# taz.de -- Sozialanthropologin über Einwanderung: „Israel wird israelischer… | |
> Nach Deutschland kommen immer mehr Einwanderer aus Israel – vor allem | |
> Linke und Liberale. Dani Kranz hat ihre Motive untersucht. | |
Bild: „Eine Auswanderung beinhaltet ja ein Risiko.“ – Café in Berlin Kr… | |
taz: Frau Kranz, bei der Wahl in Israel haben Parteien, die gegen eine | |
Zweistaatenlösung sind, stark zugelegt. Noch laufen die | |
Koalitionsverhandlungen. Würde sich eine Rechtsregierung auf die | |
Einwanderung von Israelis nach Deutschland auswirken? | |
Dani Kranz: Möglich, dass die Wahl das Fass zum Überlaufen gebracht hat. | |
Aus unseren Daten ergibt sich, dass das Gros aller Emigranten moderat ist | |
oder politisch links steht. Die Frage ist, wie viele Israelis mit dieser | |
Einstellung jetzt eher auszuwandern gewillt sind, wie viele dortbleiben und | |
kämpfen und wie viele apathisch werden. | |
Nun drohen linke Israelis schon länger mit ihrer Auswanderung. Wie ist die | |
Praxis? | |
„Ich bin es jetzt leid, ich gehe“, sagt man schneller, als man es tut. Eine | |
Auswanderung beinhaltet ja ein Risiko. Wenn ich mich in Israel als | |
Aschkenasi beziehungsweise als „Jecke“ (Jude mit deutschem oder | |
deutschsprachigem Hintergrund) positioniere, mache ich das im israelischen | |
Kontext. | |
Aber wenn ich dann mit Europäern konfrontiert bin und einem Land, wo ich | |
weder die Sprache noch die rechtlichen Abläufe noch die bürokratischen | |
kenne, ist es natürlich etwas anderes. Es ist auch nicht so, dass die | |
Israelis, die auswandern, ihr Land nicht lieben – ganz im Gegenteil. | |
Erstaunlich viele sind „Minibotschafter“, sie stehen sehr für Israel ein | |
und wirken Missverständnissen und Mythen häufig und oft konstant entgegen. | |
Meine Mitarbeiterin ist derzeit in Israel auf Feldforschung. Es gibt | |
erstaunlich viele Mythen, wie die Abläufe in Deutschland sind. Angefangen | |
davon, dass hier Milch und Honig fließen… | |
…bisher geht es in der Berichterstattung über Israelis in Deutschland | |
meistens darum, dass sie die Heimat ihrer Vorfahren kennenlernen wollen, | |
oder darum, dass sie die Partystadt Berlin entdecken. Ein politischer Grund | |
kommt selten vor. | |
Natürlich gibt es Israelis, die früher nach der Armeezeit nach Südasien | |
gefahren wären und heute nach Berlin kommen. Aber das Weggehen in jüngeren | |
Jahren ist ein generelles Phänomen bei Kindern der westlichen Mittel- und | |
Oberschicht. Und sicher gibt es Israelis, die hier Spurensuche betreiben. | |
Wichtiger ist aber: Die Einwanderer haben meist eine tradierte | |
aschkenasische Identität, also einen europäischen Hintergrund. Sie zieht | |
vor allem das Europäische an, nicht die Suche nach Vorfahren im engeren | |
Sinne. | |
Nach der Staatsgründung 1948 waren aschkenasische Juden die dominierende | |
Kraft in Israel. Inzwischen verlieren sie an Einfluss. Orientieren sie sich | |
mehr an Europa, weil ihnen Israel fremder geworden ist? | |
Da sich die Machtbalance geändert hat, fühlt sich eine signifikante | |
aschkenasische Minderheit unter Identitätsdruck. Israel wird immer | |
israelischer. Wenn sich aber meine Identität aus diasporischen Quellen | |
speist, wird mein Identitätsraum in Israel kleiner. | |
Was meinen Sie mit „Israel wird israelischer“? | |
Israel hat eine knapp 80-prozentige israelisch-jüdische Mehrheit. Für diese | |
ist der normative israelische Staatsbürger ein israelischer Jude. Das | |
Jüdische wird dem Israelischen subsumiert. Das kann man auch an der | |
israelischen Flagge sehen, auf der ein Davidstern ist, der kein religiöses, | |
aber ein definitiv jüdisches Symbol ist, während auf dem israelischen Pass | |
eine Menora ist, ein religiöses jüdisches Symbol. | |
Dass Israel religiöser wird, verschreckt säkulare Juden, die aschkenasisch | |
und links sind? | |
Die jüdische Ethnokratie in Israel expandiert, wie diverse meiner Kollegen | |
nachgewiesen haben. Und wenn ich einen schicken EU-Pass und hohe Bildung | |
habe und mir das nicht passt, kann ich – relativ – einfach gehen. | |
Wird Deutschland in der Wahrnehmung mancher Juden inzwischen als liberaler | |
wahrgenommen als Israel? | |
Ja. Ich hatte etwa einen Interviewpartner, der in Jerusalem geboren und | |
aufgewachsen ist und aus einer Jecke-Familie kommt. Für ihn ist Berlin | |
jetzt die liberale Stadt, aus der seine Großeltern kamen, während Jerusalem | |
aus seiner Sicht „immer schwärzer“ wird. Und „schwarz“ ist das Codewort | |
für: immer orthodoxer. | |
Kommen auch Nichtaschkenasi? | |
Weniger. Aber die, die kommen, sind nicht weniger liberal als Aschkenasi. | |
Sie fühlen sich aus anderen Gründen in Israel geschwächt. Einige von ihnen | |
sagen, sie könnten nicht Meretz wählen, weil Meretz die Partei der linken | |
Aschkenasi sei – und dafür seien sie nicht weiß genug. | |
Aber die Schas-Partei, die tendenziell häufiger von Misrachim (Juden, die | |
aus arabischen Ländern nach Israel eingewandert sind) gewählt wird, würden | |
sie auch nicht wählen, weil sie ihnen zu religiös ist. Die Menschen, die | |
kommen, sind unglaublich divers. Aber fast alle haben einen bestimmten | |
Drive. Einige haben auch den bewussten Wunsch, ihre Kinder hier | |
aufzuziehen. | |
Warum? | |
Teilweise, weil sie sich mit der Mehrheit der Israelis nicht | |
identifizieren, weil sie finden, dass ein bestimmtes Narrativ | |
gesellschaftlich und auch in den Schulen zu sehr durchgedrückt wird. | |
Andere, weil sie möchten, dass ihre Kinder einen anderen Möglichkeitsraum | |
erfahren – was dann aber typisch für Emigranten ist und nicht nur auf | |
Israelis beschränkt gesehen werden darf. | |
Ob Deutschland wirklich offener ist, steht auf einem anderen Blatt. Viele | |
sind noch so kurz hier und können so wenig Deutsch, dass sie die | |
versteckten Alltagsrassismen nicht wahrnehmen. | |
In Frankreich überlegen viele Juden, nach Israel auszuwandern. | |
Aus Deutschland wandern konstant ungefähr 100 deutsche Juden im Jahr nach | |
Israel ein. Das sind nicht viele. Für die dritte Generation der Juden, die | |
hier aufgewachsen ist, ist es wichtiger, Israel auszuprobieren, als dort | |
hinzugehen. Wenn sie Deutschland nicht mehr ertragen, wandern sie im | |
Allgemeinen nach Großbritannien oder in die USA aus, weil sie eben alle | |
Englisch sprechen. | |
Israel ist ihnen wichtig als Identitätsanker, Israel ist super für einen | |
Besuch. Aber sie idealisieren das Leben in Israel nicht. Das Gros aller | |
Juden in Deutschland, die ich kenne, egal ob sie Israelis sind oder ob sie | |
hier geboren und aufgewachsen sind, fühlt sich hier nicht bedroht. | |
Frankreich hat traurigerweise eine viel höhere Antisemitismusrate und einen | |
viel höheren Grad von Israel-Diskriminierung als die Bundesrepublik. | |
26 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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