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# taz.de -- Steinmeier-Rede zum 9. November: Versöhnen statt spalten
> „Das Stiefkind unserer Demokratiegeschichte“: Bundespräsident
> Frank-Walter Steinmeier versucht den 9. November 1918 zu adoptieren.
Bild: Hat die richtigen Worte zum 9. November gefunden: Frank-Walter Steinmeier…
Berlin taz | Grob gesagt gibt es drei Klassen von bundespräsidialen Reden:
Die gut gemeinten, die nur den common sense spiegeln, die interessanten,
die ein wenig riskieren und die spektakulären, die Wendepunkte markieren,
so wie Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985.
„Der 9. November 1918 ist auf der Landkarte der deutschen Erinnerungsorte
zwar verzeichnet, aber er hat nie den Platz gefunden, der ihm zusteht.“ Das
ist ein Kernsatz in Frank-Walter Steinmeiers Rede [1][zum 9. November] im
Bundestag, die der ambitionierte Versuch sein will, dies zu ändern.
„Die schwierigste und schmerzhafteste Frage“ laute, so Steinmeier, wie aus
der vitalen Demokratie nach 1918 die NS-Diktatur wurde. „Wie konnte es
sein, dass dieses selbe Volk innerhalb weniger Jahre in demokratischen
Wahlen den Demokratiefeinden zur Mehrheit verhalf; seine europäischen
Nachbarn mit Krieg und Vernichtung überzog; wegschaute, wenn nicht gar
gaffte und jubelte, wenn daheim in der eigenen Straße jüdische Nachbarn,
Homosexuelle, seelisch Kranke aus ihren Häusern gezerrt wurden“.
Diese Frage ist ein rhetorischer Höhepunkt der Rede – und ihr
intellektueller Grenzpfahl. Denn Steinmeier versucht nicht Antworten zu
probieren, die über das Bekannte – Versailler Vertrages, Wirtschaftskrise,
Inflation – hinausgehen. War nicht der gravierende Fehler, dass die
reaktionären Eliten, kaisertreue Richter und Generäle, in der Republik
unbehelligt im Amt blieben? Steinmeier erwähnt das – aber nur als Detail.
## Patriotismus mit leisen Tönen
Die SPD-Mitgliedschaft des Bundespräsidenten ruht zwar. Doch dass hier ein
Sozialdemokrat redet, ist nicht nur zwischen den Zeilen hörbar. Gewürdigt
werden „die Verdienste der gemäßigten Arbeiterbewegung“, die klug im Chaos
Kompromisse mit dem gemäßigten Bürgertum schmiedete. Auch die
Schattenseiten von Ebert und Scheidemann werden erwähnt, der Pakt mit den
rechten Freikorps. „Viele wurden damals ermordet, unter ihnen Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht. Auch der Opfer jener Tage wollen wir heute
gedenken“, sagt Steinmeier. Der Saal applaudiert.
Der Plenarsaal des Bundestag ist am Freitagmorgen ordnungsgemäß gut
gefüllt. Der Schauspieler Ulrich Matthes hat vor Steinmeiers Rede
[2][Scheidemanns Ausrufung der Republik] verlesen. Bundestagspräsident
Wolfgang Schäuble schickte ein paar kulturpessimistisch gefärbte
Anmerkungen über die bekanntlich dünne „Firnis der Zivilisation“ voraus.
Steinmeiers Rede ist das Zentrum der Gedenkstunde. Und ein Plädoyer für
einen selbstbewussten, historisch verwurzelten Patriotismus. Der „ist
niemals laut und auftrumpfend – er ist ein Patriotismus mit leisen Tönen
und mit gemischten Gefühlen.“ Das ist elegant formuliert. Die halbe
AfD-Fraktion schaut entsprechend verdrießlich drein. Steinmeier gelingen
ein paar funkelnde Sätze. Diese Rede ist sympathisch, die Urteile sind
abgewogen, nichts ist falsch oder schrill.
## Stehende Ovationen von Linksfraktion bis AfD
Das [3][missliche Schattendasein der Novemberrevolution] erklärt sich durch
das böse Ende der Weimarer Republik, ihren Status als Vorgeschichte des
NS-Staates. Steinmeier will diese Perspektive erweitern. „Historisch
gescheitert ist nicht die Demokratie – historisch gescheitert“ sind
Nationalsozialismus und Diktatur. Vom guten Ende gesehen sollen wir also,
wenn nicht milder, so doch selbstbewusster auf vergangene Debakel schauen.
„Es lebe unsere Demokratie“, sagt Steinmeier am Schluss – und von
Linksfraktion bis AfD gibt es stehende Ovationen.
Steinmeier will Mut machen, er wirbt für republikanisches Selbstbewusstsein
und will versöhnen statt spalten. Das Lob für die halb vergessenen
HeldInnen der Demokratie, von Hermann Müller bis Marie Lüders, klingt
entschlossen, sanft der Tadel der Fehler der Weimarer Republik. Liebknecht
und Luxemburg werden angemessen betrauert. Der Name Gustav Noske, der
Sozialdemokrat, der den Freikorps den Weg bahnte, fällt nicht.
Die Zielrichtung ist das gute Heute. Im Blick zurück sollen wir erkennen,
dass die Demokratie sich nicht von selbst versteht und demokratisches
Engagement Not tut. Diese geschichtspädagogische Ausrichtung wirkt indes
wie eine Art intellektuelle Abfederung nach allen Seiten. Wie ein Puffer,
der jene Zuspitzung und Prägnanz verschluckt, die bedeutende, spektakuläre
Reden auszeichnet.
9 Nov 2018
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
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