| # taz.de -- Sportschützen nach Hanau im Visier: Hier lernt man das Schießen | |
| > Nach dem Massaker von Hanau sind die deutschen Schützenvereine erneut in | |
| > Verruf. Ein Besuch im Dorf Essel bei Hannover. | |
| Bild: Für Anna Fischer aus Essel ist Schießen ein anspruchsvoller Sport | |
| Essen taz | Bodo Tegtmeier könnte zurzeit ein recht unbeschwerter Mann | |
| sein. Der 53-Jährige ist Vorsitzender eines Vereins, dessen Mitgliederzahl | |
| langsam, aber stetig wächst. Finanziell steht sein Klub gut da. Und auch | |
| sportlich konnte man in den vergangenen Jahren den ein oder anderen Erfolg | |
| verbuchen. | |
| Dennoch ist Bodo Tegtmeier dieser Tage nicht ganz frei von Sorgen. Das hat | |
| weniger mit dem Verein selbst als mit der Sportart zu tun, die hier seit | |
| Jahrzehnten ausgeübt wird. Tegtmeier ist Erster Vorsitzender des | |
| Schützenvereins in Essel, einem Dorf rund 50 Kilometer nördlich von | |
| Hannover. | |
| [1][Seit vor anderthalb Wochen ein rechtsextremer Terrorist in Hanau zehn | |
| Menschen erschoss], diskutiert Deutschland nicht nur über | |
| Rechtsextremismus, sondern auch über den Ort, an dem der Attentäter Tobias | |
| R. das Schießen gelernt hat: den Schützenverein. | |
| In Deutschland gibt es laut Deutschem Schützenbund über 14.200 | |
| Schützenvereine mit insgesamt 1,35 Millionen Mitgliedern. Vor allem in den | |
| ländlichen Region Bayerns, Baden-Württembergs und Niedersachsens sind sie | |
| aus dem Dorfleben kaum wegzudenken. 2015 wurden die Schützenvereine von der | |
| Unesco als immaterielles Kulturerbe anerkannt. | |
| Im Fokus von Medien und Politik stehen die Vereine aber vor allem dann, | |
| wenn einer ihrer Mitglieder eine Waffe anstatt auf Scheiben auf Menschen | |
| richtet. Die Attentäter von Erfurt und Winnenden waren Sportschützen. | |
| Ebenso Stephan E., der mutmaßliche Mörder [2][des CDU-Politikers Walter | |
| Lübcke], und der 55-jährige Deutsche, der im Juli [3][einen Eritreer in | |
| Wächtersbach] niederschoss. | |
| Die Debatten, die solchen Anschlägen stets folgen, [4][reichen von der | |
| Forderung nach strengeren Waffengesetzen] bis hin zur Frage, was das | |
| überhaupt soll mit dem Schießsport in Deutschland. Warum werden | |
| Schützenvereine nicht rigoros verboten, fragte etwa ein Kolumnist der | |
| Frankfurter Rundschau nach Hanau. | |
| ## Ein Flachbau neben der Pferdekoppel | |
| Wer Bodo Tegtmeier in seinem Schützenhaus in Essel diese Frage stellt, | |
| stößt auf Unverständnis. Das Schützenhaus ist ein Flachbau aus Backstein. | |
| Obwohl am Dorfrand gelegen – am Ende einer schmalen Straße zwischen | |
| Pferdekoppel und Fußballplatz –, sei das Schützenhaus im Grunde das Zentrum | |
| von Essel, sagt Tegtmeier. Rund 1.000 Menschen wohnen im Dorf. Der | |
| Schützenverein zählt knapp 400 Mitglieder. | |
| Es ist nun nicht so, dass Tegtmeier eine Verteidungsrede auf die | |
| Schützenvereine in Deutschland, auf die Traditionen und die Bräuche hält. | |
| Er fühlt sich durch diese Debatten weder angegriffen noch verspürt er | |
| großen Rechtfertigungsdruck. Sein Unverständnis ist wörtlich zu nehmen. | |
| Tegtmeier sieht zwischen dem, was er und sein Schützenverein machen, und | |
| Schützen wie Tobias R. schlicht keine Verbindung. | |
| Diese ganzen Diskussionen seien ihm etwas unangenehm, sagt er, weil sie | |
| diesen eigentlich schönen Sport, in dem es um Körperbeherrschung und | |
| Konzentration gehe, zu Unrecht in Verruf bringen würden. „Man hört da viele | |
| Vorurteile raus“, sagt Tegtmeier. Hier in Essel kämen diese Fragen erst gar | |
| nicht auf. | |
| Einzuwenden bleibt: Hinterher ist die Überraschung dann immer groß. Man | |
| kann die Reaktionen der Schützenvereine auf die Taten von Tobias R. und | |
| Stephan E. fast übereinanderlegen. Freundlich, ruhig und zurückhaltend | |
| seien sie gewesen. Niemand hätte damit gerechnet. | |
| Tegtmeier zögert nun etwas. Natürlich sieht auch er die Korrelation. Aber | |
| genau das sei es eben: eine Korrelation, keine Kausalität. Weder führte ein | |
| Umfeld wie das des Esseler Schützenvereins zu einer Radikalisierung noch | |
| ziehe es Radikale an. Davon ist er fest überzeugt. | |
| ## Der Vereinschef schießt nicht, er flötet | |
| Tatsächlich ist Tegtmeier jemand, der die Klischeevorstellung vom | |
| breitbeinigen, bierseligen und irgendwie verruchten Schützenverein infrage | |
| stellt. Tegtmeier selbst ist gar kein Schütze. Er spielt Querflöte im | |
| Spielmannszug des Vereins. Schießt höchstens mal auf Festen, wenn es das | |
| Ehrenamt des Vereinsvorsitzenden quasi verlangt. | |
| Und dann beginnt Tegtmeier, der so leise spricht, dass man ihn sich am | |
| liebsten ans Ohr halten würde, von seinem Dorf Essel zu erzählen. Ein Ort, | |
| der laut Tegtmeier ohne Schützenverein einfach einschlafen würde. Das | |
| jährliche Schützenfest an Pfingsten sei mit Abstand das größte Ereignis | |
| hier. In guten Jahren würden mehr Menschen kommen, als Essel Einwohner hat. | |
| Auch die großen Lebensereignisse – Geburtstage, Hochzeiten, Trauerfeiern –, | |
| sie finden oft im Schützenhaus statt. Eine Kneipe, geschweige denn ein | |
| Restaurant, gibt es in Essel schon lange nicht mehr. „Das Schützenhaus ist | |
| im Grunde auch das Dorfgemeinschaftshaus“, sagt Tegtmeier. | |
| Man kann bei Tegtmeier nie so genau sagen, wo der Schützenverein aufhört | |
| und wo das Dorf anfängt. Wahrscheinlich würde er da auch gar keinen großen | |
| Unterschied machen. | |
| ## Drei Plakate innerhalb des Schützenhauses | |
| Um zu erklären, wie sehr das Dorf mit dem Schützenverein verwoben ist, | |
| zeigt Tegtmeier auf drei Plakate im kleinen Veranstaltungssaal des | |
| Schützenhauses. Der Raum ist recht karg eingerichtet. Ein paar Holztische | |
| und -stühle, eine kleine Bar, an der Wand die Bilder aller bisherigen | |
| Vorsitzenden und die Namen der Schützenköniginnen und -könige. | |
| Die Plakate, auf die Tegtmeier deutet, zeigen Fotos sämtlicher Wohnhäuser | |
| in Essel. Darunter steht jeweils Name und Adresse. Eine Art | |
| Einwohnerregister, das man zur 750-Jahr-Feier des Orts erstellt hat. „Und | |
| natürlich haben wir das bei uns im Schützenhaus aufgehängt“, sagt | |
| Tegtmeier. Wo sonst? | |
| Die Frage drängt sich auf: Könnte man das alles – die Geselligkeit, den | |
| Zusammenhalt, die Feiern –, könnte man das nicht auch ohne das Schießen | |
| haben? Es gibt in Essel eine Freiwillige Feuerwehr, einen Fußballverein und | |
| einen Reiterhof. Und doch pilgern die Menschen vor allem zum Schießstand. | |
| Warum? | |
| Eine Antwort auf diese Frage findet man bei Anna Fischer. Mit zehn hat sie | |
| angefangen mit dem Schießen. Heute ist sie 18 Jahre alt und bereitet sich | |
| gerade auf die Kreismeisterschaften vor. 50 Schuss feuert Fischer während | |
| ihrer Trainingszeit am Dienstagabend aus ihrem Kleinkalibergewehr auf die | |
| 50-Meter-Distanz. Nach jedem Schuss setzt sie das Gewehr kurz auf ein | |
| Stativ ab und kontrolliert auf dem Bildschirm links neben sich, auf welchem | |
| Ring der Schuss gelandet ist. Dann atmet sie durch und setzt neu an. | |
| Zum Verein sei sie durch ihre Eltern gekommen. „Meine ganze Familie schießt | |
| ja“, sagt Fischer. Sie ist talentiert, hat an mehreren Deutschen | |
| Meisterschaften teilgenommen. Das sei bis heute ihre Motivation: Zu wissen, | |
| man könne es an die Spitze schaffen. „Du musst vom Geist und Körper fit | |
| sein“, sagt Fischer über die Faszination ihres Sports. „Am Anfang wackelst | |
| du viel. Es ist wirklich harte Arbeit, deinen Körper so kennenzulernen, | |
| dass er ruhig steht.“ Wenn man nicht wüsste, über was genau Fischer da | |
| spricht, könnte man denken, sie mache Yoga. | |
| ## Beinabstand mit dem Zollstock kontrolliert | |
| Mit ihrem Training ist Fischer heute nicht zufrieden. Zu viele 6er- und | |
| 7er-Ringe werden ihr auf ihrem Bildschirm angezeigt. Wer Fischer dabei | |
| beobachtet, wie entnervt sie von schlechten Schüssen ist, wie sie versucht, | |
| trotzdem konzentriert zu bleiben und wie sie ihren Beinabstand immer wieder | |
| an einem auf dem Boden liegenden Zollstock kontrolliert, der merkt auch: | |
| Ja, man kann in einem Schützenverein den Umgang mit der Waffe lernen, zum | |
| Waffenfanatiker wird man hier eher nicht. Es ist alles in allem eine sehr | |
| technische Angelegenheit. | |
| Der Schießsport sei nicht bei allen Schützenvereinen in der Region so | |
| professionell, sagt Tegtmeier. Ihr Ansatz sei es, beides möglichst zu | |
| verbinden: Geselligkeit und Professionalität. Auch in der Jugendarbeit sei | |
| man sehr engagiert, erzählt Tegtmeier. Sein Verein organisiere viele | |
| Ferienprogramme und Kinderfeste. | |
| Das Schießen können Kinder hier ab einem Alter von acht Jahren lernen. | |
| Dabei kommen keine scharfen, sondern sogenannte Lichtpunktpistolen zum | |
| Einsatz. Könnte das nicht sogar eine Lösung für alle sein? Die Forderung, | |
| auf schießfähige Waffen zu verzichten und stattdessen Lichtpunktwaffen | |
| einzusetzen, taucht nach Attentaten immer wieder auf. | |
| Aber auch das ist eine Forderung, der Tegtmeier mit echtem Unverständnis | |
| begegnet: Darüber habe er sich ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht. | |
| „Mein Bauchgefühl: Das brauchen wir eher nicht“, sagt Tegtmeier. Die | |
| Attentäter der vergangenen Monate hätten schließlich nicht mit Waffen aus | |
| den Schützenvereinen geschossen. Und außerdem: Wer eine Waffe wolle, der | |
| komme an eine Waffe. Da helfe auch kein Verbot von Sportschießwaffen. | |
| Bis vor das Jüngste Gericht würde er mit dieser Überzeugung jedoch nicht | |
| ziehen. Sollte die Lichtpunktpistolen irgendwann Konsens werden im | |
| Schießsport, würde er sich dem nicht verschließen. | |
| 2 Mar 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Editorial-zum-Dossier-nach-Hanau/!5664225&s=offene+grenzen/ | |
| [2] /Rechter-Terror-in-Hessen/!5663000&s=L%C3%BCbcke/ | |
| [3] /Attentat-auf-Eritreer/!5612995/ | |
| [4] /Massnahmen-gegen-rechten-Terror/!5665825&s=konrad/ | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Böldt | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Rechtsextremismus | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schützenvereine | |
| Dorfleben | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Grüne Niedersachsen | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Waffen | |
| Waffen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Sportschütze über Waffengesetze: „Wir brauchen bessere Regeln“ | |
| Sportschütze Timo Schreiber wünscht sich strengere Waffengesetze, um | |
| rassistische Terroranschläge wie in Hanau künftig zu verhindern. | |
| Grüne wollen Waffenrecht verschärfen: Einschränkungen für Sportschützen | |
| Nach den Morden in Hanau fordern die Grünen in Niedersachsen, dass | |
| Sportschützen zu Hause keine Munition lagern dürfen. | |
| Traumapädagoge über Folgen von Hanau: „Manche erstarren, manche zittern“ | |
| Der Hanauer Traumapädagoge Thomas Lutz betreut Betroffene der rassistischen | |
| Terrorattacke. Er beobachtet eine tiefsitzende Angst. | |
| Protokolle nach Hanau: Wut. Trauer. Mut | |
| Eine Woche nach dem rassistischen Terroranschlag von Hanau bleibt die | |
| Frage: Was können wir tun? Elf Protokolle. | |
| Editorial zum Dossier nach Hanau: Offene Grenzen | |
| Eine Allianz aus Wutbürgern und rechten Ideologen hat 2015 die Grenzen | |
| geöffnet – für bis dahin nicht Sagbares | |
| Bundestag verschärft das Waffenrecht: Waffe erst nach Überprüfung | |
| Waffenkäufer werden künftig vom Verfassungsschutz überprüft. Die Länder | |
| können Verbotszonen an belebten Plätzen einrichten. | |
| SPD Bremen gegen Amokwaffen: Senat soll Gewehre kaufen | |
| Die SPD-Fraktion will die Zahl der Amokläufer-Waffe AR-15 reduzieren. | |
| Privatbesitzer sollen Kaufangebote bekommen. Bundesweit ist das Verbot | |
| gescheitert | |
| Bundesligawettkampf im Schießsport: In Serie perfekt | |
| Die Luftgewehr-Bundesliga ist weltweit einmalig und bietet reichlich | |
| Überraschungen. Ein Besuch bei der Schützenbrüderschaft Freiheit e. V. |