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# taz.de -- Coronavirus in der Türkei: Das wahre Ausmaß der Krise
> In der Türkei steigen die Corona-Infektionen rasant. Die Maßnahmen der
> Regierung sind planlos, die CHP-Kommunen beweisen sich im
> Krisenmanagement.
Bild: Mitarbeiter der Stadtverwaltung versprühen Desinfektionsmittel im Große…
Die Türkei ist eines der Länder mit den weltweit am schnellsten steigenden
Corona-Fallzahlen. Am 11. März verkündete die Türkei ihren ersten
offiziellen Corona-Fall. Bis zum 1. April stieg die Zahl der durch rund
100.000 Tests festgestellten Erkrankungen auf 15.679. Bisher sind 277
Todesfälle erfasst. Diese Zahlen wirken niedrig, doch in der Türkei gibt es
mehr Infektionen als jene, die China, Italien oder Spanien in der gleichen
Zeitspanne des Corona-Ausbruchs meldeten. Selbst regierungsnahe Kreise
äußern Furcht vor einer rapiden Verschlimmerung der Lage.
Das liegt nicht zuletzt am eklatanten Missverhältnis zwischen den
getroffenen Maßnahmen, dem Ernst der Corona-Krise und den Machtbefugnissen
der Zentralregierung.
Staatspräsident Erdoğan lässt seit Jahren nicht von dem Mantra ab, aus der
Krise eine Chance zu machen. Auf internationalem Parkett ist man inzwischen
mit den kleineren und größeren Krisen vertraut, die von der AKP gewöhnlich
im Vorlauf zu Parlaments- oder Kommunalwahlen angezettelt und dann
meisterhaft gelöst werden. Die Corona-Pandemie ist allerdings keine dieser
hausgemachten Krisen, deren Dynamiken von der AKP gesteuert werden könnten.
Die Türkei ist nicht nur schlecht vorbereitet. Es scheint, dass die
Regierung bisher noch nicht einmal ihr Ausmaß begriffen hat.
Eine Woche nach dem ersten gemeldeten Fall trat Erdoğan mit einem
Maßnahmenpaket an die Öffentlichkeit, das laut Plan Hilfen von 15
Milliarden Euro für die voraussichtlich am härtesten betroffenen Sektoren
der türkischen Wirtschaft umfassen sollte. Die Banken sollten dazu animiert
werden, Gewerbetreibenden und Investoren vereinfacht Kredite anzubieten und
beim Eintreiben der Forderungen Kulanz walten zu lassen. Weder zu den
Arbeitsbedingungen von Arbeiter*innen und Angestellten noch zum
Arbeitsschutz fanden sich Gedanken in dem Maßnahmenpaket. Ebenso fehlte ein
Plan, wie die Kapazitäten des Gesundheitssystems erhöht werden könnten.
## Von der Wallfahrt in die Quarantäne
Stattdessen verhängte die Regierung in dieser Phase Schutzmaßnahmen ohne
klare Priorisierung. So kam es zur Entscheidung, dass am 15. März 21.000
Menschen, die von der Wallfahrt aus Mekka zurückkehren wollten, zunächst
alle in Quarantäne gesteckt werden sollten, bevor sie zu ihren Familien
zurückkehren durften. Zeitgleich wurden in staatlichen
Studierendenwohnheimen die Bewohner*innen in den Morgenstunden unsanft
geweckt, auf der Stelle evakuiert und nach Hause geschickt, um Platz für
die Pilger*innen zu schaffen.
Die Studierenden mussten hingegen in unüberschaubar großen Gruppen zum
Busbahnhof, um sich dort Plätze für die Fahrt nach Hause zu organisieren –
die Gefahr, dabei das Virus in so ziemlich jede Kleinstadt zu
transportieren, löste bei vielen Menschen Besorgnis aus.
Darüber hinaus kam es zu Spannungen, als darüber entschieden werden musste,
ob in den Moscheen noch Gemeinschaftsgebete stattfinden durften. Es gab
berechtigte Sorge, dass in Moscheen das Virus insbesondere unter der
Risikogruppe der Männer über 65 Jahre verbreitet werden könnte. Um die
Debatte darüber nicht hochkochen zu lassen, beschloss die Regierung, dass
die Moscheen zwar aufbleiben dürfen, aber niemand in Gemeinschaft beten
dürfe – eine seltsame Kompromisslösung.
## DIY-Ausnahmezustand statt staatlicher Maßnahmen
Schließlich wurde eine absolute Ausgangssperre für alle Bürger*innen über
65 Jahren verhängt. Die Sprache rund um die Verfügung und die Art der
Umsetzung ließen den Eindruck entstehen, dass die Menschen, die in der
Risikogruppe sind, selbst Auslöser und Verbreiter der Epidemie seien.
Gleichzeitig ignorierte die Regierung die verbreitete Forderung nach
bezahlter Beurlaubung der Werktätigen und einer allgemeinen Ausgangssperre,
die in der Türkei schon seit Beginn der Krise laut wurden. Für sie ist die
Corona-Krise in erster Linie eine Wirtschaftskrise und nur ein kleiner Teil
der angekündigten Hilfen sollte überhaupt zur Bekämpfung der Ausbreitung
verwendet werden.
Ob eine Maßnahme getroffen wurde oder nicht, schien primär davon
abzuhängen, ob sie das reibungslose Fortlaufen der Wirtschaft
beeinträchtigen würde oder nicht. Die Bevölkerung wurde ermahnt, sich einen
DIY-Ausnahmezustand selbst zu basteln. Anstelle staatlicher Maßnahmen
sollte gegenseitiges Verständnis und Solidarität unter den Bürger*innen
treten, um trotz Krise die Wirtschaftsaktivitäten nicht zu gefährden.
Maßnahmen wie die Isolation von Rentner*innen hingegen wurden flankiert von
Hochsicherheitsmaßnahmen und mit viel Tamtam eingeleitet.
Diese Planlosigkeit der Zentralregierung führte dazu, dass sich viele
Menschen an die Kommunalverwaltungen wandten. Ankara, Istanbul und Izmir
wurden zu Beispielfällen, in denen die oppositionelle CHP sich im
Krisenmanagement beweisen konnte. Die drei Metropolen formulierten
Prioritäten, stoppten sämtliche Investitionen, die nicht zur Bekämpfung der
Epidemie notwendig waren und setzten Hilfsprogramme insbesondere für die
Werktätigen auf.
## Der Präsident spendet sieben Monatsbezüge
Während die Zentralregierung auf ein populistisches “Bleib zuhause“ setzte,
machten die Oberbürgermeister der drei größten türkischen Städte sich
daran, die Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen auch zuhause
bleiben konnten – im Rahmen der begrenzten Befugnisse und finanziellen
Mittel türkischer Kommunalverwaltungen.
Sie konnten zwar die Wasserrechnungen nicht aussetzen, aber dafür sorgen,
dass niemandem das Wasser abgestellt wird, wenn sie nicht bezahlt werden.
Für Menschen unterhalb der Armutsgrenze und aus den Risikogruppen wurden
Sach- und Geldmittel zur Verfügung gestellt. Der Istanbuler
Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu rief am 29. März im Fernsehen die
Einwohner*innen von Istanbul zur Solidarität auf und verlangte von der
Regierung, eine Ausgangssperre für die Stadt zu verhängen.
In seiner Rede an die Nation am 30. März kündigte Erdoğan eine Reihe
weiterer Maßnahmen an. Unter dem Slogan “Wir genügen uns selbst“ startete
er eine Hilfskampagne, der er sieben seiner Monatsbezüge spendete. Am Tag
darauf veröffentlichte sein Innenminister Süleyman Soylu einen Erlass, der
dazu führte, dass noch am selben Tag die Konten eingefroren wurden, mit
denen die Kommunen ihre Hilfskampagnen führten.
Als Grund führte er an, dass die Städte nicht wie vorgeschrieben vorab eine
Erlaubnis der jeweiligen Regierungsgouverneure für ihre Provinzen eingeholt
hatten. Juristisch ist diese Position umstritten: Eigentlich gilt diese
Regelung nur für private Stiftungen und Vereine. Stadtverwaltungen als
Einrichtungen der öffentlichen Hand müssen keine Erlaubnis beantragen.
## Kritik am Krisenmanagement wird unterbunden
Dass die oppositionell geführten Kommunen derzeit durchgehend unter der
Knute von Vertretern der Zentralregierung arbeiten müssen, bestätigten im
Gespräch auch verschiedene Quellen aus der AKP. Dafür gibt es zwei Gründe:
Erstens lässt die AKP keine einzige politische Regung zu, die sich nicht
profitabel auf ihre Zukunft als Regierungspartei auswirkt. Zweitens will
sie anscheinend verhindern, dass die wahren Ausmaße der Corona-Krise
sichtbar werden.
Es bestehen berechtigte Zweifel, ob die offiziellen Zahlen zur Epidemie
transparent sind. Wer seine Kritik am aktuellen Krisenmanagement zum
Ausdruck bringt, muss mit Ermittlungen und Strafverfahren rechnen. Die
türkische Ärztekammer hat wiederholt darauf hingewiesen, dass keine
Sicherheitsmaßnahmen und Schutzausrüstungen für das Personal im
Gesundheitsbereich vorhanden sind und einen Katalog allgemeiner Forderungen
zur Bewältigung der Epidemie formuliert.
Sie ist allerdings weder im Wissenschaftsrat vertreten, der die Regierung
berät, noch in einer der lokalen Kommissionen, die von den
Provinzgouverneuren eingerichtet werden. Anonyme Trollarmeen agieren als
das Gesicht der AKP in den sozialen Medien, indem sie Mediziner*innen und
Pflegekräfte, die im Internet Kritik äußern, rund um die Uhr überwachen und
mit Drohungen und Beleidigungen überziehen, bis sie still sind.
Wie Orbán in Ungarn, Netanjahu in Israel oder Bolsonaro in Brasilien könnte
auch Erdoğan die Corona-Pandemie als Gelegenheit sehen, seinen autoritären
Führungsstil zu konsolidieren. Ob eine solche Strategie erfolgreich ist,
hängt davon ab, wie gut sie die Bevölkerung des Landes vor der Pandemie
schützen kann. In der Türkei scheint es derzeit so, als würde die
Strategie, sich darauf zu konzentrieren, die Folgen der Krise zu vertuschen
statt sie zu verhindern, nichts anderes bewirken, als die Lebensbedingungen
aller zu verschlechtern.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
2 Apr 2020
## AUTOREN
Ayşe Çavdar
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Politik
Kolumne Alles getürkt
Schwerpunkt Coronavirus
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