# taz.de -- Roman „Die Wunder“ von Elena Medel: Luxus und Elend spanischer … | |
> Elena Medel gibt in ihrem Debütroman „Die Wunder“ spanischen | |
> Feministinnen ein Gesicht – und erzählt von drei ganz unterschiedlichen | |
> Generationen. | |
Bild: Vor ihrem Debütroman hat Elena Medel drei Gedicht- und zwei Essaybände … | |
„Clearly money has something to do with life“, zitiert Elena Medel den | |
britischen Dichter Philip Larkin zu Beginn ihres Romans. Keine | |
bahnbrechende Erkenntnis, aber doch eine essenzielle, besonders für die | |
beiden Protagonistinnen in „Die Wunder“. In Marías und Alicias Leben spielt | |
Geld eine übergeordnete Rolle, nie ist genug davon vorhanden. Und das, | |
obwohl beide bis zur Erschöpfung arbeiten. | |
Die in Medels Debüt Portätierten gehören der spanischen Arbeiterklasse an, | |
sind Großmutter und Enkelin, sich aber niemals begegnet. Marías Geschichte | |
spielt während der Franco-Diktatur; die damals junge Frau zieht, wegen | |
einer Schwangerschaft von ihrer Familie verstoßen, Ende der sechziger Jahre | |
aus dem Süden Spaniens nach Madrid. | |
Dort arbeitet sie als Haushaltshilfe für andere, die uneheliche Tochter | |
bleibt bei den Verwandten zurück. Auch Marías Enkelin verschlägt es aus dem | |
Süden in die Hauptstadt, 30 Jahre später und aus freien Stücken, um den | |
ärmlichen familiären Verhältnissen zu entkommen. | |
Dass dies nicht gelingt, es Alicia von einem prekären Arbeitsverhältnis ins | |
nächste verschlägt, sorgt für Verdruss: „Alicia hat kein Vergnügen an ihr… | |
Leben, doch ihr Leben lenkt sie ab“, heißt es an einer Stelle. Ablenkung | |
erfährt sie unter anderem durch einen Mann, mit dem sie zusammenlebt, | |
obwohl sie ihn nicht liebt, ja nicht einmal besonders schätzt, der ihr aber | |
Sicherheit bietet. | |
## Ein latentes Gefühl der Überlegenheit | |
Ihre Einstellung zum Leben ist fatalistisch, nicht im religiösen, sondern | |
im Sinne einer durch die ökonomischen Gegebenheiten ausgelösten Ohnmacht. | |
Für ihre Lebensumstände schämt sie sich, vor allem, weil sie es auch anders | |
kennt: Bis zum Tod des Vaters lebte die Familie recht angenehm, erfuhr den | |
sozialen Aufstieg durch eine familienbetriebene Restaurantkette. | |
Doch das Geschäftsmodell ging nicht auf, aus Scham nimmt sich der Vater das | |
Leben. Geblieben sind aus dieser Zeit nur Alicias Erinnerungen und ein | |
latentes Gefühl der Überlegenheit anderen gegenüber, das sie auch als | |
Erwachsene nicht abzulegen vermag. | |
Medel hat mit Alicia einen Charakter kreiert, für den man kaum Sympathien | |
aufbringt. Den ihr gewidmeten Passagen zu folgen ist anfänglich | |
beschwerlich. Anders verhält es sich mit den Kapiteln, die Marías Werdegang | |
verfolgen. Obwohl sie sich von ihrer Familie abwendet, die Tochter Carmen | |
irgendwann endgültig verlässt, fasziniert sie. | |
Anders als ihre Enkelin ist María stolz darauf, der Arbeiterklasse | |
anzugehören, sie arbeitet viel, engagiert sich darüber hinaus politisch, | |
bildet sich intellektuell und bleibt trotz Partnerschaft immer unabhängig. | |
## Engagement an der Peripherie | |
Über Marías Geschichte habe sie versucht, [1][einer Generation von | |
Feministinnen ein Gesicht zu verleihen, die bisher nicht viel Beachtung | |
gefunden habe,] sagt Medel gegenüber dem SWR. Frauen, die der spanischen | |
Arbeiterklasse angehörten und sich an der Peripherie für den Feminismus | |
engagierten, etwa in Frauenvereinen oder Bürgerinitiativen, „nicht | |
theoretisch, sondern von der Praxis her“. | |
Die 37-jährige Autorin, die selbst aus dem Süden – Córdoba – nach Madrid | |
zog, ist bereits seit 20 Jahren im spanischen Literaturbetrieb zu Hause. | |
2002 wurde sie für ihren ersten Gedichtband („Mi primer bikini“) mit dem | |
Andalucía-Joven-Preis ausgezeichnet und gründete zwei Jahre später mit „La | |
Bella Varsovia“ einen Lyrikverlag. Die Nähe zur Poesie merkt man der | |
Sprache im Roman an; statt detailreicher Ausformulierung setzt Medel auf | |
Auslassung und fordert so das Interpretationsvermögen ihrer Leser*innen. | |
Die soziale Schicht, der man angehöre, bestimme die Chancen, die man habe, | |
sowie den Ort, an dem man wohne, sagt Medel in einem Interview mit der | |
spanischen Vogue. Dass diese Möglichkeiten für eine Frau, zumal vom Land, | |
zur Zeit der Franco-Diktatur gering gewesen sein müssen, eine Anstellung in | |
der Hauptstadt sowie das Alleinleben dementsprechend schon einen gewissen | |
Luxus bedeuteten, lernt man durch Marías Geschichte. | |
Alicia verkörpert dagegen ein Versprechen, [2][das mit der Demokratisierung | |
Spaniens, vor allem mit der zunehmenden Globalisierung, einhergeht, aber | |
nie vollständig eingelöst wurde:] Wohlstand für alle. „Die Wunder“ liest | |
sich trotz allem weniger wie eine Kritik an herrschenden Strukturen als wie | |
ein Appell an die Eigenverantwortung. | |
19 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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