# taz.de -- Deutschland als Täterland: Den Opfern zuhören | |
> Deutschland wäre gern was anderes, aber ist ein Täterland. Es müsste also | |
> den Zeigefinger gegen sich selbst erheben, bevor es ihn in die Welt | |
> richtet. | |
Bild: Berlin Mitte: Denkmal für die ermordeten Juden Europas | |
Deutschland ist ja ein Täterland. Das ist überhaupt nichts Neues, aber | |
anscheinend muss man es oft sagen, immer öfter, je weiter die Taten des | |
Täterlandes in die Vergangenheit rücken. | |
Deutschland ist ja ein Täterland, das sich gerne einredet, seine Taten | |
wären ausschließlich von Hitler und so verübt worden, da konnte das | |
einfache Volk nichts machen. Und nun sollen die Nachfahren der Deutschen | |
noch immer leiden unter der Täterlandlast, dabei war es doch Hitler und die | |
AfD ist gar nicht mehr so erfolgreich und die paar Rechtsextremisten bei | |
Polizei und Bundeswehr und das bisschen Rassismus auf der Gartenparty und | |
die anderen haben viel mehr kolonialisiert damals und die paar | |
Intellektuellen auf Abwegen also wir haben doch einen Neuanfang verdient | |
und alles ist lange her. 2020 wollten etwa 28 Prozent der Deutschen laut | |
einer [1][repräsentativen Umfrage des ZDF] einen „Schlussstrich unter die | |
Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ziehen“. | |
Deutschland ist ja ein Täterland, aber – in das Komma zwischen „Täterland… | |
und „aber“ passt kein Atemzug – wir haben ja auch gelitten im Krieg. | |
Folglich können sogenannte Intellektuelle nun Ukrainer*innen erklären, | |
was eine [2][„präsente Kriegserfahrung“] ist. | |
Deutschland hat nicht aufgehört, ein Täterland zu sein, weil es besiegt | |
wurde. Wer Täterland und -volk gewesen ist, kann nicht bloß eine Strafe | |
absitzen und die Sache als erledigt ansehen. Die meisten Menschen wollen | |
verständlicherweise lieber zu den Guten gehören, und es ist anstrengend, | |
sich aus der verkürzten Gut-und-Böse-Logik zu lösen. Das Täterland | |
schmuggelt sich also auf die bequemere Seite. Manchmal muss es dafür nur | |
ein Wort austauschen: Deutschland wurde dann „befreit“ am 8. Mai 1945, von | |
der Terrorherrschaft der Nazis, die Deutschen waren auch Opfer des Krieges, | |
denn im Krieg sind doch alle Opfer. „Kollektive Sehnsucht nach Unschuld“ | |
und „Selbstviktimisierung“ nennt der [3][Politikwissenschaftler Samuel | |
Salzborn] das. | |
Deutschland wäre gern was anderes, aber ist ja ein Täterland. Müsste also: | |
den Zeigefinger gegen sich selbst erheben, bevor es ihn in die Welt | |
richtet. Institutionen wie die Bundeswehr mindestens umstrukturieren, bevor | |
ein groteskes Sondervermögen in sie hineingegossen wird. Den Opfern | |
deutscher Verbrechen zuhören, sie ausreden lassen, auch mal belehrt werden, | |
statt in Selbstgewissheit zu versinken. | |
Ein Täterland muss nicht für immer ein Arschloch sein. Es kann sagen: Wir | |
sind nicht Aufarbeitungsweltmeister, sondern -anfänger. Das Ende der | |
deutschen Naziherrschaft war nicht das Ende des Nazidenkens und -handelns. | |
Ein Täterland muss sich deshalb nicht allen anderen Positionen unterwerfen, | |
es kann diskutieren über Pazifismus, Gefahren der Aufrüstung, | |
Waffenlieferungen, über seine künftige Rolle in der Welt. Es darf dabei | |
aber nie vergessen oder verdrehen, woher es kommt. Also, woher es wirklich | |
kommt. Und seine Eltern. Und seine Großeltern. | |
11 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/holocaust-umfrage-ns-zeit-100.html | |
[2] /Harald-Welzers-Auftritt-bei-Anne-Will/!5850713 | |
[3] /Neues-Buch-von-Samuel-Salzborn/!5698095 | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
## TAGS | |
Deutscher Kolonialismus | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Deutschland | |
Kolumne Poetical Correctness | |
Täter | |
Kolumne Poetical Correctness | |
Kolumne Grauzone | |
Kolumne Poetical Correctness | |
Kolumne Poetical Correctness | |
Kolumne Poetical Correctness | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Zweifeln im Alltag: Alles zu viel und nichts genug | |
Unsere Kolumnistin findet, dass es hier gefährlich ist. Nicht so sehr auf | |
der Mauer, mehr in Gedanken. | |
Krieg in der Ukraine: Unreflektierter Pazifismus | |
Gerne werden mit Blick auf den russischen Angriffskrieg Nazi-Vergleiche | |
bemüht. Solche Analogien bringen nichts, findet unsere Autorin. | |
Ausgangssperre in Shanghai: Über die Freiheit | |
Seit Wochen ist die Millionenstadt Shanghai abgeriegelt. Einfach vor die | |
Tür gehen gibt es nicht mehr. Das wirkt wie ein böser Traum. | |
Zwischen Glück und Schuldgefühlen: Die Notwendigkeit von Ignoranz | |
Die Welt scheint in den letzten Jahren und Monaten noch düsterer geworden | |
zu sein. Manchmal hilft es dann, kurzzeitig alles auszublenden. | |
Deutschland und der Ukrainekrieg: Wir schaffen das nicht, wir verwalten das | |
Organisieren, strukturieren, managen. Darin ist Deutschland gut. Warum | |
finden diese Leute jetzt nicht den richtigen Weg, um den Krieg zu beenden? |