| # taz.de -- SPD-Kandidaten Walter-Borjans & Esken: „Wir wollen eine Bewegung … | |
| > Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans über Blind Dates, parteiinterne | |
| > Diskursfähigkeit und gute Gründe für den Verbleib in der GroKo. | |
| Bild: „Wir haben uns tatsächlich erst vor sehr wenigen Wochen näher kenneng… | |
| taz: Herr Walter-Borjans, vor einem Jahr haben Sie der taz gesagt, sie | |
| wollten nun mit 66 Jahren ihr „Wissen an jüngere Politiker weitergeben“. | |
| Jetzt wollen Sie SPD-Chef werden. Warum? | |
| Norbert Walter-Borjans: Ohne die eindringliche Ermutigung so vieler, vor | |
| allem auch der Jüngeren, hätte ich eine Kandidatur nicht in Erwägung | |
| gezogen. Die haben gesagt: Du stehst für eine Politik, die | |
| ursozialdemokratisch ist. Und damit kannst du in dieser Partei endlich für | |
| Zusammenhalt sorgen. Als mich dann Saskia Esken ansprach, waren nach einem | |
| sehr langen Gespräch alle Zutaten da, um zusammen mit einer starken Frau | |
| meine Erfahrung, meine Ideen und meine Energie in die Waagschale zu werfen. | |
| Woher wissen Sie, ob Sie gut zusammenarbeiten können? | |
| Saskia Esken: Wir haben uns tatsächlich erst vor sehr wenigen Wochen näher | |
| kennengelernt. | |
| Das war eine Art Blind Date? | |
| Esken: Quasi. Aber es hat ziemlich gut funktioniert. | |
| Walter-Borjans: Wir scheinen ja nicht die Einzigen zu sein, die sich so | |
| gefunden haben. | |
| Esken: Ich habe natürlich vorher mitbekommen, dass Norbert Walter-Borjans | |
| wie kein Zweiter für das Thema Steuergerechtigkeit streitet. Und als wir | |
| dann zusammengesessen haben, war uns klar, dass wir uns in vielerlei | |
| Hinsicht ergänzen und beide den Mut haben, Haltung zu zeigen. | |
| Das Gefährliche an Blind Dates ist, dass man nach einem halben Jahr Punkte | |
| am Partner feststellt, mit denen man nicht rechnete. | |
| Esken: Manche stellen sie erst nach 20 Jahren fest. | |
| Walter-Borjans: Es wäre ja auch nicht gut, wenn zwei Klons anträten. Ich | |
| habe Saskias Kampf für Freiheitsrechte im Netz intensiv wahrgenommen. Uns | |
| verbindet, den Rücken auch mal gerade zu machen. Außerdem haben wir uns | |
| sehr schnell auf grundlegende Punkte geeinigt. Ich glaube, bei den | |
| wenigsten Blind Dates wird so genau über die gemeinsame Zukunft gesprochen | |
| wie bei uns. | |
| Ihr Motto ist: Standhaft, sozial, demokratisch. | |
| Walter-Borjans: Über ein Drittel der Menschen sagt in Umfragen, es habe | |
| traditionell unter allen Parteien die größte Nähe zur SPD. Aber nicht mal | |
| die Hälfte davon würde uns derzeit wählen. Die klassischen Werte der | |
| Sozialdemokratie werden offenbar nicht mehr mit der SPD verknüpft. Aber: | |
| Diese Zahlen zeigen, welch großes Potenzial in der SPD steckt. | |
| Gesine Schwan sagt, die SPD brauche eine geistige Erneuerung. Der | |
| Neoliberalismus appelliert an die Einzelnen. Die Grünen verbinden | |
| individualistischen Spirit mit Ökologie. Die AfD appelliert an ein | |
| völkisches Wir. Was ist die neue leuchtende Idee der SPD? | |
| Esken: Die leuchtende Idee der Sozialdemokratie ist der Dreiklang von | |
| Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. | |
| Walter-Borjans: Wir brauchen eine große, kollektive Grundleistung, die der | |
| Staat bieten muss. Auf die sind nicht nur die Menschen angewiesen, die sich | |
| nicht selbst helfen können. Es gibt viele, die gut selbst für sich sorgen | |
| können, aber wissen, dass sie das ohne das staatliche Angebot an Bildung | |
| und Infrastruktur, vor allem aber ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt | |
| nicht hätten. Deshalb brauchen wir einen Pakt derer, die Solidarität | |
| brauchen, mit denen, die Solidarität zu geben bereit sind. | |
| Der Sozialstaat ist die Kernidee. | |
| Walter-Borjans: Genau. Der individuell auch die befähigt, die mit einer | |
| ziemlich schlechten Grundvoraussetzung antreten. | |
| Herr Walter-Borjans, Sie haben an dem neuen SPD-Konzept zur Vermögensteuer | |
| mitgewirkt. Olaf Gersemann, Ressortleiter Wirtschaft der Welt, schreibt: | |
| „Nichts verkörpert die Todessehnsucht der deutschen Sozialdemokratie so | |
| sehr wie der unbändige Wunsch, Gutverdiener und Vermögende zu schröpfen.“ | |
| Walter-Borjans: Bei Olaf Gersemann habe ich die schöne Erinnerung an sein | |
| Video, in dem er die Notwendigkeit von Steueroasen begründet. Insofern weiß | |
| ich ja, welche Interessen bestimmte Chronisten transportieren. Mir geht es | |
| nicht um Steuern als Selbstzweck. Wir brauchen einen handlungsfähigen | |
| Staat. Nur die Starken können sich den schwachen Staat leisten. Peer | |
| Steinbrück hat 2013 die Bundestagswahl nicht wegen des Steuerkonzepts | |
| verloren. Das Gleiche gilt für Martin Schulz. Im Gegenteil, im letzten | |
| halben Jahr vor der Wahl ist nur noch ganz leise darüber geredet worden, | |
| weil man sich gesagt hat: Bloß nicht thematisieren, die stellen dich wieder | |
| an den Pranger. | |
| Sigmar Gabriel hat 2014 gesagt, die Vermögensteuer ist tot. | |
| Walter-Borjans: Der Ablauf ist immer gleich: Zwei Jahre vor der Wahl gibt | |
| es einen Parteitag, auf dem klar gesagt wird, dass die Ungleichheit ein | |
| Riesenproblem für den Zusammenhalt und die wirtschaftliche Entwicklung ist. | |
| Das Wahlprogramm klingt dann schon erkennbar gedämpft und wird vor den | |
| Wahlen immer leiser vertreten. Schließlich gibt es Sondierungsgespräche | |
| oder Koalitionsverhandlungen, in denen das Thema Umverteilung als erstes | |
| geopfert wird. Wenn die Wahl nicht gut gelaufen ist, gibt es genug Leute, | |
| die einem einflüstern, dass genau das der Grund war. Zu viele in der | |
| Politik reden lieber über Ausgaben als über Einnahmen. Man kann Geld aber | |
| nur gerecht ausgeben, wenn man dafür sorgt, dass es vorher auch gerecht | |
| eingenommen wird. | |
| Frau Esken, Sie haben in Saarbrücken gesagt, die SPD müsste die Partei | |
| sein, die offen für soziale Bewegungen ist. | |
| Esken: Ich habe sogar gesagt, die SPD muss eine soziale Bewegung sein. | |
| Wenn man im Willy-Brandt-Haus weilt, ist soziale Bewegung nicht die erste | |
| Assoziation, die aufkommt. Wie soll die SPD eine soziale Bewegung werden? | |
| Esken: Wir haben eine Menge zusätzlicher Mitglieder in der Zeit direkt nach | |
| dem Brexit-Referendum und der Wahl von Trump gewonnen. Ein noch viel | |
| größerer Schwung kam später dazu, als wir über den erneuten Gang in die | |
| Groko abgestimmt haben. Weil viele Menschen das Gefühl haben, man muss | |
| etwas machen. Die SPD ist einer der spannendsten Debattenorte des Landes. | |
| Wir wollen eine Bewegung sein, mit der man die Welt zum Besseren wenden | |
| kann. | |
| Frau Esken, sind Sie in einer Bewegung aktiv? | |
| Esken: Ich bin in der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Ich gehe regelmäßig | |
| zu No-Spy-Konferenzen in Stuttgart und lasse mich dort zwei Stunden lang | |
| grillen für die Überwachungsgesetze. | |
| Die SPD hat viel Prügel bekommen für ihr Verhalten beim Uploadfilter. Ist | |
| die Kluft zwischen der SPD und der digitalen Community unüberwindbar? | |
| Esken: Es ist nicht einfach. Die Uploadfilter waren auf unser Betreiben hin | |
| im Koalitionsvertrag ausgeschlossen. Dann hat Deutschland zugestimmt, weil | |
| das schon vorher zwischen Merkel und Macron vereinbart war. Im EU-Parlament | |
| hat die SPD dagegen gestimmt. | |
| Aber im EU-Rat dafür. | |
| Die Regierung hat zugestimmt. Zu sehen, dass die SPD nicht in der Lage ist, | |
| standhaft zu sein, war eine schwere Enttäuschung. | |
| Wäre es besser gewesen, deswegen die Koalition zu verlassen? | |
| Esken: Wenn ich meinem Mann jedes Mal, wenn er keine Lust hat, die | |
| Spülmaschine auszuräumen, die Scheidung androhe, wird das Schwert | |
| irgendwann mal stumpf (lacht). Man muss nicht wegen jeder | |
| Auseinandersetzung mit dem Koalitionsbruch drohen, sondern einfach mal | |
| stehen bleiben. | |
| Boris Pistorius will, dass die SPD wieder mehr Geschlossenheit zeigt. | |
| Einverstanden? | |
| Walter-Borjans: Boris Pistorius hat gesagt, dass eine mehrheitlich | |
| getroffene Entscheidung am Ende eines Diskussionsprozesses auch gelten | |
| muss. Das bedeutet nicht, dass danach nicht weiter nachgedacht werden darf. | |
| Es gibt eine tiefsitzende Angst in der SPD, dass das Illoyale sofort | |
| anfängt, wenn man in der Position ein Stück abweicht. Das eigentliche | |
| Problem ist, dass einige so schlecht zwischen diskursivem Weiterdenken und | |
| illoyaler Selbstdarstellung unterscheiden können. | |
| 18 Sep 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Reeh | |
| Stefan Reinecke | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Interview | |
| Norbert Walter-Borjans | |
| Saskia Esken | |
| SPD | |
| Klara Geywitz | |
| SPD | |
| SPD-Basis | |
| Gesine Schwan | |
| Lesestück Interview | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| SPD-Parteivorsitz: Stichwahl für Esken und Geywitz | |
| Die SPD-Mitglieder haben sich entschieden: Saskia Esken und Norbert | |
| Walter-Borjans treten in einer Stichwahl um den Parteivorsitz gegen Klara | |
| Geywitz und Olaf Scholz an. | |
| SPD-Vorsitz-Kandidatencasting: Redundant in die Selbstberauschung | |
| Die verbliebenen sieben Duos machen Station in Berlin und beschwören neben | |
| der Bronzestatue Willy Brandts wiederholt die Vergangenheit ihrer Partei. | |
| SPD sucht neue Parteivorsitzende: Hurra, sie leben noch | |
| Kein Krawall, kein Geschrei – und kein wirklicher Favorit. Wie sieben Duos | |
| und ein Einzelbewerber um den SPD-Vorsitz kämpfen. | |
| Gesine Schwan und Ralf Stegner: „Wir halten Gegenwind sehr gut aus“ | |
| Gemeinsam kandidieren sie für den SPD-Vorsitz. Gesine Schwan und Ralf | |
| Stegner über das Potenzial von Rot-Rot-Grün und über die Aktualität | |
| solidarischen Handelns. | |
| Karl Lauterbach zum SPD-Vorsitz: „Wir trauen uns das zu“ | |
| Der Arzt und SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach bewirbt sich gemeinsam mit | |
| Nina Scheer um den Parteivorsitz. Können sie zusammen die SPD wieder | |
| aufpäppeln? |