| # taz.de -- Situation in Libyen: Der Angriff, der alles veränderte | |
| > Nach dem Angriff auf internierte Migranten wollen viele das Land noch | |
| > dringender verlassen. Die Boote der Schlepper werden immer voller. | |
| Bild: Eine Frau rettet nach dem Raketenangriff in Tajoura ihr Hab und Gut aus d… | |
| Tunis taz | Die Nacht auf den 3. Juli begann in Tajoura wie viele andere | |
| der über 100 Kriegsnächte zuvor im großen Krieg um Libyens Hauptstadt. Am | |
| Himmel war das sonore Brummen einer unsichtbaren Drohne zu hören. Die aus | |
| den Arabischen Emiraten an den aufständischen selbsternannten Feldmarschall | |
| Chalifa Haftar gelieferten Drohnen attackieren Hauptquartiere und | |
| Stellungen der Verteidiger von Tripolis, wo Libyens international | |
| anerkannte Regierung sitzt. | |
| Die Granateinschläge am östlichen Stadtrand von Wadi Rabia waren in der | |
| Fabrikhalle in Tajoura deutlich zu hören, in der seit 2014 616 Migranten | |
| und Flüchtlinge untergebracht waren. Östlich von Tajoura versuchen Haftars | |
| Truppen, die Küstenstraße zu erreichen und damit die Zwei-Millionen-Stadt | |
| Tripolis von den anderen Küstenstädten Misrata, Zliten und Khoms | |
| abzuschneiden. Die Milizen der drei Städte sehen sich als Erben der | |
| Revolution gegen Gaddafi und verteidigen die libysche Hauptstadt gegen | |
| [1][Haftars „Libysche Nationalarmee“], hinter der sie das alte Regime | |
| wittern. | |
| „Der aktuelle Krieg ist eine Fortsetzung von 2011“, sagt Mohamed | |
| al-Farasch, Freiwilliger des Roten Halbmonds in Tajoura: „Aufständische | |
| gegen Gaddafi-Anhänger, West gegen Ost, und so weiter.“ Er spricht langsam, | |
| ihm steckt der Schock noch in den Knochen, der Schock der Nacht des 3. | |
| Juli, als er in den rauchenden Trümmern der [2][Fabrikhalle stand, in der | |
| gerade mindestens 44 Menschen gestorben waren]. | |
| ## Gezielter Raketenangriff auf Milizen | |
| Auch al-Farasch suchte in roter Weste, Latex-Handschuhen und Mundschutz in | |
| den Trümmern nach Leichenteilen. Normalerweise behandelt der 26-Jährige | |
| Verletzte an der nahen Front. Aber in den letzten Wochen gingen immer | |
| wieder Granaten oder Raketen nieder, überrascht habe die Katastrophe | |
| niemanden, sagt er. | |
| Denn die Halle liegt neben einem Militärgelände, das schon zu Gaddafis | |
| Zeiten von Einheiten des Innenministeriums genutzt wurde. Nun herrscht | |
| hinter den hohen Mauern die Athman-Miliz. Die Gruppe steht den Islamisten | |
| der Ansar Scharia nahe sowie dem Schura-Rat aus dem ostlibyschen Bengasi. | |
| Die Bengasi-Schura war Haftars Hauptgegner im dreijährigen Krieg in Bengasi | |
| und floh nach Haftars Sieg nach Tripolis. | |
| Milizen wie Athman sind also Priorität für Haftars Luftwaffe. Ihnen galt | |
| der Angriff vom 3. Juli. Die Milizen haben aber auch Migranten aus Tajoura | |
| für Reinigungs- und Reparaturarbeiten eingesetzt, auch zum Ausheben von | |
| Schutzwällen, bestätigen westafrikanische Migranten der taz. | |
| Die 100 Meter lange und 20 Meter breite Halle, in der die Migranten | |
| festgehalten waren, liegt am südlichen Ende des von einer Mauer umgebenen | |
| Komplexes. Die von einem Kampfflugzeug abgeschossene erste Rakete gegen | |
| zwei Uhr morgens verfehlte sowohl Milizen als auch Migranten und schlug in | |
| einem Gebäude 100 Meter weiter ein. Da das Geräusch des Flugzeugs weiter am | |
| Himmel zu hören war, versuchten viele Menschen, aus der Halle zu fliehen. | |
| ## „So etwas habe ich noch nicht gesehen“ | |
| Es ist unklar, wer sie in dem Chaos zurückdrängte – die Miliz oder die auch | |
| auf dem Gelände stationierte Antimigrationspolizei des Innenministeriums. | |
| Doch Minuten nach der ersten Rakete zerriss eine noch größere Explosion die | |
| Nacht. Durch das Dach fiel ein Geschoss fast senkrecht in das südliche Ende | |
| der Halle, genau dort, wo Frauen und Kinder untergebracht waren. | |
| Die Zahl der Toten wurde zwar offiziell mit 44 angegeben, doch viele Helfer | |
| berichten der taz, dass niemand weiß, wie viele es tatsächlich sind. Von | |
| vielen Opfern wurden nur Arme oder Beine gefunden. „Ich arbeite seit 2011 | |
| an der Front, aber so etwas habe ich noch nicht gesehen“, so al-Farasch. | |
| 130 Menschen erleiden teils schwere Verbrennungen, sie irrten stundenlang | |
| über das Gelände, berichtet ein Migrant aus Eritrea der taz am Telefon. | |
| Dabei eröffneten Bewaffnete auf sie das Feuer. | |
| Nun fordert das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR eine Untersuchung und die | |
| Identifizierung der Schuldigen, dazu die Einrichtung eines humanitären | |
| Korridors für Flüchtlinge und Migranten. Doch längst haben sich viele | |
| allein auf den Weg gemacht – an die Strände von Garabulli östlich von | |
| Tajoura oder Richtung Westen, nach Zuwara an der tunesischen Grenze. | |
| ## Mehr und vollere Boote | |
| Dort warten jetzt wieder Tausende auf die Abfahrt. Die Schmuggler kommen | |
| mit der Lieferung der Gummiboote, die aus der Türkei oder China über | |
| libysche Containerhäfen geliefert werden, kaum nach. Schon mit 110 Menschen | |
| sind die mit Holzbrettern verstärkten Boote hoffnungslos überladen. Nun | |
| zwingen die Schlepper bis zu 200 Menschen in die oft nur aus drei | |
| Luftkammern bestehenden, acht Meter langen Boote. | |
| Mustafa al-Reeb trifft sie oft auf seinen Patrouillen. Der Kommandant der | |
| „Fezzan“, ein Schnellboot der libyschen Küstenwache, läuft mit seinen acht | |
| Kollegen aus, sobald es einen Notruf aus der Seenotrettungszentrale in | |
| Tripolis gibt. „Wir geben oft unseren eigenen Proviant und Wasser, um den | |
| Geretteten zu helfen“, erzählt er. „Bis zu 500 Menschen waren nach | |
| Rettungsaktionen auf unserem Schnellboot.“ Viele, die von der Fezzan in den | |
| letzten Monaten aus dem Meer gerettet wurden, kamen dann in das | |
| Migrantengefängnis in Tajoura. | |
| Nach der Bombardierung des Lagers in Tajoura legen jetzt mehr Boote ab als | |
| vorher, meint al-Reeb. Viele fahren ohne Funkgeräte oder Kompass los. „Wen | |
| wir nicht finden, der hat keine Chance zu überleben. Ohne Wasser, ohne | |
| ausreichend Benzin und ohne Orientierung drehen die Leute nach zwei Tage | |
| auf dem Meer durch und durch Panik sinkt das Boot. Wir finden immer wieder | |
| Überreste solcher Unglücke.“ | |
| Der Angriff von Tajoura hat die Sicht der Entscheidungsträger in Tripolis | |
| auf Migration geändert. Libyens Innenminister Fathi Bashaga droht nun | |
| sogar, die Forderungen von UNO und humanitären Helfern zu erfüllen und alle | |
| 6.000 in Westlibyen gefangenen Migranten freizulassen, „da man nicht mehr | |
| für ihre Sicherheit sorgen kann.“ | |
| 7 Jul 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
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