# taz.de -- Schanghaier Journalistin begeht Suizid: Tod im Lockdown | |
> Die Journalistin Tong Weijing schrieb Staatspropaganda über den Lockdown, | |
> unter dem sie selbst litt. Ihr Suizid wurde nun Opfer der Zensur. | |
Bild: Seit Wochen harren Menschen in Schanghai in ihren Wohnungen aus | |
SCHANGHAI taz | Tong Weijing war eine typische Vertreterin der „[1][Jiu | |
Ling Hou“]-Generation. So bezeichnet man in China die in den 1990er Jahren | |
Geborenen: Sie gelten als hochgebildet und technikaffin, eher realistisch | |
denn verträumt und vor allem ziemlich resigniert. | |
Die Chinesin arbeitete als Journalistin bei einer Schanghaier | |
Staatszeitung. Damit war sie Teil eines Systems, das vor allem auf der | |
Verbreitung von Lügen basiert: Chinas offizielle Medien stehen schließlich | |
unter Kontrolle der Kommunistischen Partei, und sie dürfen allermeist nur | |
über die Gesellschaft berichten, wie sie laut Ansicht der Regierung sein | |
sollte – nicht aber, wie sie wirklich ist. | |
Doch Tong Weijing hielt sich aus der großen Politik raus. Sie schrieb vor | |
allem im Kulturressort, wo sie Filmrezensionen und essayistische Texte | |
publizierte. Ihre Leser schätzten ihre stilistisch geschliffenen Artikel, | |
die sich oft wie Gedichte lasen. | |
Doch der 1. April 2022 stellte das Leben sämtlicher 26 Millionen Einwohner | |
Schanghais auf den Kopf, auch das von Tong Weijing. Die Regierung schloss | |
damals die Menschen in ihre Wohnungen ein, wo sie fortan in Ungewissheit | |
und Angst lebten: Von einem Tag auf den anderen verloren die Leute die | |
Kontrolle über ihren Alltag, selbst bei der Nahrungsmittelversorgung war | |
man [2][abhängig von den staatlichen Essensrationen]. | |
## Ausnahmezustand macht Weijing zu schaffen | |
Zudem wusste niemand, wie lange dieser Ausnahmezustand anhalten würde. Und | |
über allem schwebte die Furcht, sich mit dem Coronavirus zu infizieren – | |
denn das bedeutet, von den Seuchenschutzarbeitern in Quarantänelager mit | |
elendigen Hygienezuständen abtransportiert zu werden. | |
Tong Weijing machte die Krise ganz besonders zu schaffen, laut Kollegen | |
hatte sie schon länger mit ihrer psychischen Gesundheit zu kämpfen. Doch | |
man kann sich nur ausmalen, wie es sich für sie angefühlt haben muss, in | |
jener Lage Teil des Propaganda-Apparats zu sein: Die Journalistin musste | |
„positive“ Artikel über einen Lockdown schreiben, der in Wahrheit immer | |
unmenschlicher wurde. | |
Tongs Depressionen sind in jenen Tagen laut ihrer Mutter immer schlimmer | |
geworden. Doch während des [3][radikalen Lockdowns], während dem selbst | |
Asthmapatienten auf offener Straße verstarben, da sie wegen eines fehlenden | |
PCR-Tests nicht ins Krankenhaus gelassen wurden, war an psychiatrische | |
Hilfe kaum zu denken. Am 4. Mai sprang Tong Weijing aus ihrem Fenster im 9. | |
Stock. Die Ambulanz, die ihre Mutter rief, kam viel zu spät. | |
Doch Tong Weijings Geschichte ist mit ihrem Tod nicht zu Ende. Ihr Suizid | |
hätte Anlass zur Reflexion geben und eine gesellschaftliche Debatte | |
auslösen können. Doch stattdessen wurde er von den Staatsmedien | |
verschwiegen. Nicht einmal Tongs ehemaliger Arbeitgeber schrieb eine kurze | |
Meldung über den tragischen Todesfall. | |
## Trauer um Weijing in den sozialen Medien | |
Wahrscheinlich haben die [4][Zensoren] eine Informationssperre verhängt: | |
Tong Weijings Causa passt nicht in das Bild eines heroischen Viruskampfs, | |
das die Zentralregierung in Peking der Bevölkerung eintrichtern möchte. | |
Nur auf den sozialen Medien trauern ein paar Nutzer um Tong Weijing. Und | |
dort beklagen sie auch die Zustände einer Gesellschaft, die immer weniger | |
bereit ist, sich mit ihren Schattenseiten auseinanderzusetzen: „Wann immer | |
sich in der Vergangenheit eine Katastrophe ereignete, sahen wir, wie die | |
Medien in den Kampf stürmten und zur Vorhut wurden, um Probleme | |
aufzudecken“, schreibt ein User auf der Onlineplattform Weibo: „Aber jetzt | |
haben wir gesehen, wie sich die Medien wirklich verhalten“. | |
13 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://chinese.yabla.com/chinese-english-pinyin-dictionary.php?define=jiu+… | |
[2] /Lockdown-in-Chinas-Metropole-Shanghai/!5843126 | |
[3] /Schanghai-im-Lockdown/!5844629 | |
[4] https://freedomhouse.org/country/china/freedom-net/2021 | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
## TAGS | |
China | |
Shanghai | |
Lockdown | |
Zensur | |
Suizid | |
Depressionen | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
China | |
China | |
China | |
Kolumne Poetical Correctness | |
China | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Politik und Krisen: Auf Konfuzius hören | |
Politik handelt oft kurzsichtig. Denn: Wir nehmen Alltagssorgen ernster als | |
Menschheitsbedrohungen. Das ist in China nicht anders als in Deutschland. | |
UN-Menschenrechtspolitik: Bachelet in Pekings Falle getappt | |
Der erste Besuch einer UN-Menschenrechtskommissarin seit 2005 verlief nach | |
Pekings Geschmack: Bachelet hielt sich mit Kritik zurück. | |
Flugzeugabsturz von China Eastern: Eventuell absichtlich herbeigeführt | |
Im März stürzte ein Passagierflugzeug der China Eastern Airlines ab, mehr | |
als 130 Menschen starben. Ein Bericht sagt nun: Es könnte Absicht gewesen | |
sein. | |
Folgen des Lockdowns in China: Expats raus, Inländer rein | |
Chinesen dürfen ihr Land kaum verlassen, während immer mehr Ausländer der | |
Volksrepublik frustriert den Rücken kehren. | |
Ausgangssperre in Shanghai: Über die Freiheit | |
Seit Wochen ist die Millionenstadt Shanghai abgeriegelt. Einfach vor die | |
Tür gehen gibt es nicht mehr. Das wirkt wie ein böser Traum. | |
Chinas Coronastrategie: Stillstand in Shanghai | |
Die chinesischen Lockdowns bremsen die Weltwirtschaft enorm. Peking wird | |
wohl dennoch bei der Null-Covid-Politik bleiben. | |
Corona-Lockdowns in China: Exodus der Expats | |
Lockdowns und die Angst vor der Zwangsquarantäne: Unter europäischen | |
Unternehmen in China kippt die Stimmung. |