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# taz.de -- Sexueller Missbrauch an Odenwaldschule: Ein bitterer Kreislauf
> Zwei neue Studien beschäftigen sich mit dem Missbrauch an der
> Odenwaldschule. Vieles erinnert an die Verbrechen der katholischen
> Kirche.
Bild: Die Odenwaldschule verfolgte einen Bildungsanspruch, der sich von „gew�…
Es war eine eigenartige Koinzidenz: Im Vatikan in Rom tagt [1][die
sogenannte Missbrauchskonferenz], die mit der grassierenden weltweiten
sexuellen und seelischen Gewalt an Kindern in katholischen Einrichtungen
aufräumen soll. Zeitgleich erscheinen in Wiesbaden [2][zwei neue Studien]
zu den Missbrauchsvorfällen in der hessischen Odenwaldschule: Danach sollen
nicht, wie bisher angenommen, etwa 132 Mädchen und Jungen von Lehrkräften
und Angestellten des reformpädagogischen Vorzeigeprojekts sexuell
missbraucht worden sein, sondern schätzungsweise zwischen 500 und 900.
Obgleich diese neuen Zahlen alle Dimensionen sprengen, darf davon
ausgegangen werden, dass sie immer noch nicht alle Opfer umfassen und die
Dunkelziffer deutlich höher liegt. Dem Wesen sexueller Übergriffe – in
kirchlichen Einrichtungen, Schulen, Internaten, Sportvereinen, in der
Familie – liegen Überlegenheit und ein Machtgefälle der Täter gegenüber d…
Opfern zugrunde.
Damit einher gehen Drohungen und Schuldzuweisungen, die Opfer vielfach
schweigen lassen. Zudem sind viele Gewaltbetroffene so stark und dauerhaft
traumatisiert, dass sie jeder Gedanke an ihre Kindheit und Jugend erneut in
die Vergangenheit katapultieren würde. Aus Selbstschutz vermeiden und
verweigern sie daher nicht selten Gespräche über die furchtbarsten
Erfahrungen ihres Lebens.
## Zwischen Vatikan und Odenwald
Zynischerweise könnte man meinen, die Autor*innen der beiden neuen
Odenwald-Untersuchungen haben auf die Kirchenkonferenz der Katholiken
gewartet, um den brisanten Studien zur größtmöglichen Aufmerksamkeit zu
verhelfen. Ursprünglich sollten die Ergebnisse, die unter anderem im Buch
mit dem bezeichnenden Titel „Die Odenwaldschule als Leuchtturm der
Reformpädagogik und als Ort sexualisierter Gewalt“ nachzulesen sind, früher
erscheinen.
Das hessische Sozialministerium versichert, es gebe keinen beabsichtigten
zeitlichen Zusammenhang zwischen der Klerikalenkonferenz im Vatikan und der
Pressekonferenz in Wiesbaden. Man habe sich schlicht nicht auf einen
anderen Termin als den Ende vergangener Woche einigen können.
Ein Zusammenhang zwischen katholischer Kirche und Odenwaldschule existiert
dennoch. Beides sind Einrichtungen, die eine Art Alleinstellungsmerkmal für
sich beanspruchen und insbesondere offen sind für eine bestimmte
bürgerliche Elite. So verfolgte die Odenwaldschule bis zu ihrer Schließung
2015 einen Bildungsanspruch, der sich komplett von dem „gewöhnlicher“
Schulen unterschied: Schüler*innen und Lehrkräfte lebten im Internat „in
familienähnlichen Wohngruppen“ zusammen, eine Idee, die durchaus Charme
versprüht: Freiheit, Gleichheit, Lockerheit. Die Botschaft der Schule: Wir
hier sind etwas Besonderes.
Wem diese Ideale entsprachen und wer monatlich die 2.370 Euro für den
Internatsplatz plus Extrakosten für „schulbegleitende Ausbildungen“
aufbringen konnte, schickte seine Kinder gerne dahin. Durch die
Abgeschiedenheit und das unhinterfragte Abschotten vom Rest der
Gesellschaft konnten Strukturen wachsen, die sich jeglicher Kontrolle
entzogen. So konnten Lehrkräfte und andere Schulangestellte, Männer wie
Frauen, ungehindert jahrzehntelang ihr Unwesen treiben.
Auch die katholische Kirche ist ein fest in sich geschlossenes System, das
sich gegenüber Veränderungen kaum offen zeigt. Seit Jahren wird von
Katholik*innen gefordert, ihre Glaubensorganisation möge sich endlich der
Realität stellen und ihre überholte Sexualmoral modernisieren. Warum aber
sollten Priester, Kardinäle, Bischöfe das tun? Damit würden sie Macht,
Einfluss und Geld ab- und ihr Alleinstellungsmerkmal aufgeben. Was sonst,
wenn nicht der Zölibat hebt diese Männer ab von der männlichen Mehrheit,
die sich nicht einer zölibatären Härte unterwirft? Für ein entsagendes
Leben einzig für Gott und die Gemeinschaft.
Es ist ein bitterer Kreislauf: Wegen des Sexverbots bleibt den Männern ein
normales und offen gelebtes Liebesleben versagt. Und weil sie es nicht
haben (können), flüchten sie in den Zölibat.
Die „schützende Hand“, die die Machtsysteme katholische Kirche und
Odenwaldschule über die Täter in den eigenen Reihen ausgebreitet haben, ist
eine sehr, sehr schmutzige Hand. Eine, die vermutlich nie richtig sauber
werden wird.
25 Feb 2019
## LINKS
[1] /Kindesmissbrauch-in-der-Kirche/!5572245
[2] https://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/2299.html
## AUTOREN
Simone Schmollack
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