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# taz.de -- Was Menschen alles sein können: Der Pfauenflüsterer
> Jeder Mensch braucht einen Ort, an dem er zu jemand ganz anderem werden
> kann. Klar geworden ist mir das bei einem Besuch der Pfaueninsel.
Bild: Hat etwas Verwunschenes: die Pfaueninsel auf der Havel bei Berlin
Merkwürdig, wie wir uns durch Orte verändern. Wie Menschen an einem
bestimmten Ort jemand anderes sein können. Oder genau die Person werden,
die sie eigentlich sind.
Die Schreie klingen schon von Weitem. Metallen und hoch schwingen sie durch
den Wald. Einzelne, durchdringende Töne, die so ohne Verortung fast
unheimlich, wie etwas zwischen Mensch und Tier anmuten: Pfauenschreie.
Würde man diesen Schrei mit Vokalen vergleichen, würde er mit einem i
beginnen, zu einem a gleiten, auf einem o enden. Eine langgezogene Klage:
„Mi-ha-o!“
Ein Ausflug zur Pfaueninsel nahe Berlin. Nur wenige Meter Wasser trennen
die Insel vom Ufer. Doch hin man gelangt nur mit einer kleinen Fähre über
die Havel. Zwei Euro kostet die Überfahrt. Als sollte verdeutlicht werden,
dass es hier eine Grenze gibt, dass man diese Welt nicht einfach so über
eine Brücke betreten kann. Die Pfaue bleiben durch das Wasser abgeschottet
und können auf der Insel frei umherlaufen. Sie hat etwas Verwunschenes. Es
gibt hier einen Wald und Wiesen und kleine Schlösschen.
Zuerst sind die Pfauen nicht zu sehen. Nur ihre Schreie klingen durch den
Wald. Dann, plötzlich, überquert einer den Weg: groß und stolz, das
Gefieder leuchtend blau, mit einem langen Schweif mit irisierenden Farben,
der sich zu einem Rad aufstellen kann. Ein Fabelwesen wie aus einer anderen
Welt. Der Pfau läuft nah an uns heran, er ist ganz zutraulich. Andere
Pfauen kommen dazu. Wir erreichen eine Voliere, ein rundes Vogelgehege, in
dem auch weiße Pfauen untergebracht sind.
Immer wieder dringen die Schreie über die Insel. Wir gehen langsam um die
Voliere herum und schauen uns die anderen Vögel an.
Auf einer Bank sitzt allein ein Mann, eingesunken mit einer Bierflasche in
der Hand. Er schaut mit leerem Blick in die Voliere hinein. Ihm fehlt die
Aufgeregtheit, die die anderen Menschen hier umgibt, die die Insel
besuchen.
Als wir an dem Mann vorbeigehen, ertönt ein langgezogener Schrei:
„Mi-ha-o!“ Wir drehen uns um. Doch da ist kein Pfau. Da ist nur der Mann
auf der Bank. Wir gehen weiter. Dann erklingt wieder ein Schrei. Und jetzt
sehen wir es: Es ist der Mann, der schreit. Er antwortet den Pfauen. Und er
lockt ihre Rufe hervor. Er sitzt da, ohne jede Körperspannung – und dann
plötzlich richtet er sich auf. Streckt den Oberkörper, legt den Kopf zurück
in den Nacken und drückt aus seiner Brust einen Schrei, metallen und klar.
Einen perfekten Pfauenschrei.
Es ist faszinierend, was für eine Veränderung in dem Mann vor sich geht,
wenn er schreit. Wie der schlaffe Körper stolz wird, wie dann etwas in ihm
lebendig wird. Wir können den Blick kaum von ihm lassen: „Der
Pfauenflüsterer“, sagen wir. Warum spricht er mit den Pfauen? Und was
findet in seinem Kopf statt, wenn er schreit? Antwortet er den Pfauen oder
antworten sie ihm?
Als wir weitergehen, klingen die Pfauenrufe anders, ein Geheimnis schwingt
nun in ihnen mit. Bei jedem Schrei fragen wir uns, ob er zu den Pfauen oder
zum Pfauenflüsterer gehört. Wir versuchen jetzt auch selbst die Schreie
nachzuahmen. Es ist gar nicht so schwer. Durch den Pfauenflüsterer hat sich
eine neue Verbindung zu den Tieren geöffnet.
Am Abend nehmen wir die Fähre von der Pfaueninsel zurück. Am Ufer ist eine
Bushaltestelle, dort wartet allein ein Mann. Eingesunken sitzt er auf dem
Boden. Mit leerem Blick schaut er vor sich her. Zuerst bin ich mir nicht
sicher, dann erkenne ich ihn: Es ist der Pfauenflüsterer. Ich warte darauf,
dass er wieder auf die Schreie antwortet, die bis hier klingen. Doch er
sitzt dort wie eine Marionette mit losen Fäden. Er richtet sich nicht mehr
auf.
Das Spiel des Mannes scheint vorbei. Hätte man es nicht gewusst, man würde
nicht ahnen, wie stolz er sich aufrichten kann, wie sich sein Körper
verändert, wenn er schreit. Jeder Mensch braucht eine Insel. Einen Ort, an
dem er zu jemand ganz anderem werden kann, einem Pfauenflüsterer, einem
prächtigen Pfau. Zu all dem, was wir alles auch sind.
6 Aug 2021
## AUTOREN
Christa Pfafferott
## TAGS
Kolumne Zwischen Menschen
Freiheit
Tiere
Menschen
Berlin
Potsdam
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