# taz.de -- Neuanfang in Deutschland: Asyl ja, alle Rechte nein | |
> Unsere Kolumnistin musste die Türkei aus politischen Gründen verlassen. | |
> Doch auch in Deutschland trifft sie bis heute auf Systembarrieren. | |
Bild: Getrübter Blick: Der Sehnsuchtsort Berlin birgt für manche Menschen auc… | |
Mittlerweile wisst ihr, dass ich eine Journalistin bin, die aus politischen | |
Gründen die Türkei verlassen musste. [1][Und dass man meinen Asylantrag | |
letztes Jahr bewilligt hat]. Als ich im Februar meine Papiere immer noch | |
nicht hatte, bin ich nochmal zum BAMF. Sechs Wochen später sollte alles in | |
meinem Briefkasten sein. Aber es kam schlimmer. Das Finanzamt hatte mein | |
Konto gesperrt (Vorwurf Steuerhinterziehung). | |
Und während ich versuchte Geld zusammenzukratzen, bereitete sich | |
Deutschland auf die Pandemie vor. Ich als Angehörige der Risikogruppe | |
musste aber trotzdem aus dem Haus. Und gerade als ich dachte, ich hätte | |
einen Augenblick zum Durchatmen, flatterte der nächste Brief ins Haus. | |
Wegen unbezahlter Schulden bei meinem alten Gasanbieter war ein Verfahren | |
gegen mich eingeleitet worden und ich hielt den Brief mit dem Urteil in der | |
Hand. Dabei hatte ich die Schulden bei der Gasfirma persönlich bezahlt! | |
Seit drei Jahren lebe ich in Deutschland und habe alles mögliche | |
durchgemacht. Ich wurde als Steuerhinterzieherin beschuldigt, angeklagt und | |
verurteilt, lebe in einer halbleeren Wohnung, weil ich mir keine Möbel | |
leisten kann, geschweige denn einen Deutschkurs. | |
## Rückschläge im Exil | |
Sprachbarrieren. Systembarrieren. Im Monat erhalte ich weniger als 500 Euro | |
und habe ein vielfaches davon an Schulden. Weil ich beim Jobcenter nicht im | |
System auftauche, konnte ich meine letzten zwei Mieten nicht bezahlen, habe | |
kein Geld bekommen und meine Papiere sind immer noch nicht da. | |
Als ich letztens bei Rossmann meine EC-Karte herauszog, um “kontaktlos“ zu | |
zahlen, bekam ich ein ruppiges “Ausweis bitte!“ als Antwort. Um mir diesen | |
ganzen Ärger zu ersparen, brauche ich endlich meine neuen Papiere. | |
Ich bemerke, dass die Kolleg*innen, die zur gleichen Zeit nach Deutschland | |
gekommen sind, es sich hier inzwischen gemütlich gemacht haben, während ich | |
kaum ein Schritt weitergekommen bin. Ganz im Gegenteil fühle ich mich | |
abgehängt und muss sagen, dass ich die Lust an meinem Beruf verliere. | |
## In Ruhe leben | |
Seit der Bewilligung meines Asylantrags sind fünf Monate vergangen, doch | |
bei mir ist alles unklar. “Unidentifiziert“, so wie es der Beamte [2][vom | |
BAMF] in das Feld für den Geschlechtseintrag geschrieben hat. Asyl ja, aber | |
die behördlichen Hürden hindern mich daran, von den Rechten, die mir | |
zustehen, Gebrauch zu machen. Warum bin ich nochmal hergekommen? | |
Was hatte ich für Träume! Ich wollte [3][als trans Journalistin] in Berlin | |
in Ruhe leben. Ich wollte mein Buch schreiben und ich wollte es auf zwei | |
Sprachen veröffentlichen. Ich wollte aus Deutschland positive Nachrichten | |
an die ganze Welt schicken! | |
Daraus ist leider nichts geworden. Dass mein Ich mit all meinen Identitäten | |
und mit meinem französischen Namen der Grund dafür sein könnte, darüber | |
will ich gar nicht nachdenken. | |
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein | |
6 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Kolumne-Lost-in-Translation/!5653303 | |
[2] /Angst-und-Unsicherheit-trotz-Kirchenasyl/!5678090&s=bamf/ | |
[3] /Selcuk-und-ich/!5678123/ | |
## AUTOREN | |
Michelle Demishevich | |
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