzerns, in dem sich die Idee des sinnbildlichen Kapitalisten
ungeschickt mit rassistischen Klischees vermischt.
Auch dann, während der Versammlung, schiebt sich vor die Kamera übrigens
immer wieder mal ein Kopf, hemmt die Sicht auf Laurent, als gehörte die
Linse zum Augenpaar eines anwesenden Menschen. Ein Stilmittel, das schon in
diversen anderen Filmen erprobt wurde. Die Sicht auf den Helden wird
verstellt, verwischt und vermischt mit der Masse, suggeriert eine
Unberechenbarkeit, die trotz teils improvisierter Szenen nicht vorhanden
ist. Denn was da geschieht, das ist gesteuert, mit einer klaren Idee davon,
was aus diesem Konflikt angeblich zu lernen ist: Eine Opferbereitschaft,
die die Macht des Kapitals erst ernst nehmen muss, um sie dann mitreißend
zu kontern.
Brizé ist nicht minder der Herrscher über seine kleine Welt, wie seine
Hauptfigur Laurent, der die Marionetten anführt. Laurent und Stéphane, sie
haben alles in ihrer Gewalt – einer Gewalt, um die es hier eigentlich gehen
sollte: die Gewalt von Bildern, die romantisieren wollen, was sie
überwinden könnten. Tatsächlich: ein Film über Herrschaft. Immerhin die
Herrschaft des Gefühls.
25 Apr 2019
## AUTOREN
Dennis Vetter
## TAGS
Spielfilm
Streik
Stéphane Brizé
Vincent Lindon
Kino
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