| # taz.de -- Sozialarbeiter über Wohnungslosigkeit: „Manchmal werde ich anges… | |
| > Axel Brase-Wentzell engagiert sich seit 30 Jahren für Wohnungslose in | |
| > Bremen. Es ist ein steter Kampf für einen menschenwürdigen Umgang. | |
| Bild: Leben in ständiger Gefahr: Habseligkeiten eines Obdachlosen auf dem Vorp… | |
| taz: Herr Brase-Wentzell, was wünschen Sie sich in diesem Jahr für die | |
| Wohnungslosenhilfe? | |
| Axel Brase-Wentzell: Es gibt auf Bundesebene einen [1][nationalen | |
| Aktionsplan], nach dem es bis 2030 keine Wohnungslosigkeit mehr geben soll. | |
| Allerdings beinhaltet der noch keine konkrete Unterstützungsmaßnahmen wie | |
| zum Beispiel Förderprogramme für bezahlbaren Wohnraum. Die wünsche ich mir. | |
| taz: Was braucht es denn, um [2][Housing First] umzusetzen? Danach bekommt | |
| eine Person eine Wohnung, egal, ob sie eine Sucht-Therapie macht oder sich | |
| wegen einer psychischen Erkrankung behandeln lässt. | |
| Brase-Wentzell: Die Frage stellt sich unabhängig von einem | |
| Housing-First-Ansatz. Es gibt bei uns im Hilfssystem für Berufstätige, die | |
| ihre Wohnung verloren haben, weil sie angesichts der Inflation und der | |
| steigenden Lebenshaltungskosten die Miete nicht mehr bezahlen konnten, | |
| manche mit Familie. Versuchen Sie aktuell mal in Bremen eine neue Wohnung | |
| zu finden und dann auch noch eine günstigere! | |
| taz: Wie viele Personen befinden sich derzeit in Bremen in Notunterkünften? | |
| Brase-Wentzell: Stand letzter Woche sind das knapp 560 Menschen. | |
| taz: Braucht es noch mehr solcher Notschlafplätze? | |
| Brase-Wentzell: Es braucht noch mehr [3][Plätze, die am Bedarf der Menschen | |
| orientiert sind], zum Beispiel mit Pflegebedürftigkeit. Grundsätzlich | |
| braucht es nicht immer mehr Notplätze. Besser wäre es, die Ursachen zu | |
| bekämpfen und das Grundrecht auf eigenen Wohnraum umzusetzen. | |
| taz: Viele Menschen, die in Städten draußen schlafen, kommen aus anderen | |
| EU-Ländern. Sie haben nur Anspruch auf staatliche Unterstützung, wenn sie | |
| in Deutschland sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben. | |
| Brase-Wentzell: Trotzdem ist der Staat verpflichtet, sie vor Gefahren zu | |
| schützen. Ich finde, das gilt auch für die ganze Gesellschaft. Bremen kommt | |
| dem aktuell vergleichsweise gut nach. Wir haben 100 Plätze für Menschen | |
| ohne Leistungsansprüche, die nach der so genannten Kälteregelung | |
| untergebracht sind, mit pädagogischem Personal und Sicherheitsdienst. | |
| taz: Trotzdem schlafen manche auch im Winter draußen. | |
| Brase-Wentzell: Sehr wenige entscheiden sich bewusst dafür. Andere finden | |
| den Weg nicht ins Hilfesystem aufgrund einer Sucht oder psychischen | |
| Erkrankung oder beidem. | |
| taz: Sie arbeiten seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe. Hat sich die | |
| Situation in dieser Zeit immer weiter zugespitzt? | |
| Brase-Wentzell: Es gibt immer andere Herausforderungen. In den 90ern hatten | |
| wir die Auswirkungen der Wiedervereinigung. Da haben wir in der | |
| Notunterkunft im Jakobushaus auf den Fluren Pritschen aufgestellt. Und als | |
| 2015 und 2016 so viele Geflüchtete kamen, gab es auch zu wenige Wohnungen. | |
| Aber in diesen Phasen wurde immer parallel gebaut. Wenn heute gebaut wird, | |
| dann meistens im Hochpreissegment. Deswegen mache ich mir heute mehr Sorgen | |
| als zu anderen Zeiten. | |
| taz: Das heißt, dass es möglich ist, gegenzusteuern. | |
| Brase-Wentzell: Wenn ich diese Erfahrungen nicht machen würde, könnte ich | |
| meine Arbeit nicht machen. | |
| taz: Welche waren das? | |
| Brase-Wentzell: Ich glaube, die Bremer Kälteregelung würde es in der Form | |
| ohne unser Zutun nicht geben, auch nicht so viele Streetwork-Stellen. | |
| Manches Angebot wie der [4][Wärmebus] wäre vielleicht nicht weiter | |
| finanziert worden, wenn wir nicht ständig im Austausch mit Politik und | |
| Behörden zu den Bedarfen der wohnungslosen- und obdachlosen Menschen stehen | |
| würden. Wir können auch etwas bewegen, wenn wir mit Bürger:innen | |
| sprechen, in Beiratssitzungen zum Beispiel. | |
| taz: Hören die Ihnen in diesen Stadtteilparlamenten zu? | |
| Brase-Wentzell: Es waren selten Kaffeekränzchen, wenn ich in einem Beirat | |
| saß. Wobei man sagen muss, dass die meisten Bürger:innen die Not sehen | |
| und wollen, dass den Menschen geholfen wird – nur nicht vor der eigenen | |
| Haustür. Aktuell wird es heftiger, weil die Symptome, die mit | |
| Suchterkrankungen einhergehen, für die Bevölkerung andere Belastungen | |
| bedeuten. Manchmal werde ich angeschrien und beschimpft, es gibt | |
| Hass-Kommentare in sozialen Medien. Für meine Kolleginnen und Kollegen aus | |
| dem Bereich Streetwork ist die Situation aber wesentlich belastender. | |
| taz: Dass das aufhört: Steht das auch auf Ihrer Wunschliste? | |
| Brase-Wentzell: Da steht der Wunsch nach einem gesellschaftspolitischen | |
| Konsens darüber, dass diese Menschen da sind, viele von ihnen schwerst | |
| krank, mitten in der Stadt, und dass wir ihnen helfen müssen. Und dass kein | |
| Wahlkampf auf ihre Kosten gemacht wird. | |
| taz: Dieser Konsens scheint zu bröckeln, weil die Zahl der Crack-Abhängigen | |
| zunimmt, einer Droge, die einen sehr hohen Suchtdruck auslöst und damit | |
| auch mehr Beschaffungskriminalität mit sich zieht. | |
| Brase-Wentzell: Die gibt es, ja, und [5][das kann für Anwohner:innen | |
| eine erhebliche Belastung sein]. Aber in der öffentlichen Debatte wird | |
| selten differenziert. Da gelten wohnungs- und obdachlose Menschen aufgrund | |
| ihrer persönlich existentiellen Situation automatisch als belastend für die | |
| Gesellschaft und kriminell. Das ist falsch. | |
| taz: Ein anderes Thema sind psychisch Kranke, die aufgrund ihrer Erkrankung | |
| ihre Wohnungen verloren haben. | |
| Brase-Wentzell: Wir haben in Bremen knapp 20 Jahre dafür gekämpft, dass es | |
| eine Einrichtung gibt für Menschen, die nicht erkennen können oder wollen, | |
| dass sie krank sind. Seit fünf Jahren besteht sie jetzt mit 27 Plätzen. | |
| Manche Menschen konnten sich dort stabilisieren und haben sich behandeln | |
| lassen, so dass sie in eigene Wohnungen ziehen konnte. | |
| taz: Welche Möglichkeiten gibt es, Wohnungslosigkeit zu verhindern? | |
| Brase-Wentzell: Mehr Prävention wäre mein dritter Wunsch. Es gibt viele | |
| Menschen, die ihre Wohnung nicht verlieren müssten, wenn sie wüssten, | |
| welche Hilfen es gibt. Die zum Beispiel arbeitslos sind und nicht wissen, | |
| dass sie Anspruch auf die Übernahme der Mietkosten durch staatliche Stellen | |
| haben. Andere sind an einem Punkt, an dem sie ihre Briefe nicht mehr | |
| öffnen, E-Mails nicht lesen. Die wissen nicht, dass ihnen eine | |
| Räumungsklage droht. Die Vermieter:innen und Wohnungsbaugesellschaften | |
| dürfen die Adressen aber nicht weitergeben, so dass die zentrale Fachstelle | |
| Wohnen, die auch mit der Übernahme von Mietschulden helfen kann, erst davon | |
| erfährt, wenn die Räumungsklage beschlossen ist, über das Amtsgericht. Erst | |
| dann kann sie Kontakt aufnehmen. Besser wäre es, wenn sie das schon könnte, | |
| wenn nur Mietschulden bestehen und/oder der Strom abgestellt wird. Das geht | |
| aber aus Datenschutzgründen nicht. | |
| taz: Wie erreicht man diese Menschen? Wohl kaum über noch mehr Briefe … | |
| Brase-Wentzell: Dafür braucht es Menschen, die immer wieder klingeln. Aber | |
| dafür haben wir aktuell nicht die Ressourcen. Prävention würde auch in | |
| diesem Bereich viel Geld sparen, weil Klageverfahren und eine | |
| Notunterbringung sehr teuer sind. | |
| taz: Haben Sie noch einen Wunsch? | |
| Brase-Wentzell: Ich wünsche mir einen Ausbau der medizinischen Versorgung | |
| für die, denen es richtig elend geht, die vor unser aller Augen sterben. | |
| taz: Das passiert häufiger als früher? | |
| Brase-Wentzell: Ja. Meine Kollegin aus der Streetwork sagt, sie hat in den | |
| letzten drei Jahren zwischen 40 und 60 Menschen verloren. Die sind noch | |
| nicht alle gestorben, aber die waren vorher alkoholabhängig oder | |
| substituiert, haben dann Crack konsumiert und jetzt kann sie ihnen beim | |
| Sterben zugucken. Viele haben Wunden, die dringend versorgt werden müssen, | |
| um eine Blutvergiftung zu verhindern. | |
| taz: Was brauchen diese Menschen? | |
| Brase-Wentzell: Einen Ort, an dem sie schlafen und sich ausruhen können, wo | |
| sie medizinisch versorgt werden. Dann wären wir auch wieder mit ihnen im | |
| Kontakt und könnten sie unterstützen und mit ihnen arbeiten. | |
| taz: Die politische Stimmung spricht gerade nicht dafür, dass Ihre Wünsche | |
| wahr werden. Es geht viel um Vertreibung, auch in Bremen, wo [6][in einem | |
| Bereich um den Hauptbahnhof an Haltestellen keine Drogen] oder Alkohol | |
| konsumiert werden dürfen. | |
| Brase-Wentzell: Soziale Herausforderungen kann man nicht durch | |
| Ordnungsrecht beheben. Da helfen auch Vertreibungsmaßnahmen nicht. Der | |
| Hauptbahnhof ist auch für Menschen in Obdach- und Wohnungslosigkeit ein | |
| Ort, an dem sie sich aufhalten und sicher fühlen dürfen. Momentan tun dies | |
| viele aber nicht mehr – aufgrund der Zunahme von Gewaltdelikten. Viele | |
| suchen sich deshalb andere Orte im Stadtgebiet. | |
| taz: Anfang Dezember hat die Bremer Straßenbahn mitgeteilt, dass sie | |
| Wohnungslose in den Wintermonaten nicht mehr zum Schutz vor Kälte ohne | |
| Fahrschein fahren lässt. Sie hat das mit zunehmender Aggressivität | |
| gegenüber dem Personal und den Fahrgästen begründet – Sie haben Verständn… | |
| für diesen Schritt geäußert. | |
| Brase-Wentzell: Ja, ich habe aber auch Alternativen gefordert. Menschen | |
| brauchen einen Schutzraum, nicht nur im Winter. Es ist immer | |
| gesundheitsschädigend und oft lebensgefährlich auf der Straße zu leben. | |
| 10 Feb 2025 | |
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