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# taz.de -- Steinmeiers Selbstkritik: Blicke nie zurück
> Bundespräsident Steinmeier gibt Fehler in seiner Russlandpolitik zu. Ein
> ungewöhnliches Eingeständnis. Selbstkritik ist im Politikbetrieb selten.
Bild: Er habe sich geirrt, sagte Steinmeier im ZDF-“Morgenmagazin“ am Diens…
Die Bundeswehr war [1][20 Jahre lang in Afghanistan]. Der Einsatz endete
mit dem Sieg der Taliban. 2001 war die politische Klasse, von rühmlichen
Ausnahmen abgesehen, felsenfest überzeugt gewesen, dass man Militär nach
Afghanistan schicken musste. Als die Bundeswehr abzog, gab es keinen
verantwortlichen Politiker, der bekannte, man habe sich 2001 geirrt.
PolitikerInnen folgen meist der Doktrin: Vorwärts immer, rückwärts nimmer.
Auch intellektuell begabte PolitikerInnen meiden den kritischen Rückblick,
bei dem es offenbar nichts zu gewinnen gibt. Die Geringschätzung des
Fehlers ist ein erstaunliches Alleinstellungsmerkmal des politischen
Betriebes. Im modernen Management und in Konzernzentralen ist Fehlerkultur
State of the Art. In komplexen, offenen Prozessen, die nie gänzlich
vorhersehbar und steuerbar sind, sind Fehleinschätzungen unvermeidlich.
Kompetent ist daher, wer Fehler erkennt und korrigiert – und nicht, wer dem
Publikum vorgaukelt, Fehler würden nur Dummen passieren.
Selbstkritik ist in der Politik zwar kein striktes Tabu mehr, aber doch
selten. Angela Merkel entschuldigte sich mal für eine unbrauchbare
Coronamaßnahme. [2][Robert Habeck], der eine gewisse Kunstfertigkeit darin
entwickelt hat, eigene Zweifel in politisches Kapital zu verwandeln, redet
einer „lernenden Politik“ das Wort, die Irrtümer einschließt.
Doch der Unwille, oder sogar die Unfähigkeit Rechenschaft über vergangene
Irrtümer abzulegen, gehört noch immer zur habituellen Innenausstattung der
Macht. Das für einen moralischen Defekt von PolitikerInnen zu halten, ist
allzu kurz gedacht. Die politische Aufmerksamkeitsökonomie, zu der wir,
das Publikum, gehören, belohnt selbstkritische Reflexionen wenig. Wer
Fehler zugibt, dem trauen wir für die Zukunft nicht mehr so recht über den
Weg. Die öffentliche Meinung ist ein Säurebad. Und wer sich öffentlich
korrigieren muss, steht schnell in dem Ruf, unfähig zu sein. Aus Fehlern
werden in der atemlosen Rhetorik des politischen Tagesgeschäfts schnell
Desaster, Katastrophen – und somit Unverzeihliches.
## Banales Eingeständnis
PolitikerInnen stecken in einer unschönen Doublebind-Situation. Sie sollen
aufrichtig und, bitte schön, selbstkritisch sein – aber wenn sie es sind,
nimmt es das Publikum schnell übel. Ganz Raffinierte wie Jens Spahn haben
angesichts dieser Falle die Vorabentschuldigung erfunden: Man werde sich am
Ende viel verzeihen müssen, kündigte Spahn zu Beginn der Pandemie an.
Genutzt hat ihm das am Ende allerdings auch nichts.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat nun bekannt, fälschlicherweise
zu lange an [3][der Gaspipeline Nord Stream 2] festgehalten zu haben. Er
habe „sich geirrt“ und nicht für möglich gehalten, dass Putin „den Ruin
seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen würde“.
Diese Selbsterkenntnis klingt etwas banal. Derzeit glaubt nur noch die AfD
an Nord Stream 2. Es ist fast in der gesamten EU Konsens, dass man, so
schnell es eben geht, keine Energie mehr aus Russland kaufen wird.
## Hartnäckiger Irrtum
Steinmeiers Selbstkritik spiegelt also nur das Offensichtliche wider.
Angesichts der Fotos, die ihn vertraulich mit Putin und Außenminister
Lawrow zeigen, folgt sie einem politischen Opportunitätskalkül.
Selbstkritik von PolitikerInnen ist fast immer auch der Versuch, ein Ventil
zu öffnen, um Druck aus dem Kessel zu lassen.
Der Bundespräsident steht qua Job zudem über dem machtpolitischen
Alltagsgerangel. Er muss keine Listenaufstellung und innerparteiliche
Konkurrenz fürchten, die ihm Fehler, die er ja selbst zugegeben hat, bei
passender Gelegenheit unter die Nase reibt.
Macht Steinmeier sich also nur einen schlanken Fuß, bringt sich billig aus
der Schusslinie, hoffend, dass Selbstkritik gegen Kritik imprägniert?
Dieser Verdacht ist naheliegend, aber vorschnell. Er ignoriert, dass, wer
Irrtümer eingesteht, erst mal ungeschützt im Offenen steht und immer ein
schwer abschätzbares Risiko eingeht. Angela Merkels dürrer Satz, sie stehe
zum Nein zum Nato-Beitritt der Ukraine von 2008, erklärt hingegen nichts.
Ein Satz, das ist ein unguter Mittelweg zwischen Schweigen und Begründen.
Steinmeiers Selbstkritik ist vor allem ungewöhnlich. Vielleicht sollten
wir, die Öffentlichkeit, generöser mit Selbstkritik umgehen. Denn die
fehlerfreien PolitikerInnen sind ein Bild, an das ja kaum jemand glaubt,
das aber gleichwohl enorm zählebig ist. Von Steinmeier würde man hingegen
gern mehr erfahren. Nicht nur, dass er sich in Putin getäuscht hat, sondern
auch, warum dieser Irrtum so hartnäckig war.
5 Apr 2022
## LINKS
[1] /Afghanistan-nach-dem-Bundeswehr-Abzug/!5782106
[2] /Robert-Habeck-zur-Energieversorgung/!5841217
[3] /Nach-dem-Stopp-von-Nord-Stream-2/!5833856
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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