# taz.de -- Schirdewan zur Linken und Wagenknecht: „Das ist vergossene Milch�… | |
> Martin Schirdewan gibt sich stoisch optimistisch. Den Austritt von Sahra | |
> Wagenknecht und ihren Gefolgsleuten sieht der Linken-Vorsitzende als | |
> Chance. | |
Bild: Martin Schirdewan nach dem Abgang von Wagenknecht: „Wir brauchen eine L… | |
wochentaz: Herr Schirdewan, was passt besser zur gegenwärtigen Situation | |
der Linkspartei: „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ oder | |
„Auferstanden aus Ruinen“? | |
Martin Schirdewan: Ich finde, da gibt es andere schöne Lieder, die die | |
Situation noch besser beschreiben. „Ich liebe das Leben“ von Vicky Leandros | |
zum Beispiel. Da geht es um einen Trennungsschmerz, der in einer großen | |
Chance mündet, nämlich ein gutes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Das ist | |
ein Song, an den ich gerade denken muss. | |
Haben Sie schon Zahlen, wie viele seit der Präsentation des Bündnisses | |
Sahra Wagenknecht aus der Linken ausgetreten sind? | |
Es dauert immer etwas, bis wir alle Ein- und Austritte auch in den Kreis- | |
und Landesverbänden gesammelt und aufbereitet haben. Aber was dieser Tage | |
bei uns in der Bundesgeschäftsstelle eingegangen ist, deutet darauf hin, | |
dass mehr Leute ein- als austreten. Das ist ein positiver Trend, über den | |
ich mich sehr freue. Es ist gut, dass die Klärung jetzt final da ist. Denn | |
es gibt viele, die bislang gezögert hatten, sich zur Linken zu bekennen. | |
Und auch zu viele, die die Partei wegen des destruktiven Dauerstreits | |
verlassen haben. Jetzt können sie zurückkommen, um mit uns gemeinsam für | |
eine starke Linke zu kämpfen. | |
Was haben Sie sich gedacht, als Sie am vergangenen Montag die | |
[1][Pressekonferenz von Wagenknecht] und ihren Getreuen gesehen haben? | |
Ich fand den Auftritt bemerkenswert, weil er keinen Zweifel daran gelassen | |
hat, wie groß die Differenz zwischen der gesellschaftlichen Linken und | |
diesem Projekt ist. Sich für die Linke wählen zu lassen und dann eine | |
vollkommen andere Politik zu machen ist höchst unredlich. Ich erwarte, dass | |
die zehn jetzt ausgetretenen Bundestagsabgeordneten ihre Mandate, die sie | |
alleine der Linken verdanken, zurückgeben. | |
Das werden sie nicht tun. Warum sollten sie auch? | |
Ich sehe das so, wie unsere drei direkt gewählten Abgeordneten Gregor Gysi, | |
Gesine Lötzsch und Sören Pellmann: Wer die Linke verlässt, um eine | |
Konkurrenzpartei aufzubauen, aber sein Mandat nicht zurückgeben will, | |
begeht einen „höchst unmoralischen Diebstahl“. Und dieser Diebstahl wird | |
auch noch auf Kosten der mehr als 100 Beschäftigten der Linksfraktion | |
begangen. | |
Aber ist es nicht so, dass das Wehklagen über einen „Mandatsklau“ von einer | |
Partei immer dann angestimmt wird, wenn sie davon blöderweise nicht | |
profitiert? Oder können Sie sich daran erinnern, dass die Linkspartei die | |
heutige saarländische Landesvorsitzende Barbara Spaniol seinerzeit | |
aufgefordert hätte, ihr Landtagsmandat zurückzugeben, [2][als sie von den | |
Grünen überwechselte]? | |
Es geht hier nicht um ein einzelnes Mandat, sondern um die Existenz einer | |
ganzen Bundestagsfraktion. Da berauben jetzt Leute, die auf der Basis des | |
Programms der Linken ins Parlament eingezogen sind, diese Partei und ihre | |
Wählerinnen und Wähler der ihr zustehenden Vertretung als Fraktion im | |
Bundestag. Das halte ich für verwerflich. | |
Die aus der Partei ausgetretenen Abgeordneten wollen allerdings allesamt | |
erst mal in der Linksfraktion bleiben. Unterstützen Sie dieses Anliegen? | |
Wir haben zuerst mal ein politisches Anliegen und einen Auftrag unserer | |
Wählerinnen und Wähler. Natürlich nehmen wir aber auch Rücksicht auf die | |
Interessen der Beschäftigten unserer Bundestagsfraktion. Das machen | |
diejenigen, die die Partei verlassen haben, leider nicht. | |
Sie halten es also für nicht vorstellbar, dass Wagenknecht und ihre | |
Gefolgschaft bis zur angekündigten Gründung der neuen Partei im Januar in | |
der Linksfraktion bleiben? | |
Nein, ich halte das nicht für möglich. Punkt. | |
Dass Wagenknecht und ihre Vertrauten [3][ein Konkurrenzprojekt | |
vorbereiten], konnte [4][seit über einem Jahr] jeder sehen, der es sehen | |
wollte. Warum hat die Partei- und die Fraktionsführung das so lange nicht | |
wahrhaben wollen? | |
Der Parteivorstand muss versuchen, die Partei zusammenzuhalten, dazu gehört | |
auch ein gewisser Zweckoptimismus. Wir haben viel Geduld gezeigt, daran | |
gearbeitet, Gräben zu überwinden und Brücken zu bauen. Im Nachhinein lässt | |
sich selbstverständlich fragen, ob wir nicht zu viel Geduld hatten. Aber | |
das ist vergossene Milch. Dieses Kapitel, das uns und der gesamten Partei | |
viel Kraft gekostet hat, ist jetzt beendet. Jetzt blicken wir nach vorne | |
und sammeln neue Kräfte. | |
Woher kommt Ihr Optimismus, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht nicht die | |
Linkspartei in den Abgrund stoßen wird? | |
Ich sehe, was für eine Energie in dieser Partei steckt. Die Ziele, für die | |
wir uns einsetzen, die Menschen, die dafür brennen, die sind ja noch da. | |
Wir haben einiges vorzuweisen: Die Linke ist im Bundestag, im | |
Europaparlament, in acht Landtagen und drei Landesregierungen vertreten. | |
Wir stellen Oberbürgermeister und Bürgermeister. Tausende unserer | |
Mitglieder machen in kommunalen Parlamenten praktische Politik. Ich bin | |
sicher, dass von unserem Bundesparteitag Mitte November ein starkes Signal | |
ausgehen wird: Wir wollen gemeinsam kämpfen für eine Verbesserung der | |
gesellschaftlichen Verhältnisse! | |
Wir sind die Partei, die für soziale Gerechtigkeit und Solidarität in | |
dieser Gesellschaft, für sozialen Klimaschutz steht und ein klares | |
antifaschistisches und bürgerrechtliches Profil hat. In den | |
Landesregierungen machen wir konkrete Politik im Sinne der Beschäftigten | |
mit Tariftreuegesetzen und Vergabemindestlöhnen, wir machen Sozialpolitik | |
und Familienförderung mit beitragsfreien Kitajahren. Mit dem Mietendeckel | |
stehen wir wie keine andere Partei für eine Politik für Mieterinnen und | |
Mieter. Damit werden wir jetzt wieder stärker durchdringen. Wir werden | |
zeigen, welchen Wert linke Politik für die Menschen in diesem Land hat. | |
Sie glauben also, dass mit dem Abgang von Wagenknecht und Co alle Probleme | |
der Linkspartei weg sind? | |
Nein, das glaube ich nicht. Aber jetzt besteht endlich die Chance, dass wir | |
unsere Probleme lösen. Selbstverständlich brauchen wir einen | |
Erneuerungsprozess, den wir auch bereits eingeleitet haben. Wir müssen | |
unsere Strukturen verändern und unsere Kommunikation verbessern, wir müssen | |
endlich längst überfällige programmatische Diskussionen führen. Denn die | |
Welt ist ja nicht seit unserem Erfurter Programm von 2011 stehen geblieben. | |
Wir brauchen eine Linke auf der Höhe der Zeit. Aber was heißt das konkret | |
in der größten Volkswirtschaft der Europäischen Union im 21. Jahrhundert? | |
Um diese Antwort müssen wir miteinander ringen – mitunter sicher hart, wie | |
das in einer pluralistischen Partei nicht anders sein kann. Aber | |
respektvoll und das Gemeinsame nicht aus dem Blick verlierend. | |
Das klingt ziemlich allgemein. | |
Na, dann konkreter: Wir erleben derzeit gewaltige Umbrüche, die viele | |
Menschen tief verunsichern. Wie gelingt es angesichts der vierten | |
industriellen Revolution, also der Digitalisierung, und der Notwendigkeit | |
der Bekämpfung des menschengemachten Klimawandels, die industrielle Basis | |
zu erhalten, gute Arbeitsplätze der Zukunft zu schaffen und gleichzeitig | |
für Klimaschutz zu sorgen? Oder nehmen wir die Inflation: Die Menschen | |
leiden unter den steigenden Preisen, wir fordern ganz konkret einen | |
automatischen Inflationsausgleich bei Sozialleistungen und einen | |
Lebensmitteldeckel. Menschen haben Angst, die Rechnungen für Grundlegendes | |
nicht mehr bezahlen zu können. Wie ermöglichen wir ein Leben ohne | |
Existenzangst für alle? Darauf müssen wir überzeugende Antworten geben. | |
Haben Sie eine? | |
Es braucht mehr als eine. Wer leugnet, dass der Klimawandel eine | |
Veränderung unserer Produktionsweisen erfordert, ist ein politischer | |
Scharlatan. Wer andererseits die abhängig Beschäftigten die Kosten des | |
notwendigen industriellen Umbaus tragen lassen will, der handelt unsozial | |
und letztlich demokratiegefährdend. Da wiederum definiert sich auch unsere | |
klare Oppositionsrolle zu dieser Bundesregierung. Solange die | |
Ampelkoalition so weitermacht mit dieser brutalen Kürzungspolitik und ihrem | |
Fetisch Schuldenbremse, die faktisch eine Investitions- und Zukunftsbremse | |
ist, wird der Umbau nicht gelingen, sondern nur die Verunsicherung der | |
Menschen weiterwachsen. | |
Wir brauchen massive staatliche Investitionen in die sozialökologische | |
Transformation und gleichzeitig Umverteilung von oben nach unten. Und wir | |
brauchen auch eine Umverteilung der Arbeit. Wir werben für die | |
Viertagewoche. Die Grundidee ist: Es muss doch besser gehen, als dass sich | |
die einen mit Bergen von Überstunden krank arbeiten und die anderen ohne | |
Perspektive in der Arbeitslosigkeit sitzen. Dann bleibt auch bei denen, die | |
Arbeit haben, mehr Zeit für Familie und gesellschaftliches Engagement. | |
Sie glauben also ernsthaft noch an eine Zukunft für die Linkspartei? | |
Ja, selbstverständlich. Ich denke, dass sich die gesellschaftliche Linke in | |
Deutschland neu sortieren wird. Ungeachtet meiner persönlichen Enttäuschung | |
über die Gruppe, die sich jetzt abgespalten hat, sehe ich die große Chance | |
in der Trennung, dass meine Partei wieder zum zentralen Bezugspunkt dieser | |
gesellschaftlichen Linken werden kann. Wer stellt sich sonst im | |
parlamentarischen Raum dem gegenwärtigen massiven Rechtsruck noch entgegen? | |
Schauen Sie sich doch nur den Überbietungswettkampf in Inhumanität an. | |
Inzwischen wird ja nicht mehr nur von den klassischen rechten Parteien das | |
individuelle Recht auf Asyl infrage gestellt. Auch die Ampelkoalition | |
ergeht sich mittlerweile in Kraftmeierei auf Kosten von Geflüchteten. Ich | |
bin entsetzt, wie sich diese Regierung verhält. Das gilt auch und gerade | |
für die Grünen. Die jüngsten Aussagen von Robert Habeck bezüglich | |
Abschiebungen hätte man vor wenigen Jahren bei den Grünen allenfalls Boris | |
Palmer zugetraut. Es ist enorm wichtig, dass es eine Partei gibt, die auch | |
bei gesellschaftlichem Gegenwind Haltung zeigt und die Grundrechte für alle | |
verteidigt. Dafür kämpfe ich. | |
27 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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