# taz.de -- Spaniens Gesellschaft in der Coronakrise: Das Virus, die Stille, de… | |
> Spanier und andere Südeuropäer kollektivieren die Pandemie. Sie zeigen | |
> sich der Welt mit Optimismus und Humor über die Balkone hinweg. | |
Bild: Madrid in Zeiten von Corona | |
MADRID taz | „Resistiré …“ – (Ich werde standhalten) – „… wenn i… | |
Spiele verliere, wenn ich in Einsamkeit schlafe (…), wenn ich Angst vor der | |
Stille habe …“, schallt es jeden Abend kurz vor 20 Uhr von den Balkonen | |
Madrids, gefolgt von einem minutenlangen Applaus. Die nicht enden wollende | |
Ruhe der Ausgangssperre weicht dem kollektiven Beifallklatschen. Es gilt | |
dem [1][Krankenhauspersonal] und soll wohl auch die eigenen Ängste vor der | |
Coronapandemie, die täglich Hunderte von Opfern fordert, vertreiben. | |
Die Straßen sind leer, Kneipen und Geschäfte geschlossen. Kein Hupen, kein | |
lautes Quietschen beim Herunterlassen der Rollläden der Geschäfte. Keine | |
lauten Gespräche an der Straßenecke, keine Schritte, einfach nichts … Doch | |
wer genau hinhört, macht Ungewohntes aus. | |
Von irgendwoher kommt leises Vogelgezwitscher, entferntes Hundegebell, | |
Läuten von Kirchenglocken. Das Rauschen sich bewegender Bäume, ein | |
Glockenspiel im Wind … Ab und an Wortfetzen aus irgendeinem Fenster. Das | |
Weinen eines Babys in einer Wohnung, etwas Musik, das Klappern von Geschirr | |
… das Leben hat sich hinter die Mauern zurückgezogen. | |
„Es ist schon eigenartig. Jetzt, wo [2][Madrid schweigt], höre ich die | |
Stadt mehr denn je. Vielleicht weil ich aufmerksamer bin oder weil ich | |
Dinge vermisse, die ich vorher als selbstverständlich angesehen habe“, | |
beschreibt Elvira Sastre in der Tageszeitung El País die von der Krankheit | |
eingenommene Stadt. Die junge Lyrikerin ist nicht die Einzige, die dieser | |
Tage versucht, in das vermeintliche Nichts hineinzuhören. | |
## Die Stille ist in Spanien etwas Unbequemes | |
Luis Luna, ebenfalls Dichter, wagt den Blick nach innen in einem Land, das | |
sonst so sehr von der Darstellung nach außen geprägt ist. Die akustische | |
Leere habe dieser Tage „einen ungewohnten Stellenwert“ im nach Japan | |
zweitlautesten Land der Welt. „Die Stille ist in Spanien etwas Unbequemes | |
und lässt sich, wenn überhaupt, nur in Begleitung enger Vertrauter | |
herstellen“, sagt er. Und er beobachtet all die Initiativen, mit denen | |
seine Mitmenschen versuchen, die plötzliche Dominanz der Stille zu brechen, | |
ihrer Herr zu werden. | |
Nachbarn, die sich sonst nur im Vorübergehen auf der Treppe oder im | |
Parkhaus grüßen, spielen stundenlang laut rufend über die Innenhöfe hinweg | |
Bingo-Lotterie oder „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Sie treffen sich | |
zum Kaffee von Balkon zu Balkon, machen gemeinsam Yoga und Frühgymnastik. | |
Der Applaus am Abend schließt den Tag ab. „Die Menschen gehen wie hungrige | |
Vögel ans Fenster, bettelnd um Worte, Gesten und Emotionen“, resümiert Luna | |
den neuen Alltag. | |
„Es ist die Angst vor dem Alleinsein, die Angst vor sich selbst, davor, in | |
sich hineinzuschauen, Angst vor dem Bewusstsein, vor dem Denken“, sagt die | |
Komponistin und Dichterin Lourdes de Abajo. Die Balkoninitiativen würden | |
„die Pandemie verkollektivieren“. Sie machten aus ihr „einen täglichen | |
Ritus“. Das biete „die Möglichkeit, sich der Welt als Subjekt darzustellen, | |
das die Tragödie mit Optimismus und Humor bekämpft“, überlegt de Abajo. | |
„Vielleicht verpassen wir die Chance für inneres Wachstum“, fügt sie hinz… | |
Jorge Lago, Verleger und Professor für politische Theorie an der Madrider | |
Universität Carlos III., fragt nach dem Warum dieser andauernden Flucht vor | |
der Stille. „Die Logik der Stille hat viel mit der religiösen Tradition zu | |
tun“, ist er sich sicher. Er verweist darauf, dass die Reformation im Süden | |
Europas nie stattgefunden hat. „Die Gesellschaften im Norden ertragen die | |
Stille leichter“, analysiert er. | |
## Sich mit den eigenen Gespenstern auseinandersetzen | |
Die Reformation ersetzte die Logik der kirchlichen Gemeinschaft – der Messe | |
– durch eine persönliche Beziehung zu den religiösen Texten. Das gebe dem | |
Selbst, dem Denken und Zweifeln einen neuen Stellenwert. „Die Stille ist | |
der Moment, in dem sich jeder mit seinen eigenen Gespenstern | |
auseinandersetzen und sie akzeptieren muss“, erklärt Lago. Deshalb sei die | |
Leere so unbequem. | |
Während sich Mittel- und Nordeuropa reformierten, entstand in der | |
katholischen Welt das Barock, geprägt vom „Horror Vacui“, von der Angst vor | |
der Leere und damit auch vor der Stille. Alles muss gefüllt werden. Wohl | |
nirgendwo in Europa seien die barocke Kirchenkunst und Malerei so überladen | |
wie in Spanien, in der Folge auch in Lateinamerika. | |
Dazu komme, „dass die Gesellschaften im Süden mehr auf Gemeinschaft | |
aufgebaut sind als die im Norden“. Im Norden sei der Staat stärker, sorge | |
mehr für die Bedürfnisse der Bürger als im Süden, wo vieles nur dank | |
gegenseitiger Hilfe funktioniere. Das wiederum schaffe den sozialen Zwang | |
zur Anpassung. | |
Von der Vertreibung der Juden und Muslime über die Inquisition bis hin zu | |
Bürgerkrieg und Franco-Diktatur – die spanische Geschichte ist voll von | |
Epochen, in denen, wer die dominierenden Parolen nicht nachbetete, in | |
ständigem Verdacht stand. Die Kollektivität sei vor allem eine der | |
Anpassung. In der Öffentlichkeit werde viel fingiert. Es sei oft ein | |
Schauspiel, ja eine Farce, meint Lago deshalb. „Um 20 Uhr zu applaudieren | |
ist letztendlich nichts anderes als eine weitere soziale Norm“, gibt er zu | |
bedenken. | |
## Großer Lärm verdeckt große Stille | |
Stille kann so vielschichtig sein wie auch Lärm. „Wir sind ein Land, in dem | |
großer Lärm eine große Stille verdeckt“, sagt Isabel Cadenas, Doktorin der | |
Kulturgeschichte und Chefin des Podcasts „De eso no se habla“ – „Darüb… | |
spricht man nicht.“ „Wenn du die Aufnahme eines stillen Moments mit der | |
eines anderen stillen Moments überlagerst und dann einem dritten und so | |
weiter, ist das Ergebnis nicht Stille, sondern ein unangenehmes Rauschen. | |
Das ist wohl die beste Metapher für die spanische Realität“, sagt Cadenas. | |
Sie beschäftigt sich vor allem mit der Vergangenheitsbewältigung oder | |
besser gesagt der mangelhaften Aufarbeitung der Franco-Diktatur. Wie viele | |
ist sie mit dem verängstigten elterlichen Rat „No te signifiques“ – „Tu | |
dich nicht hervor“ – aufgewachsen. | |
„In der Franco-Diktatur lernten unsere Eltern und Großeltern ‚weißes | |
Rauschen‘ zu sein“, benutzt Cadenas einen Begriff aus der Physik, der ein | |
aleatorisches Signal bezeichnet, bei dem alle Frequenzen gleich stark sind | |
und sich mischen. „Es war gefährlich, sich hervorzutun. Die anderen konnten | |
wissen, was du denkst, konnten dich deshalb denunzieren. Die Folgen: der | |
Verlust des Zuhauses, die Gefahr, eingesperrt oder gar getötet werden“, so | |
Cadenas. | |
Die elterliche Empfehlung, sich nicht in Politik einzumischen, zu | |
schweigen, geschehen zu lassen, prägte ihre ganze Jugend, sagt sie – und | |
das, obwohl sie 1984, sieben Jahre nach Ende der Franco-Diktatur, zur Welt | |
kam. | |
## Aussöhnung ohne Blick zurück | |
„Auch meine Generation hat noch gelernt, zu reden, ohne etwas zu sagen“, | |
meint Cadenas. Hinzu komme die Neutralität, eine vermeintliche Aussöhnung | |
ohne Blick zurück, die in der Zeit des Übergangs zur Demokratie gepredigt | |
wurde. „Als wenn man angesichts dessen, was geschehen ist, neutral sein | |
könnte“, sagt Cadenas. | |
Erst 25 Jahre nach dem Tod des Diktators öffneten Angehörige der Opfer von | |
Bürgerkrieg und Diktatur die ersten anonymen Massengräber. Und es sollte | |
weitere 11 Jahre dauern, bis der Schrei „Wir haben keine Angst“ überall in | |
Spanien erklang. Es war der 15. Mai 2011. Die sogenannten Empörten hatten | |
überall im Land Plätze besetzt und Protestcamps errichtet, um ihre Wut über | |
die mangelhafte Demokratie, die Korruption und die Bewältigung der | |
Finanzkrise auf Kosten der einfachen Leute zu artikulieren. | |
Die meist jungen Menschen schüttelten nicht nur die Angst ab, mit der | |
Generationen vor ihnen aufgewachsen waren, sie erfanden etwas, was auf den | |
ersten Blick ein Paradoxon zu sein scheint. „El grito silencioso“ – den | |
„stillen Schrei“. Er bestand darin, eine Minute schweigend dazustehen, die | |
offenen Handflächen in den Abendhimmel gestreckt. Wer dabei war, wird das | |
nie vergessen. Es war ein beeindruckender historischer Moment – in einem | |
Land, das so sehr an den Lärm und so wenig an die Stille gewöhnt ist. | |
15 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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