# taz.de -- Russische Grenze in Südossetien: Die stille Eroberung | |
> Russland weitet seine Grenze Stück für Stück in georgisches Staatsgebiet | |
> aus. Eine Beobachtungsmission der EU ist vor Ort, darf aber nicht | |
> handeln. | |
Bild: In Georgien ist die Angst vor dem Einfluss Putins groß | |
Vielleicht erinnert sich noch jemand an die Causa „Maschendrahtzaun“ – | |
einen Streit zwischen den Besitzern zweier benachbarter Grundstücke in der | |
sächsischen Ortschaft Meerane Anfang der nuller Jahre. | |
Doch was im sächsischen Fall als Provinzposse durchgeht, ist für [1][die | |
Südkaukasusrepublik Georgien] zu einer existenziellen Frage geworden. Vor | |
allem für die Menschen, die an der Demarkationslinie zu der abtrünnigen | |
Republik Südossetien leben. Auch hier geht es um Zäune und Abgrenzung – um | |
Macht- und Gebietsansprüche zwischen verfeindeten Nachbarn eben. | |
„Borderisation“ wird dieses Phänomen genannt – eine Umschreibung für die | |
Tatsache, dass sich die Grenze immer weiter in georgisches Staatsgebiet | |
hineinfrisst. | |
Jüngstes [2][Beispiel ist das Dorf Gugutiantkari], das im August quasi über | |
Nacht durch die Installierung von Stacheldraht zweigeteilt wurde. Wieder | |
einmal verloren GeorgierInnen ihr gesamtes Hab und Gut. Sie stehen damit | |
nicht nur vor den Trümmern ihrer Häuser, sondern ihrer gesamten ohnehin | |
schon prekären Existenz – gar nicht zu reden von dem großen menschlichen | |
Leid, das mit dieser Entwicklung einhergeht. Und das alles passiert nicht | |
erst seit gestern. | |
Im August 2008 kam es zwischen Russland und Georgien zu einem fünftägigen | |
Krieg um Südossetien – eine nach Unabhängigkeit strebende Region mit knapp | |
55.000 Einwohnern, die anderthalb mal so groß wie das Saarland ist. | |
Maßgeblich mitverantwortlich für den bewaffneten Konflikt mit | |
schätzungsweise 850 Toten und über 100.000 Geflüchteten zeichnete der | |
[3][damalige georgische Präsident Michail Saakaschwili]. | |
Der Kamikaze-Politiker war fest entschlossen, Südossetien wieder | |
georgischer Kontrolle zu unterstellen. Dabei ging er in kompletter | |
Verkennung der Realitäten davon aus, auf die Unterstützung der USA setzen | |
zu können. Ein Sechs-Punkte-Plan unter Vermittlung der EU beendete den | |
Waffengang. Der Plan sieht unter anderem vor, dass sich die russischen | |
Streitkräfte auf die Linien vor Beginn der Feindseligkeiten zurück ziehen. | |
Doch wie schon im Falle Transnistriens und später der Krim sowie des | |
Donbass schert sich Russland, das die Unabhängigkeit Südossetiens anerkannt | |
und dort Truppen stationiert hat, auch in Georgien keinen Deut um das | |
Völkerrecht und internationale Vereinbarungen. Seit 2009 schaffen russische | |
Soldaten mithilfe ihrer südossetischen Handlanger in gewohnt | |
menschenverachtender Manier Fakten und lassen die Grenze wandern. | |
GeorgerInnen, die die langsam zu einer befestigten Grenze mutierende, | |
unklar verlaufende, Demarkationslinie übertreten – und sei es nur, um eine | |
entlaufende Kuh wieder einzufangen oder Gräber von Angehörigen zu besuchen | |
– werden festgenommen. Wer Glück und zahlungskräftige Verwandte hat, kann | |
ausgelöst werden. Vor einigen Jahren kam ein Georgier, der mutmaßlich | |
gefoltert worden war, in südossetischer Haft zu Tode. Es bedurfte | |
mehrwöchiger Verhandlungen auf diplomatischer Ebene, bis die Leiche | |
herausgegeben wurde. | |
Und was tut der Westen angesichts von Willkürherrschaft und | |
Menschenrechtsverletzungen, die fast vollständig unter dem Radar der | |
internationalen Öffentlichkeit ablaufen? Er schaut zu – im wahrsten Sinne | |
des Wortes. Seit einem Jahrzehnt beobachtet eine Friedensmission der | |
Europäischen Union mit Ferngläsern das Geschehen an der Demarkationslinie. | |
Doch ohne Zugangsmöglichkeit zu Südossetien, ohne Mandat und lediglich | |
beauftragt, etwaige Vorfälle zu dokumentieren, ist sie auf verlorenem | |
Posten. | |
Diese Ohnmacht macht sich Moskau zunutze, um seine Politik in den | |
ehemaligen Sowjetrepubliken durchzuziehen. Deren Prinzipien sind so absolut | |
wie schlicht und durchsichtig: Konflikte, wie um Südossetien, maximal am | |
Köcheln zu halten und innen- und außenpolitische Instabilität zu | |
produzieren. Mit dem erwünschten Nebeneffekt, Beitrittsbestrebungen zu EU | |
und Nato zu torpedieren, wenn nicht sogar zunichte zu machen. So versucht | |
der Kreml seinen Einfluss in der Region zu zementieren. | |
## Der Softpower etwas entgegnen | |
Wie dieses Vorgehen bei den Menschen in Georgien ankommt und es um die | |
russisch-georgischen Beziehungen bestellt ist, war im vergangenen Juni zu | |
besichtigen. Nachdem sich der russische Duma-Abgeordnete Sergej Gawrilow im | |
Rahmen einer Delegationsreise auf dem Sessel des georgischen | |
Parlamentspräsidenten breit gemacht hatte, kam es zu mehrtägigen, teils | |
gewaltsamen, Protesten im Zentrum von Tiflis. | |
Georgien sind die Hände gebunden. Zwar ist die „Borderisation“ – allen | |
anders lautenden Beteuerungen von Unterstützern des Putin-Kurses zum Trotz | |
– zweifellos ein fortlaufender Angriff auf die Souveränität und | |
territoriale Integrität des Landes. Dennoch kann eine Eskalation nicht in | |
Tiflis’ Interesse sein. Vielmehr gilt es, der Softpower Russlands, die sich | |
in Drohgebärden und Gewalt gegenüber seinem Nachbarn erschöpft, etwas zu | |
entgegnen. Studien- und Bildungsangebote sowie kostenlose medizinische | |
Behandlung für die südossetische Bevölkerung sind ein kleiner, jedoch | |
wichtiger Schritt der Regierung in die richtige Richtung. | |
Doch das wird nicht reichen – genauso wenig, wie die teilnehmende | |
Beobachtung der westlichen Staatengemeinschaft. Das Mindeste, was sie tun | |
muss, ist, die Politik Russlands gegen Georgien als Thema in der | |
Öffentlichkeit präsent zu halten und als das zu benennen, was sie ist: ein | |
offen aggressiver Akt unter Verstoß gegen internationale Normen. | |
Zudem braucht es materielle Unterstützung für die Menschen, die Opfer | |
dieser Moskauer Muskelspiele werden. Doch es geht um mehr. Die Stabilität | |
einer ganzen Region könnte auf dem Spiel stehen. Vielen scheint Georgien | |
derzeit noch weit weg zu sein. Das könnte sich schnell ändern. | |
28 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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