# taz.de -- Repression in der Türkei: Mit Corona gegen die Opposition | |
> Präsidentenbeleidigung und Fake-News-Vorwürfe: Die türkische Regierung | |
> nutzt die Coronakrise, um gegen Kritiker vorzugehen. | |
Bild: Ihm wird Präsidentenbeleidigung vorgeworfen: Moderator Fatih Portakal | |
Istanbul taz | „Andere Staaten geben ihren Bürgern Geld in der Krise, hier | |
sollen die Bürger dem Staat Geld geben.“ In den sozialen Medien in der | |
Türkei wird über eine umstrittene Geldsammelaktion der Regierung | |
diskutiert, durch die Corona-Geschädigten geholfen werden soll. Jetzt hat | |
die Debatte ein erstes prominentes Opfer gefordert. | |
Fatih Portakal, beliebtester TV-Moderator des Landes, wurde von Recep | |
Tayyip Erdoğan wegen Beleidigung des Präsidenten angezeigt. Portakal hatte | |
in einem Tweet über die Sammelaktion gelästert und angedeutet, bald | |
könnten auch Bankkonten beschlagnahmt werden. | |
Portakal ist das Aushängeschild von Fox-TV. Andernorts ein | |
stockkonservative Murdoch-Sender, ist [1][Fox-TV in der Türkei derzeit der | |
bekannteste Oppositionssender]. Jeden Abend um 19 Uhr geht Portakal auf | |
Sendung, sein News-Programm wird laut Rating-Agenturen von mehr Leuten | |
gesehen als die aller regierungsnahen Fernsehsender zusammen. | |
Während auf anderen Kanälen nur noch Regierungspropaganda stattfindet, | |
werden auf Fox-TV Informationen verbreitet, die die Regierung am liebsten | |
unter den Teppich kehren würde. So wurde schon früh berichtet, dass viele | |
Mediziner die Corona-Statistik des Gesundheitsministeriums anzweifeln und | |
die Zahl der Infizierten in der Türkei höher sein könnte. Viel Raum nimmt | |
seit Tagen nun die Debatte über staatliche und kommunale Hilfsaktionen ein. | |
## Istanbul will härtere Maßnahmen | |
Schon Tage bevor der Gesundheitsminister zugeben musste, dass in Istanbul | |
die Zahl der Erkrankten weit höher ist als im Rest des Landes, hatte | |
Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CHP Alarm | |
geschlagen. Seit klar ist, dass mehr als 60 Prozent der mehr als 30.000 | |
Corona-Infizierten des Landes in Istanbul leben, fordert İmamoğlu härtere | |
Maßnahmen für die Stadt, zuletzt sogar eine komplette Ausgangssperre, was | |
die Regierung in Ankara aber ablehnt. | |
Um Hilfsbedürftige zu unterstützen, setzte İmamoğlu Wasserrechnungen und | |
andere Zahlungen aus, die normalerweise über die Kommune laufen. | |
Gleichzeitig richtete er Spendenkonten ein, über die in einzelnen | |
Stadtteilen für Bedürftige gespendet werden konnte. Ähnlich aktiv war sein | |
Kollege in Ankara, Bürgermeister Mansur Yavaş, ebenfalls CHP. | |
Aus Sicht Erdoğans haben beide aber den Makel, Vertreter der CHP zu sein. | |
Durch Innenminister Süleyman Soylu ließ Erdoğan die Spendenkonten in den | |
von der CHP regierten Kommunen sperren und richtete landesweite, staatliche | |
Spendenkonten bei den drei großen staatlichen Banken in Ankara ein. | |
Demonstrativ spendete Erdoğan selbst mehrere eigene Monatsgehälter; seine | |
Minister und andere Prominente mussten nachziehen. Ansonsten ist bislang | |
nur wenig Geld eingegangen. | |
## Das Geld fließt nicht | |
Seit Tagen kursieren auf oppositionellen Websites wie [2][T24] Meldungen, | |
dass Staatsangestellten und Mitarbeitern von Firmen, die von staatlichen | |
Aufträgen leben, eine „Spende“ vom Gehalt einbehalten wird. Wer das nicht | |
will, muss protestieren und setzt sich so automatisch auf die | |
Kündigungsliste. | |
Diese Geschichten sind es, die in Portakals Sendung auf Fox-TV diskutiert | |
werden. Wenn die Staatsanwaltschaft sich beeilt, kann der Moderator schon | |
bald wegen Beleidigung des Präsidenten verurteilt werden. | |
Portakal wäre nicht der erste, der wegen Beleidigung Erdoğans ins Gefängnis | |
geht: Allein in den letzten beiden Märzwochen wurden laut Innenministerium | |
knapp 500 Ermittlungsverfahren wegen angeblicher „irreführender“, sprich | |
regierungskritischer, Behauptungen in den sozialen Medien eingeleitet, die | |
unter anderem auch zu Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung führen können. | |
Auch an anderer Stelle macht die Regierung klar, dass sie die Virus-Krise | |
als Gelegenheit sieht, politische Gegner abzustrafen. Am Dienstag | |
diskutierte das Parlament ein Amnestiegesetz für einen Teil der fast | |
300.000 Insassen türkischer Gefängnisse, die der Ansteckungsgefahr oft | |
hilflos ausgeliefert sind. | |
Rund ein Drittel der Gefangenen soll amnestiert oder in einen Hausarrest | |
überführt werden. Ausdrücklich [3][ausgenommen von der Amnestie sind | |
Journalisten, Menschenrechtsaktivisten] und andere, die wegen Kritik an der | |
Regierung im Knast sitzen. Der Entwurf soll in den nächsten Tagen als | |
Gesetz verabschiedet werden. | |
8 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Medien-in-der-Tuerkei/!5571392 | |
[2] https://t24.com.tr/ | |
[3] /Amnestie-in-der-Tuerkei/!5675903 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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