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# taz.de -- Schanghai im Lockdown: Die gebrochene Stadt
> Millionen Menschen sind eingesperrt, die Nahrungsverteilung stockt: In
> Schanghai zeigt sich die hässliche Fratze des chinesischen Regimes.
Die junge Frau in Schanghai versteckt sich hinter der abgeschlossenen
Wohnungstür, mit ihrem Smartphone möchte sie die drohende Katastrophe
dokumentieren. „Die Seuchenschutzbehörde hatte versprochen, dass sie mein
Testergebnis erst noch überprüfen wird, ehe sie etwas unternehmen“, ruft
sie hilflos in den Hausflur, wo die Polizisten bereits lautstark anrücken.
Dann ist zu sehen, wie einer der Beamten, ohne lange zu fackeln, mit neun
kraftvollen Stößen die Holztür eintritt. Wie ein Tiger auf der Jagd stürmt
der Mann, in weißem Ganzkörperanzug gekleidet, auf sein Opfer zu. Die
Chinesin wird schließlich in eines der unzähligen Isolationslager
geschleppt.
Seit über einem Monat hält der weltweit [1][größte Lockdown der Welt]
nunmehr an. Was in Schanghai passiert, legt auch auf eindrückliche Weise
offen, wie weit die chinesische Staatsführung unter [2][Xi Jinping] bereit
zu gehen ist, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Denn der Kampf gegen
das Virus ist längst auch zur Propagandaschlacht geworden, bei der das
Wohl der Bevölkerung immer häufiger nur als Vorwand dient.
Es geht vielmehr darum, zu beweisen, was die Regierung ihren Bürgern seit
zwei Jahren täglich eintrichtert: dass China als einziges Land der Welt es
schaffe, sein Land virusfrei zu halten. „Null Covid“ ist zum Symbol für die
vermeintliche Überlegenheit des eigenen Systems gegenüber dem Westen
geworden. Und nun droht es sich ins Gegenteil zu verkehren: Die
epidemiologische Nulltoleranzstrategie legt schonungslos die Schwächen der
Diktatur offen.
„Das ist ein Breitbandschaden für die Wirtschaft, die befindet sich zum
Teil im freien Fall“, sagt Jörg Wuttke, Präsident der [3][Europäischen
Handelskammer in Peking]. Seit den 1980er Jahren lebt der Manager bereits
im Land, doch einen solch rasanten Umschwung wie in den letzten Monaten hat
der Deutsche noch nicht erlebt: von Sonnenschein-Optimismus hin zur
Trauerstimmung in wenigen Wochen.
## 26 Millionen Menschen in ihren Wohnungen eingesperrt
Der 1. April hat alles verändert. An diesem Tag sperren die Behörden die
knapp 26 Millionen Einwohner Schanghais in ihre Wohnungen ein. Der radikale
Lockdown löste eine humanitäre Katastrophe aus, wie sie noch vor wenigen
Monaten als undenkbar galt: In der wohlhabendsten Stadt des Landes bricht
die Nahrungsmittelversorgung über mehrere Wochen zusammen, sodass selbst
Multimillionäre und Banker auf den sozialen Medien verzweifelte
Hilfeschreie absetzen.
Die Ausgangssperren führen dazu, dass Asthmakranke, Diabetiker und
Krebspatienten sterben, weil ihnen der Einlass in die Krankenhäuser
verwehrt wird. Hunderttausende Infizierte werden gegen ihren Willen in
Massenlager abtransportiert, in denen hygienische Zustände ähnlich den
Slums der Dritten Welt herrschen.
„Natürlich war ich mir schon vorher darüber bewusst, wozu das Regime hier
fähig ist. Doch die letzten Wochen haben das noch mal eindrücklich
bewiesen“, sagt ein europäischer Korrespondent, der seinen Umzug aus dem
Land bereits geplant hat. Wie er wollen derzeit viele Ausländer Schanghai
einfach nur noch verlassen.
Es dauert nicht lange, bis sich der Frust und die Verzweiflung der Bewohner
immer offener entladen – in Handgemengen mit den Nachbarschaftskomitees, in
der Plünderung von Supermärkten und in Schreichören aus den Fenstern. Als
die Anwohner einer Apartmentsiedlung mit Kochlöffeln und Töpfen auf ihre
Situation aufmerksam machen, hat die Polizei schon bald einen schuldigen
Sündenbock gefunden: „Ausländische Kräfte stacheln die Menschen in
Schanghai an, gegen die Pandemieprävention zu protestieren“, heißt es in
einer offiziellen Stellungnahme.
Auch in der Fudan-Universität, einer der Elitekaderschmieden des Landes,
sind die Studierenden auf die Barrikaden gegangen. „Das ist eine
Universität und kein Konzentrationslager“, haben sie an die Wände ihres
Wohnheims geschmiert. Als sie sich zum Protest zusammentun, schalteten die
Behörden kurzerhand den Internetzugang auf dem Campus ab und entsenden die
Bereitschaftspolizei.
Dabei haben die jungen Chinesen allen Grund zur Revolte. Die meisten
Universitäten in Schanghai sind bereits seit über zwei Monaten abgesperrt.
Studierende berichten, dass sie über Wochen ihre Sechsbettzimmer nicht
verlassen dürften. Bis heute wird ihr Alltag bis ins kleinste Detail vom
sogenannten Gesundheitscode bestimmt, den jeder auf seinem Handy mit sich
führt: An der Universität Schanghai etwa dürfen die Doktoranden die
Waschräume nur alle zwei Tage für wenige Stunden aufsuchen.
In den Quarantänelagern der Stadt müssen die Insassen auf Duschräume
verzichten. In den riesigen Anlagen, in denen Zehntausende Infizierte
vegetieren, bleiben zum Säubern des eigenen Körpers lediglich Waschbecken,
Lappen und Plastikeimer. In den riesigen Hangar-Hallen liegen die Menschen
auf Campingbetten, bis sie irgendwann nach zwei negativen Covid-Tests in
ihre Wohnungen entlassen – und dort weiter eingesperrt werden.
## Ohne Test kein Einkaufen im Supermarkt
Damit sich eine ähnliche Tragödie in der Hauptstadt Peking nicht
wiederholt, haben die Behörden keineswegs ihre „Null Covid“-Strategie
überdacht. Stattdessen greifen sie noch früher durch. Schon nach insgesamt
nur 200 Coronafällen im Pekinger Stadtgebiet hat die Lokalregierung das
Speisen in Restaurants verboten, die Kinos geschlossen und eine strikte
Testpflicht eingeführt. Wer keinen negativen PCR-Test innerhalb der letzten
48 Stunden vorweisen kann, wird nicht einmal in den Supermarkt gelassen. Um
sich für einen drohenden Lockdown zu rüsten, haben praktisch sämtliche
Hauptstadtbewohner ihre Vorratsspeicher aufgefüllt, manche sogar neue
Tiefkühlfächer und Kühlschränke gekauft.
Insbesondere die älteren Chinesen bleiben optimistisch. „Ich glaube nicht,
dass es zum Lockdown wie in Schanghai kommt“, sagt Li Dong, 72 Jahre, der
in einer der traditionellen Hutong-Siedlungen im Stadtzentrum lebt. Er habe
Vertrauen in die Behörden, sagt der Antikhändler: „Wenn nun auch die
Hauptstadt fällt, was soll dann aus unserem Land werden?“
Staatspräsident Xi Jinping kann darauf keine andere Antwort finden als
Abschotten und Isolieren. Warum der 68-Jährige so dogmatisch an seiner
Nulltoleranzstrategie festhält, hat damit zu tun, dass diese zuvor
funktioniert hat. Bis Jahresanfang haben die Lockdowns nur einen Bruchteil
der Bevölkerung betroffen und blieben zeitlich begrenzt. Die absolute
Mehrheit der 1,4 Milliarden Chinesinnen und Chinesen konnte bereits seit
Frühjahr 2020 einen ganz normalen Alltag führen, wie er in den meisten
Teilen der Welt erst jetzt langsam wieder möglich ist.
Doch spätestens mit der hochinfektiösen Omikron-Variante übersteigt der
Preis von „Null Covid“ dessen Nutzen deutlich: Nach Schätzungen des
Pekinger Marktforschungsinstituts „Gavekal Dragonomics“ war im April rund
ein Viertel der Bevölkerung von den flächendeckenden Ausgangssperren
betroffen.
## Kritik wird rigoros zensiert
Selbst Zhong Nanshan, der als führender Gesundheitsexperte des Landes gilt,
hat unlängst in einer akademischen Publikation eingeräumt, dass die
Volksrepublik China ihre „Null Covid“-Strategie langfristig nicht
aufrechterhalten könne. Doch anstatt sich auf eine inhaltliche Debatte zum
Thema einzulassen, wurde der Beitrag des 85-Jährigen schlicht vom
Zensurapparat gelöscht.
Chinas Kurs ist unweigerlich mit der Person Xi Jinpings verknüpft. Dieser
wird weiterhin stur an seiner Strategie festhalten. Im Blick hat Chinas
Chefideologe dabei vor allem den Kongress der Kommunistischen Partei im
Herbst, während dessen er seine dritte Amtszeit ausrufen wird – als erster
Staatschef seit Mao Tse-tung. Dabei soll nichts die Machtzementierung
gefährden, weder kritische Stimmen noch ein unberechenbares Virus.
Damit sein Plan aufgehen kann, braucht Xi Jinping einen immer totalitärer
arbeitenden Zensurstaat. In den Abendnachrichten des Staatsfernsehens
werden täglich die Coronatoten in den USA behandelt, während China als
Land der Seligen gepriesen wird. Selbst wissenschaftliche Beiträge über
eine mögliche Öffnung des Landes werden auf den sozialen Medien ausradiert.
Diejenigen Chinesen, die mithilfe illegaler VPN-Software kritische
Informationen aus dem Ausland konsumieren, haben Xi bereits den zynischen
Spitznamen „Kaidaoche“ verpasst: ein alternder, von Persönlichkeitskult
umnebelter Herrscher, der sein Land im Rückwärtsgang gegen die Wand fährt.
Bei Mao stand am Ende das traumatische Chaos der Kulturrevolution. Xi
Jinping hingegen läuft Gefahr, sein Land in die wirtschaftliche Rezession
zu führen.
Zumindest in Schanghai flackert die Hoffnung auf ein Ende des Lockdowns
auf. Am Wochenende schien sich die Situation deutlich verbessert zu haben.
Die Behörden hatten erstmals keine lokalen Infektionen außerhalb der
designierten Quarantänebereiche vermeldet. Mehrere Millionen Menschen
durften endlich die leeren Straßen betreten.
Doch schon am Montag folgte ein herber Rückschlag: Die nationale
Gesundheitskommission hat erneut einen Infektionsstrang außerhalb der
abgesperrten Bereiche entdeckt. Dort haben sich mindestens 58 Menschen
infiziert. Sämtliche Nachbarn von jedem einzelnen von ihnen werden nun für
14 Tage wieder in die Wohnung gesperrt.
3 May 2022
## LINKS
[1] /Lockdown-in-Schanghai/!5844866
[2] /Politische-Macht-in-China/!5813372
[3] https://www.europeanchamber.com.cn/en/home
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
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