# taz.de -- Sacrow und die Heilandskirche: Schaurig-schöne Idylle an der Havel | |
> Sacrow ist eins der reizvollsten Flecken der Potsdamer Kulturlandschaft. | |
> Auf kleinstem Raum spiegelt das Dorf die Traumata des 20. Jahrhunderts | |
> wider. | |
Bild: Bis zum Mauerfall stand die Heilandskirche mitten im DDR-Sperrgebiet | |
Pisa? Siena? Florenz? Eine dieser Städte muss Modell gestanden haben für | |
die [1][Heilandskirche von Sacrow], mit der sich ein Stück italienische | |
Renaissance in die märkische Landschaft verirrt hat. Weithin sichtbar | |
erhebt sich die Pfeilerbasilika an einer kleinen Havelbucht und spiegelt | |
sich mit ihrem frei stehenden Campanile aus blau glasierten Fliesen und | |
blassrosa Backstein im kristallklaren Wasser. Ein malerischer Anblick. Eins | |
der beliebtesten Fotomotive im Umkreis von Potsdam. Und Ziel unzähliger | |
Ausflügler. Bezeichnenderweise steuern auch in der historischen | |
Fernsehserie [2][„Babylon Berlin“] Fritz und Greta das romantische | |
Fleckchen mit dem Ausflugsdampfer an und verbringen unbeschwerte Stunden im | |
Schilfgürtel unterhalb der Kirche. | |
Selbst jetzt bei der kalten Witterung kommen immer wieder Besucher hierher, | |
streifen durch den Landschaftsgarten mit dem Schloss, das wie die Natur im | |
Winterschlaf liegt, und um das Kirchenschiff herum. Bis der Nebel seinen | |
Schleier über dem Zusammenspiel von Architektur und Landschaft lüftet, | |
packen sie eine Thermoskanne aus dem Rucksack und trotzen den frostigen | |
Temperaturen mit heißem Tee oder Glühwein. | |
Im Slawischen bedeutet Sacrow: hinter dem Gebüsch. Tatsächlich ist der | |
Ortsteil von Potsdam eingebettet in üppig grüne Waldlandschaften, den | |
sogenannten Königswald. König Friedrich Wilhelm IV., der Romantiker auf dem | |
Thron, ließ ihn anlegen, nachdem er 1840 das Schloss erworben hatte. Zuvor | |
hatte der Ort von der Landwirtschaft und der Zucht von Seidenraupen gelebt. | |
Als der König sein Auge auf ihn warf, brach für die Dorfgemeinschaft eine | |
neue Zeit an. Gewerbebetriebe mussten weichen, einige Menschen verloren | |
ihre Arbeit. Dafür wurde das Schloss, eigentlich ein schlichtes Gutshaus, | |
verschönert und Peter Joseph Lenné damit beauftragt, seine Umgebung in | |
einen gefälligen Landschaftsgarten zu verwandeln. | |
Ludwig Persius sollte wiederum an der Havelbucht, wo oftmals Fischer | |
Zuflucht bei Unwetter gesucht hatten, die Heilandskirche errichten. Der von | |
Italien begeisterte Monarch selbst hatte die Skizzen dafür geliefert. | |
Sichtachsen verbinden sie mit dem Schlosspark von Glienicke, der | |
Pfaueninsel und anderen markanten Orten. Sacrow ist der letzte Baustein des | |
preußischen Arkadiens, in das sich der König zwischen seinen | |
Regierungsgeschäften wegträumte. | |
Und von dem auch heute noch viele träumen. „Das Wort vom Paradies fällt | |
hier immer wieder“, sagt Autor und Regisseur Jens Arndt. „Als ich nach der | |
Wende hierherkam, bin ich fast umgefallen vor so viel Schönheit.“ Nicht | |
zufällig sei ja Sacrow 1992 in die Liste des Weltkulturerbes der Unesco | |
aufgenommen worden. Aber nicht das allein hat den Politologen dazu bewogen, | |
einen Dokumentarfilm und ein Buch über die Geschichte des Orts zu machen: | |
„Wenn man genau hinschaut, birgt Sacrow die ganze deutsche Geschichte des | |
20. Jahrhunderts in sich.“ Und die rollt Arndt in „Sacrow – das verwundete | |
Paradies“ behutsam auf. Mithilfe von Zeitzeugen, die ihre ganz persönlichen | |
Geschichten erzählen, entsteht ein vielschichtiges Porträt des idyllischen | |
Orts. | |
## Spuren in die Vergangenheit | |
Da ist zum Beispiel die Geschichte von Eva Tanner, die nach der Wende ein | |
Grundstück erwarb und bei Sanierungsarbeiten hinter einer Scheuerleiste das | |
Fotonegativ einer jungen Frau entdeckte. Dessen Spuren führten sie zu der | |
jüdischen Familie Redelsheimer, die hier einst residierte. In akribischer | |
Detektivarbeit hat Tanner herausgefunden, dass die junge Frau und andere | |
Familienmitglieder 1933 emigrierten – sie hat sogar Kontakt zu ihren | |
Nachfahren aufgenommen –, ihre Eltern indessen in den Vernichtungslagern | |
der Nazis ums Leben kamen. Auch für [3][Klaus von Dohnanyi], den früheren | |
Bildungsminister und Ersten Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, endete | |
eine glückliche Jugend damit, dass sein Vater Hans als Widerstandskämpfer | |
gegen Hitler aus dem Haus in Sacrow abgeholt und später im KZ Sachsenhausen | |
umgebracht wurde. | |
Da war aus dem Traum des Italienschwärmers längst ein Albtraum geworden. | |
Wie kam es dazu? Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Sacrow zu einem | |
beliebten Ausflugsziel entwickelt. Bald entdeckten auch wohlhabende | |
Berliner den Ort für sich. Künstler, Intellektuelle, Politiker und | |
Ufa-Stars siedelten sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hier an. | |
Mal in schlichten Wochenendhäusern, mal in stolzen Villen. Traditioneller | |
Landhausstil neben Neuer Sachlichkeit, Bauhaus neben schmucklosen | |
Bauernhäusern oder energieeffizienten Holzkonstruktionen – noch heute liest | |
sich die Gegend um die Kladower Straße wie ein Kompendium der | |
Architekturgeschichte der letzten hundert Jahre. Es würde schon für sich | |
allein genügend Stoff für Führungen abgeben. | |
Dass in den 1930er Jahren viele jüdische Familien unter den Hausbesitzern | |
waren, konnte den Nazis nicht verborgen bleiben. Es dauerte nicht lange, | |
bis die ersten Anwohner enteignet oder zum Verkauf ihrer Häuser gezwungen | |
und vertrieben wurden. Während viele von ihnen in Konzentrationslagern | |
endeten, machte es sich Generalforstmeister und SS-Mitglied Friedrich | |
Alpers im Schloss Sacrow bequem. Noch heute hängen seine Jagdtrophäen an | |
den Wänden des teilrenovierten Baus. Laut Günter Voegele vom Verein Ars | |
Sacrow, der sich die Förderung des Kulturerbes in Sacrow auf die Fahnen | |
geschrieben hat, will man bewusst nicht alles „wegsanieren“. Vielmehr | |
thematisiert der Verein mit sehenswerten Ausstellungen und Veranstaltungen | |
die zwiespältige Vergangenheit des Gebäudes, das nach Alpers noch ganz | |
unterschiedliche Bewohner erlebt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg erholten | |
sich hier zunächst Opfer des Faschismus, dann wurde es zum Gästehaus für | |
Schriftsteller der DDR. Mit dem Mauerbau 1961 zogen wiederum Soldaten des | |
Grenzregiments 48 in das geschichtsträchtige Herrenhaus ein. | |
In dieser Zeit änderte sich das Leben der Dorfbewohner, zu denen inzwischen | |
viele Flüchtlingsfamilien zählten, noch einmal dramatisch. Im Sperrbezirk | |
an der deutsch-deutschen Grenze, die durch die Havel verlief, war ihnen | |
nicht allein der Blick auf die Havel und die Heilandskirche im | |
Todesstreifen versperrt. Es durfte auch keiner unkontrolliert das Dorf | |
betreten oder verlassen. | |
Einige Sacrower verlebten hier dennoch eine relativ unbeschwerte Zeit. Für | |
andere wurde das Leben indessen zur Hölle. Unter anderen für zwei | |
Schwestern, deren Bruder Lothar Hennig eines Nachts von Grenzposten | |
erschossen wurde, weil sie ihn offensichtlich mit einem geflüchteten | |
russischen Soldaten verwechselt hatten. Weder wurde der Fall aufgeklärt, | |
noch gab es eine Entschuldigung. Stattdessen wurde behauptet, der junge | |
Mann sei aufgrund eines Fluchtversuchs selbstverschuldet umgekommen. Danach | |
war für die Familie nichts mehr wie vorher. „Niemand sprach mehr mit uns. | |
Niemand fragte, wie es uns geht, oder hat uns getröstet“, klagt Ilona Lange | |
im Dokumentarfilm von Jens Arndt. | |
Heute erinnert eine Stele an den tragischen Tod des Jugendlichen und vieler | |
anderer Todesopfer. Sie ist eine von vielen Stationen auf dem [4][Berliner | |
Mauerweg], der auf 160 Kilometern das ehemalige Westberlin umrundet. Für | |
viele Radfahrer ist er einfach nur eine reizvolle Sightseeing-Strecke, auf | |
der es alles Mögliche zu entdecken gibt – unter anderem die Heilandskirche, | |
bei der sie natürlich einen Fotostopp einlegen, ohne zu ahnen, was sich | |
hier früher abspielte. Und dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass | |
der Sakralbau heute wieder so schön anzusehen ist. Nachdem Grenztruppen | |
kurz nach dem Mauerbau das Innere zerstört hatten, drohte auch die äußere | |
Hülle in den folgenden Jahrzehnten zu zerfallen. | |
Gerade noch rechtzeitig wurde die Kirche in den 1980er Jahren vor dem | |
Verfall gerettet mit etwa einer Million Mark, die der damalige Regierende | |
Bürgermeister von Berlin, [5][Richard von Weizsäcker,] an [6][Manfred | |
Stolpe] als Vertreter des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR | |
übergab. So konnte hier einige Jahre später, nach dem Fall der Mauer, an | |
Heiligabend 1989 nach 28 Jahren wieder ein Gottesdienst stattfinden. Für | |
viele Dorfbewohner ein unvergesslicher Tag, an den sie sich alle Jahre | |
wieder an Weihnachten erinnern. | |
Allerdings mussten noch einige Jahre vergehen, bevor auch das Innenleben | |
der Kirche wieder intakt war. Bis der Altartisch aus Zedernholz, der blaue | |
Himmel mit gelben Sternen an der Decke und das Gemälde von Carl Begas und | |
Adolph Eybel in byzantinischem Stil, das mit Christus als Weltenretter die | |
Apsis ausfüllt, wieder beliebte Kulisse von Hochzeiten, Konzerten und | |
Gottesdiensten werden konnte. Sind damit Sacrows Wunden mehr oder weniger | |
verheilt? Ein Rundgang durch die Dorfstraßen, wo sich auch heute wieder | |
allerlei Prominente wie Max Rabe niedergelassen haben, lässt Zweifel | |
aufkommen: Wohin man blickt, wird auf schrillen Plakaten protestiert: gegen | |
eine geplante Mobilfunkantenne, gegen die Kloake zwischen Havel und | |
Sacrower See, gegen den Durchgangsverkehr von täglich 3.200 Fahrzeugen … | |
„Warum lassen Sie das zu, Axel Vogel?“, muss sich der brandenburgische | |
Umweltminister fragen lassen. Was steckt dahinter? | |
„Na ja, die meisten hier müssen vor die Tür gehen, wenn sie telefonieren | |
wollen, weil sie so schlechten Empfang haben, und da soll Vodafone Abhilfe | |
schaffen“, erklärt ein Anwohner. Aber das wollten andere, die guten Empfang | |
haben und vielleicht ohnehin nur am Wochenende nach Sacrow kommen, nicht | |
akzeptieren. Die würden sich stattdessen darüber ärgern, dass der | |
Denkmalschutz ihnen hohe Auflagen macht, weil ihre Villen mitten im | |
Weltkulturerbe der Unesco stehen, andererseits aber ein Sendemast zwischen | |
die Sichtachsen der Kulturlandschaft geraten könnte. „Aber ich denke, man | |
wird sich irgendwie einigen“, gibt sich der Sacrower zuversichtlich. | |
24 Dec 2020 | |
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