# taz.de -- Ausgangssperre in Shanghai: Über die Freiheit | |
> Seit Wochen ist die Millionenstadt Shanghai abgeriegelt. Einfach vor die | |
> Tür gehen gibt es nicht mehr. Das wirkt wie ein böser Traum. | |
Bild: Ein Mitarbeiter der Gemeinde überwacht die nächtliche Ausgangssperre in… | |
Letzte Nacht habe ich von grünen Zäunen geträumt. Und von grünen Käfigen. | |
Gestalten in leuchtend weißen Schutzanzügen bohren Löcher in Asphalt, | |
drücken Schrauben durch Metall, befestigen Warnhinweise, hängen | |
Vorhängeschlösser ein. Die grünen Zäune stehen an den absurdesten Orten, | |
sie teilen Straßen, vertikal und horizontal, bald werden sie wohl auch | |
anfangen, sie aufeinanderzustapeln, in Richtung Himmel. | |
Die Gestalten kommen oft nachts, ihre Fingernägel sind dreckig, sie sind | |
die unterbezahlte, temporäre ausführende Gewalt. Die Gewalt mit den | |
Strippen ist selten zu sehen, wie ein dumpfer, hartnäckiger Zungenbelag, | |
der Superlativ von bitter. Dort sagt man ja: chi ku, die Bitterkeit essen, | |
die Schwere ertragen. Hier sagt man: In China ist ein Sack Reis umgefallen. | |
Wir haben Märkte globalisiert, aber [1][das Verantwortungsgefühl] ist im | |
Vorgarten liegen geblieben. Die Reiskörner kullern über den Boden, 2021 war | |
Shanghai die sechstreichste Stadt der Welt, 2022 hungern Menschen in ihren | |
eigenen Wohnungen. | |
Nicht im Traum, sondern tags zuvor habe ich ein Video gesehen, auf dem eine | |
mittelalte Frau aus ihrer Tür stürmt, die weißen Gestalten beschimpft und | |
den grünen Zaun niedertritt, den sie vor ihrem Haus befestigt haben. Sie | |
sieht nicht aus wie eine, die oft etwas niedertritt. | |
Aber es sind andere Zeiten als sonst in ihrer Stadt. Sie sieht aus wie | |
eine, der mal versprochen wurde, dass sie es besser haben würde als ihre | |
Eltern und dass ihre Kinder es noch besser haben würden als sie, und ihre | |
Enkelkinder erst, und so weiter. Und dann hat man ihr das Versprechen | |
entzogen, das gute Alltägliche: vor die Tür gehen, einkaufen gehen, einfach | |
gehen wohin sie will. | |
Also tritt sie und schimpft. Vielleicht kann ein Mensch nicht zugleich ohne | |
die Freiheit des Körpers und die Freiheit des Wortes sein? Vielleicht ist | |
es aushaltbar, wenn eines davon fehlt, aber nie beides auf einmal. Ich | |
glaube das, aber kann es nicht belegen. Hier sagt man: [2][Die chinesische | |
Wirtschaft leidet]. In einem Blogeintrag mit über 100.000 Aufrufen steht: | |
Ehrlich gesagt ist diese Regierung nicht gut genug für uns. | |
Ich habe niemals einen Zaun niedergetreten, ich klettere nicht mal gern | |
über Zäune. Ich habe mir das immer romantisch vorgestellt: In der Dämmerung | |
über einen Zaun klettern. Am Beckenrand eines trockengelegten Freibads | |
sitzen. Warten, bis die Sonne aufgeht. Aber ein Zaun ist nun mal die | |
Aufforderung, den eigenen Platz zu kennen. Wussten Sie, dass alte | |
Shanghaier Hauseingänge eigentlich schon grüne Gittertore haben? Man öffnet | |
sie mit Zahlencode, sie fallen sehr langsam zu und machen ein klackerndes | |
Geräusch, wenn sie von allein schließen. Es ist ein gutes Geräusch und es | |
sind gute Gitter, sie fühlen sich von beiden Seiten nicht nach Bedrohung, | |
sondern nach Sicherheit an. | |
Neulich, habe ich Rilke gelesen, den Panther: müder Blick, Gitterstäbe, | |
Kreise drehen, Betäubung, großer Wille. | |
28 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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