| # taz.de -- Schließzeiten Öffentlicher Bibliotheken: „Räume der Begegnung�… | |
| > Öffentliche Bibliotheken bleiben sonntags geschlossen. Kirsten | |
| > Kappert-Gonther, Bundestagsabgeordnete der Grünen, möchte das jetzt | |
| > ändern. Ein Gespräch. | |
| Bild: Hat Sonntags bis 17 Uhr geöffnet: Vorbild Amerika-Gedenkbibliothek in Be… | |
| taz: Frau Kappert-Gonther, warum wollen Sie sich dafür einsetzen, dass die | |
| deutschen Bibliotheken sonntags geöffnet haben können? | |
| Kirsten Kappert-Gonther: Der Sonntag ist der Tag, an dem die Menschen Zeit | |
| haben, an dem die Familien zusammen sind, aber an dem auch manche Menschen, | |
| gerade Menschen mit wenig Geld, einsam sind. Denen fällt am Wochenende die | |
| Decke auf den Kopf. Es ergibt keinen Sinn, dass die Bibliotheken | |
| ausgerechnet an diesem Tag geschlossen haben müssen. | |
| Was könnten die Bibliotheken am Sonntag bieten? | |
| Die Chance auf analoge Begegnungen, anders als im digitalen Raum, in dem | |
| wir uns zunehmend in Filterblasen bewegen. Solche Begegnungen sind | |
| individuell für die Menschen von hohem Wert, aber sie sind auch | |
| gesellschaftlich wichtig, wenn man über den Zusammenhang von Gesellschaft | |
| nachdenkt. Meine Grundidee besteht darin, in den Bibliotheken Orte der | |
| Begegnung zu schaffen, so etwas, was früher die öffentlichen Marktplätze | |
| waren. | |
| Was meinen Sie damit? | |
| Ganz einfach: Alle kommen zusammen. Es geht also nicht um den Marktplatz im | |
| Sinne eines Verkaufsorts, sondern im Sinne eines Begegnungsorts. | |
| Bibliotheken sind Orte der Begegnung, nämlich der mit sich selber, da wir | |
| uns über ein kulturelles Medium selbst begegnen können, der eigenen Familie | |
| und Menschen, denen man sonst nicht begegnet wäre. | |
| Ich habe allerdings auch Erinnerungen an streng blickende | |
| Bibliothekarinnen. | |
| Ich nicht. Aber Ihre Skepsis wird sich bei vielen Menschen finden. Dafür, | |
| dass Bibliotheken so viel Potenzial haben, haben sie noch nicht die | |
| positive Wahrnehmung, die sie haben könnten. | |
| Sie trauen Bibliotheken viel zu. | |
| Aber ja. Wir sind mit unseren Kindern früher viel in Bibliotheken gegangen. | |
| Ich habe die Kinder im Studium bekommen, da waren wir sehr knapp mit dem | |
| Geld. Die Bücherkisten waren sehr wichtig. Aber vor allem habe ich die | |
| gemeinsame Zeit in den Bibliotheken als sehr schön in Erinnerung. Außerdem: | |
| Man musste sich nicht anmelden, und die Jahreskarte für die Familie hat nur | |
| 20 Euro gekostet. Später als Psychiaterin habe ich solche guten Erfahrungen | |
| viel geschildert bekommen, insbesondere von Menschen, die im Zuge ihrer | |
| psychischen Erkrankungen häufig einsam waren. Sie erzählten mir: Keiner | |
| fragt mich, warum ich hier bin, hier kann ich den ganzen Tag sitzen, und | |
| ich sehe Menschen, denen ich sonst nicht begegnet wäre. Dieser | |
| Begegnungsaspekt ist mir stark gespiegelt worden. | |
| In Bremen haben Sie schon Erfahrungen mit der Sonntagsöffnung machen | |
| können. | |
| Zusammen mit der Leiterin der Stadtbibliothek, Barbara Lison, die | |
| inzwischen Vorsitzende des Bibliotheksverbandes ist, haben wir ein | |
| Modellprojekt etabliert – auch gegen gewisse Widerstände der | |
| Gewerkschaften. Das Projekt war, ich muss es einfach so sagen, toll. | |
| Was hat es beinhaltet? | |
| Natürlich waren nur freiwillige Mitarbeiter sonntags vor Ort. Und das | |
| Besondere war: Es haben sich nicht nur genug Freiwillige gemeldet, sondern | |
| die, die sich einmal gemeldet haben, haben das danach auch immer wieder | |
| getan. Auf einmal herrschte eine ausgelassene Lebendigkeit in der | |
| Bibliothek. | |
| Ausgelassene Lebendigkeit in Bibliotheken? | |
| In Bremen hat es sehr gut funktioniert. Die Bibliothek im dänischen Aarhus | |
| ist ein gutes Vorbild. Die Bibliothek ist dort erst einmal als ein Ort der | |
| Begegnung definiert, und innerhalb dieses Ortes gibt es individuelle | |
| Rückzugsinseln. Das kann beides zusammengehen, stille Rückzugsräume, aber | |
| auch Tische mit sechs oder acht Stühlen drum herum, an denen Jugendliche, | |
| die kein eigenes Zimmer haben, zusammen ihre Referate vorbereiten. Seit | |
| viele Geflüchtete nach Bremen gekommen sind, sind die Bibliotheken auch ein | |
| Ort, an dem Ehrenamtliche Nachhilfe anbieten. Diese Mischung zwischen | |
| Stille und Begegnung – das ist auch ein Unterschied zu den Bibliotheken, | |
| die ich in meiner Kindheit erlebt habe. Damals musste man ja quasi noch auf | |
| Zehenspitzen laufen. | |
| Dass Bibliotheken sonntags geschlossen sein müssen, regelt das | |
| Arbeitszeitgesetz. Es besagt: „Arbeitnehmer dürfen an Sonn- und Feiertagen | |
| von 0 bis 24 Uhr nicht beschäftigt werden.“ Inwieweit wollen Sie das | |
| ändern? | |
| Der Paragraf 10 dieses Gesetzes regelt ja die Ausnahmen. Im Absatz 7 dieses | |
| Paragrafen werden etwa Vergnügungseinrichtungen, Museen und auch | |
| wissenschaftliche Präsenzbibliotheken zu diesen Ausnahmen gezählt. Man | |
| müsste die Wörter „wissenschaftlich“ und „Präsenz“ streichen und hä… | |
| Bibliotheken insgesamt zu den Ausnahmen gezählt. | |
| Sie haben eben von Widerständen der Gewerkschaften erzählt … | |
| Es ist mir auch sehr wichtig, an diesem Punkt nicht falsch verstanden zu | |
| werden. Das Arbeitszeitgesetz ist ein ArbeitnehmerInnenschutzgesetz, und | |
| das ist auch sehr wichtig und richtig so. Ich bin sehr für | |
| ArbeitnehmerInnenrechte, ich finde auch die Gewerkschaften richtig wichtig, | |
| und ich finde es auch wichtig, dass die Arbeitszeiten nicht exorbitant | |
| ausufern, allein wegen der seelischen Gesundheit, die ja mein Fachgebiet | |
| ist. Ich meine aber, dass man die individuellen Schutzrechte einerseits und | |
| den Wert und Vorteil, den es hätte, wenn man Bibliotheken sonntags öffnet, | |
| abwägen muss. Und ich komme nicht generell, aber an diesem Punkt zu der | |
| Auffassung: Das öffentliche Interesse daran, Bibliotheken sonntags zu | |
| öffnen, ist so groß, dass es gerechtfertigt wäre, an der Stelle das | |
| Arbeitszeitgesetz zu ändern. | |
| Aber bröckelt der Sonntagsschutz für ArbeitnehmerInnen nicht sowieso schon | |
| genug? | |
| Da haben Sie recht. Für mich ist es allerdings ein Unterschied, eine | |
| Bibliothek am Sonntag zu öffnen oder Konsumangebote zu machen. | |
| Verkaufsoffene Sonntage, Kirschblütenfest und solche Dinge, das leuchtet | |
| mir viel weniger ein. | |
| In Berlin hat man insgesamt den Eindruck, dass öffentliche Räume unter | |
| Druck stehen. Gleichzeitig boomen privat organisierte Angebote wie | |
| Coworking Spaces. | |
| Für die jungen Start-ups, ja. Diese Verschiebung von den öffentlichen | |
| Räumen in die privaten Räume findet in vielen Regionen statt. Mit ihnen | |
| werden die Zugangshürden höher, man muss schließlich Geld mitbringen, um | |
| sich in einem Coworking Space einen Slot zu kaufen, und zugleich entstehen | |
| wie im digitalen Raum auch Filterblasen, in denen man nur die eigene | |
| Community trifft. Aber das alles zeigt doch auch, dass es ein Bedürfnis | |
| nach Begegnungsräumen gibt. Und ich plädiere für Begegnungsräume, die | |
| niederschwellig und öffentlich zugänglich sind. | |
| Nun werden Bibliotheken weiterhin nicht so sehr mit Begegnung, sondern | |
| stark mit Büchern verbunden. | |
| Oh, ich bin emotional ganz dicht am Buch. | |
| Sie lesen? Auch Romane? | |
| Gerne. Deshalb schlafe ich auch zu wenig. Ich finde aber, dass Bibliotheken | |
| auch dann einen Wert haben, wenn die Menschen sich eine CD oder eine DVD | |
| ausleihen oder wenn sie die internationalen Zeitungen lesen. Und ich finde, | |
| Menschen können auch in Bibliotheken gehen und sich dort treffen. Wenn es | |
| gelingt, Bibliotheken als Orte der Begegnung zu etablieren, gehe ich schon | |
| davon aus, dass ein Großteil der Besucher sich auch noch mal ein Buch | |
| mitnimmt. Aber ich würde es nicht daran knüpfen. | |
| Müssten die Bibliotheken nicht ihr Selbstbild ändern? | |
| Nicht alle. Viele Bibliotheken sind bereits auf dem Weg und machen viele | |
| Angebote wie etwa das sogenannte Kleinkindkino, das eben keineswegs | |
| bedeutet, einen Film zu gucken, sondern, sich gemeinsam Bilderbücher | |
| anzusehen, oder gezielte Veranstaltungen für Ältere. Der Deutsche | |
| Bibliotheksverband ist sowieso unheimlich innovativ. Auf Bibliothekare, die | |
| es schrecklich finden, wenn Menschen kommen, um etwas zu entleihen, bin ich | |
| seit vielen Jahren nicht mehr gestoßen. | |
| Sie sprachen von Freiwilligkeit. Aber kann nicht auch ein interner Druck | |
| auf die ArbeitnehmerInnen entstehen? | |
| Klar, da muss man gar nicht drum herumreden, das kann im Einzelfall auch | |
| mal anders sein. Die Möglichkeit der Sonntagsöffnung ist durchaus ein | |
| substanzieller Eingriff. Ich halte nur den Beitrag, den eine Bibliothek | |
| am Sonntag leisten kann, für so relevant, dass ich meine, an der Stelle ist | |
| das gerechtfertigt. Mir wäre ganz wichtig, die Menschen mit ins Boot zu | |
| holen, die berechtigtes Interesse haben, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer | |
| zu schützen. | |
| Das Arbeitszeitgesetz ist ein Bundesgesetz. Wenn man das ändert … | |
| … wären die Bibliotheken keineswegs verpflichtet, sonntags zu öffnen, aber | |
| die, die es möchten, könnten das. | |
| Bis wann könnten Sie mit Ihrem Vorstoß durchkommen? | |
| Meine Prognose ist, dass es noch eine ganze Zeit dauern wird, diese | |
| Diskussionen zu führen, mit den anderen Fraktionen und auch den | |
| Gewerkschaften. Manchmal gibt es allerdings Zeitfenster, in denen | |
| vernünftige Argumente auf fruchtbaren Boden fallen. Vielleicht ist das in | |
| Sachen der Sonntagsöffnung ja jetzt so ein Moment. | |
| 6 May 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
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