# taz.de -- Sergey Lagodinsky über Russland: „Deutschland muss klüger auftr… | |
> Kritik an Russlands Regierung ist wichtig, sagt der EU-Abgeordnete Sergey | |
> Lagodinsky. Aber für die Bürger*innen müsse man Verantwortung | |
> übernehmen. | |
Bild: Born in the USSR: Sergey Lagodinsky, EU-Abgeordneter, ist ein russisch-de… | |
taz: Herr Lagodinsky, vor 80 Jahren begann der Vernichtungskrieg der | |
Wehrmacht. Was bedeutet das für Sie persönlich? | |
Sergey Lagodinsky: Die Familie meiner Großmutter ist 1941 aus Odessa | |
geflüchtet. Rumänische Truppen rückten als Verbündete der Deutschen vor und | |
die jüdische Bevölkerung floh. Auch mein Urgroßvater, der Professor in | |
Odessa war. Nur eine Tante meiner Großmutter, sie war hochschwanger, blieb | |
mit der Familie. Sie hoffte, dass die Rumänen nicht so schlimm sein werden. | |
Sie hat zunächst im Untergrund überlebt, ist dann aber vom Hausmeister | |
verraten worden. Das kam in Odessa häufig vor. Die Hausmeister bekamen dann | |
die Habseligkeiten der Abtransportierten. | |
Diese Geschichten sind Teil Ihrer Familienerzählung? | |
Ja, mit diesen Erzählungen bin ich groß geworden. Meine Großmutter floh | |
über Südrussland nach Georgien und Kasachstan. Nach dem Krieg war die | |
Familie in Moskau, wo mein Urgroßvater an einer Uni unterkam. Dort mussten | |
sie 1948 vor Stalin fliehen, jüdischer Professor in Moskau zu sein, war | |
riskant. Sie sind in die Provinz gegangen, nach Astrachan am Wolgadelta. Da | |
gab es später Hochschulen, weil viele jüdische Professoren dorthin geflohen | |
sind, wie damals mein Urgroßvater. Deshalb bin ich in Astrachan geboren – | |
wegen Antisemitismus und Krieg. | |
Welche Bedeutung hatte der Tag in der Sowjetunion? | |
Der Tag wurde immer überstrahlt vom Tag des Sieges, in Russland der 9. Mai. | |
Aber die Erinnerung an den Krieg war an beiden Tagen authentisch. Gerade | |
der 9. Mai traf die Seele der Menschen. Die staatliche Inszenierung war | |
nicht so dick, es ging um Familie, Großeltern und Eltern. In den | |
Sowjetzeiten war das ein Fest, bei dem es weniger um die Partei ging als um | |
Dankbarkeit gegenüber den früheren Generationen. | |
Wird der 22. Juni 1941 in der bundesdeutschen Erinnerungskultur ausreichend | |
gewürdigt? | |
Er ist immer noch unterbelichtet. Vielleicht aus nachvollziehbaren Gründen, | |
weil wir den 1. September 1939 als Beginn des Zweiten Weltkrieges stärker | |
wahrnehmen. Aber für die Sowjetunion, den Vielvölkerstaat, war dieses Datum | |
eine Zäsur, der Beginn des Leides und Terrors gegen die sowjetische | |
Bevölkerung, egal welcher Herkunft. Das muss besser beleuchtet werden. Aber | |
das gilt auch für die Mythen. | |
Welche? | |
Die russische Regierung monopolisiert und instrumentalisiert diesen Tag. | |
Für uns lautet daher die Frage: Wem gegenüber fühlt sich Deutschland heute | |
verpflichtet? | |
Russland ist der Rechtsnachfolger der Sowjetunion. | |
Formal ist das richtig. Aber die Regierung Putin hat das massiv zum | |
Narrativ gemacht. Die Erinnerungspolitik wurde seit Ende der neunziger | |
Jahre zum einzigen Weg, um eine positive nationale Erzählung zu | |
konstruieren. Per se ist das ein legitimes Anliegen, aber es wurde mit den | |
wachsenden aggressiven Ambitionen Russlands zu einer Waffe ideologischer | |
Art. | |
Muss deutsche Politik nicht berücksichtigen, dass Russland Rechtsnachfolger | |
ist – und sich mit Kritik zurückhalten? | |
Der Überfall zielte 1941 nicht auf Russland, sondern auf die Sowjetunion | |
als Ganzes. Ich finde es richtig, Kritik an Russland vorsichtig zu | |
formulieren. Wir müssen den geschichtlichen Kontext berücksichtigen. Aber | |
das heißt nicht, dass die Regierung unberührbar ist. Wem schulden wir | |
Respekt? Auch die Vorfahren von Alexei Nawalny haben den Großen | |
Vaterländischen Krieg überleben müssen. Wir haben Verantwortung gegenüber | |
der russischen Bevölkerung, nicht gegenüber der russischen Regierung. | |
Würden Sie das Israel gegenüber auch so formulieren? | |
Ich bin genauso kritisch gegenüber Netanjahu gewesen, aber wir sollten die | |
legitimen Anliegen Israels, wie sein Existenzrecht, berücksichtigen. In | |
Russland ist das Existenzrecht nicht gefährdet, auch wenn die | |
Einkreisungstheorien, die Teil der Mythenbildung sind, anderes suggerieren. | |
Die Nato hat in den neunziger Jahren die Osterweiterung gegen Russland | |
durchgesetzt. Sind die Ängste in Moskau nicht real? | |
Ängste sind immer real, dort, genauso wie in Polen, im Baltikum oder in der | |
Ukraine. Die Kunst ist, nicht nur über die Angst von Moskau zu sprechen. | |
Muss Deutschland härter gegenüber Putin auftreten? | |
Deutschland muss klüger auftreten. Das schließt ein, dass wir bei | |
bestimmten Themen härtere Ansagen machen müssen, zum Beispiel bei Nord | |
Stream II. Wir sollten Kooperationen nicht pauschal ablehnen, aber dabei | |
rote Linien markieren. | |
Welche? | |
Ich nenne drei Kriterien. Erstens, ob solche Kooperationen auf Kosten der | |
Menschenrechte und der Umwelt geschehen … | |
Da sieht es bei US-Fracking-Gas mieser aus … | |
Zweitens, ob sie auf Kosten der innereuropäischen Solidarität oder zu | |
Lasten unserer Nachbarstaaten stattfinden. Bei Nord Stream II ist das der | |
Fall. Deshalb protestieren Polen und die Ukraine. Und drittens sollten wir | |
fragen, wohin fließt das Geld? Nord Stream II ist keine Brücke zu den | |
Menschen, es ist eher ein wirtschaftliches Projekt, das nicht in erster | |
Linie dem russischen Volk, sondern der oligarchischen Spitze nutzt. | |
Sollte die Pipeline fast fertig nicht in Betrieb gehen? | |
Sie soll entweder nicht in Betrieb gehen oder man friert das Projekt ein. | |
Es gibt verschiedene Vorschläge. Wir sollten sie als Hebel nutzen. Wenn wir | |
sagen, wir brauchen das Gas um jeden Preis, geben wir diesen Hebel aus der | |
Hand. | |
Wofür sollten wir ihn nutzen? | |
Wir müssen über Menschenrechte, Solidarität und Korruption ernsthaft reden. | |
Grundsätzlich lehne ich das Projekt aber als unnötig und langfristig | |
klimaschädlich ab. | |
Wenn man die drei Kriterien zum Maßstab des EU-Außenhandels macht, wird es | |
mit vielen Rohstoffen schwierig. | |
Zunächst müssen wir uns fragen, welche Rohstoffe wir langfristig brauchen | |
und unsere Abhängigkeit von ihnen reduzieren. Aber ja, wir müssen immer | |
abwägen. Wir können mit Russland und China kooperieren, aber nicht blind | |
oder naiv. Wir müssen deren geostrategische Interessen erkennen. | |
Viele Russen haben das Gefühl, Europa wolle ihnen vorschreiben, wie sie zu | |
leben hätten. Zu Recht? | |
Wo schreiben wir etwas vor, wenn wir über Moskaus geostrategische | |
Ambitionen reden? Nehmen wir als Beispiel Nawalny: Da gibt es ein Urteil | |
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Darauf zu verweisen, ist | |
keine Einmischung. Auch Russland hat sich zur Einhaltung der Menschenrechte | |
verpflichtet. | |
Warum gibt es in Russland trotzdem das Gefühl, dass wir sie von oben herab | |
belehren? | |
In Russland, wie in immer mehr Staaten, wird jede Kritik als Einmischung | |
hingestellt. Das ist ein sehr nützliches und einfaches Mittel, Kritik zu | |
diskreditieren. Darauf sollten wir uns nicht einlassen. Es gibt aktuell | |
Gesetzesverschärfungen, vielen, die mit NGOs aus dem Westen gearbeitet | |
haben, drohen jetzt bis zu sechs Jahren Haft. | |
Aber war der Westen Russland gegenüber nicht tatsächlich herablassend? | |
Obamas Satz, Russland sei eine Regionalmacht, war arrogant. Aber der Westen | |
hat Moskau nie versprochen, dass es keine Nato-Erweiterung geben würde. Und | |
wir konnten die Wünsche von unabhängigen Ländern nicht einfach | |
beiseiteschieben. | |
Also kommt es irgendwann zum Nato-Beitritt der Ukraine? | |
Das sollte man unideologisch sehen und Wege finden, wie das | |
Sicherheitsgefühl gestärkt wird. Etwa mit einer Sicherheitsgarantie für die | |
Ukraine. Es gehört zur historischen Verantwortung Berlins, legitime Ängste | |
dieser Länder ernst zu nehmen und nicht, wie es zu oft passiert, als | |
Hysterie abzutun. | |
„Wir leisten unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen | |
Hauses“, sagte Putin 2001 im Bundestag. Standing Ovations bei allen | |
Fraktionen – heute unvorstellbar. | |
Leider. | |
Hat der Westen Fehler gemacht? | |
Wir müssen auch selbstkritisch sein. Natürlich hätten wir mehr Offenheit | |
und Einbindung gerade gegenüber den russischen Bürgerinnen und Bürgern und | |
der Zivilgesellschaft zeigen können. Aber wir sind nicht schuld, dass Putin | |
sich zu einem Autokraten entwickelt hat. Schon 2008 war der Georgien-Krieg. | |
Das kann man nicht schönreden, das war eine aggressive Politik gegenüber | |
einem Nachbarland, die in einer Besatzung mündete, sechs Jahre vor der | |
Krim-Besetzung. | |
22 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
Stefan Reinecke | |
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